Читать книгу Eisfuchs - Tanya Tagaq - Страница 9
ОглавлениеEIN TAG IM LEBEN
Neun Uhr morgens, bin viel zu spät
Die fünfte Klasse ist hart
Steige hektisch in die Hosen
Vergesse das Zähneputzen
Hab Angst vor der großen Pause
Die Jungs jagen uns und drücken uns zu Boden
Begrapschen unsere Muschis und nicht vorhandenen Brüste
Ich will gemocht werden
Wahrscheinlich muss ich das mögen
Zurück ins Klassenzimmer
Der Lehrer bohrt seine Finger in meinen Slip
Unter dem Tisch
Er sieht sich um und tut so, als wäre nichts
Ich tue, als wäre nichts
Er geht zum nächsten Mädchen, plötzlich bin ich eifersüchtig
Die Luft wird dünner und schmeckt nach Verwesung
Die Schule ist aus
Ich gehe zur Spielhalle
Obacht vor dem alten Walross
Der Alte fasst gern kleinen Mädchen an die Muschi
Wir versuchen uns fernzuhalten
Möchte wissen, warum ihn niemand rauswirft
Zu Hause läuft es jetzt besser
Herzbube mit zwei Damen und keine dicke Luft
Archie-Comics und Lego
Gutenacht
DIE GERÜCHE, die von der Frühlingsschmelze freigesetzt werden, entfachen in uns eine fieberhafte Gier nach Bewegung. Die Luft ist so sauber, dass man den Unterschied zwischen glattem und bröseligem Fels riechen kann. Man riecht das über hellen Schiefer fließende Wasser.
Flechten haben einen süßen Geruch. Die grünen Flechten riechen anders als die schwarzen. Im Frühjahr riecht man, was im vergangenen Herbst gestorben, was in diesem Jahr gewachsen ist; die älteren Flechten zeigen den jungen, wie das Wachsen geht.
Der Frost bringt alles zum Stillstand, Leben und Zeit. Das Tauwetter bringt es wieder zum Fließen. Man riecht die Schritte vom letzten Herbst und die einsetzende Verwesung von allem, was in den Klauen des Winters umgekommen ist. Durch die Erderwärmung kommen die tieferliegenden Gerüche an die Oberfläche und entlocken dem Permafrost seine Geschichten. Wer weiß, welche Erinnerungen tief im Eis begraben liegen? Welche Flüche? Das Flüstern der Erde zurück in die Atmosphäre zu entlassen, kann nur Unheil bringen.
Die ersten grünen Sprösslinge schieben sich zaghaft durch die Eisdecke. Die Rufe der Zugvögel sind wie ein Wecker, der uns aus der Winterstarre reißt. Das Leben ist wieder da! Widerwillig zieht sich das Eis zurück und droht: In ein paar Wochen komme ich wieder und räche mich. Der Winter gewinnt immer. Die Sonne verspottet ihn. Nichts kann die Kakofonie aus Völlerei und Fortpflanzung stoppen, die jetzt loslegt.
Das Meereis ist immer noch dick, aber die Tümpel sind schon vollständig aufgetaut. Die Mückenlarven zucken in Form einer Acht durchs Wasser, hypnotisierend und schön. Ganz anders als in einigen Tagen, wenn sie sich in einen blutrünstigen Wirbelsturm verwandelt haben werden. Hätte ich je Gelegenheit, einen Feind zu foltern, dann würde ich ihn in der Mückensaison nackt in die Tundra schicken, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
Wir Kinder dürfen im Frühling frei durch den Ort streifen. Wir sind das ständige Zusammensein mit den Eltern genauso leid wie sie, die ein halbes Jahr lang unser Herumtoben im Haus aushalten mussten. Die nie untergehende Sonne wärmt uns und nährt unsere Fantasie. Auf der Suche nach Abenteuern ziehen wir durch die staubigen Straßen. Große Kinderbanden und ebenso große Rudel frei laufender Hunde streunen durch die Stadt. Ich frage mich, vor welcher Gruppe man sich mehr in Acht nehmen muss. Alle meine Freundinnen dürfen so lange draußen bleiben, wie sie wollen, alle, nur ich nicht! Um elf Uhr müssen wir mit unserem Abenteuer fertig sein.
Wir verlassen den Ort und finden einen kleinen See. Er ist ungefähr fünfzig Meter lang und halb so breit. Blaue Styroporteile liegen herum, die in der letzten Bausaison hierher geweht worden sind. Wir wollen Helden sein und benutzen die instabilen Styroporplatten als Boote. Bedenken – die kräftigen Böen, die Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt und die Tiefe des Sees – schlagen wir in den Wind, der sie fortweht wie Styropor. Über so etwas denken Elfjährige nicht nach.
Keiner von uns kann schwimmen. Abwechselnd paddeln wir hinaus, mit einem Stock als Ruder, unsere kleinen Körper halten auf dem wackligen blauen Gefährt mit Mühe das Gleichgewicht. Der Wind wird stärker. Einer von uns wird unweigerlich zu weit hinausgetrieben, und das selbst gemachte Paddel ist völlig unzureichend, um ans Ufer zurück zukommen. Er ist der Kleinste in der Gruppe. Immer ist es der Kleinste. Still, unterwürfig, ein ewiges Lächeln auf den Lippen. Die Wölfe lassen ihn in Ruhe, weil er so lieb ist. Er ist der hübscheste von den Jungs, und die Mädchen wollen ihn entweder bemuttern oder sind insgeheim in ihn verknallt. Einmal habe ich ihn geküsst; sein Mund war klein und weich, seine Zunge träge.
Der Wind bläst ihn weiter hinaus. Fällt er ins Wasser, ertrinkt er. Das wissen wir alle. Niemand sagt ein Wort. Wir überlassen das Heulen dem Wind. Das kleine Gesicht des Jungen wird immer besorgter. Jetzt treibt er in der Seemitte. Seine dünne Windjacke flattert hoch, offenbart magere Rippen und ein leichtes Schaudern. Ich sehe seine Schwäche, spüre seine Verletzlichkeit. Nichts ist zu hören als der Wind und der flatternde Stoff unserer Kleidung. Der Junge wird vollkommen ruhig, noch ruhiger als sonst. Er sieht aus wie ein gelassener alter Mann; er sieht aus, als sei alles in Ordnung. Eine Windbö, das Styropor kippelt, erst auf die eine Seite, dann die andere. Aber sein Körper weiß, was zu tun ist. Der Kleine holt tief Luft, und mit dem Atem wird sein Floß wieder stabiler. Jetzt ist er fast am gegenüberliegenden Ufer. Ich sehe, wie seine Hände zittern, als er den Stock ins Wasser taucht. Er ist in Sicherheit. Er hat das Ufer erreicht. Sein Blick wirkt erwachsener. Wir sind gerade Zeugen geworden, wie er zum Mann geworden ist. Alle jubeln! Es ist nach elf; ich rase heim.
Das war unser Styroporspiel. In der Woche danach benutzten sieben Kinder auf einem größeren See nahe beim Flugplatz einen in der Mitte durchgeschnittenen Wassertank als Boot und ertranken. Wir haben unser Styroporspiel nie wieder gespielt.
Atme kleine Ängste ein daraus werden Zweifel werden Worte wird Meinung wird Wut wird Hass wird Gewalt.
Atme große Ängste und große Worte aus sie fallen auf dich zurück wie leicht wird man unter den eigenen Spiegeln begraben.
Atme kleine Ängste ein sie flüstern und kriechen in deinen Kopf achte sie und danke ihnen dass sie dich schützen wollen.
Atme Anerkennung aus für die Schönheit deiner Instinkte und den Mut kleine Ängste zu lieben.
Atme bleierne Liebe ein wie einen Duft und ernte den Lohn iss kaue schlucke verschlinge die viele Güte und Liebe die man dir schenkt.
Atme Ruhe aus in Anerkennung der Schönheit des Mutes den es braucht die Liebe nicht zu fürchten.
EINE STAUBIGE SOMMERNACHT in der Hocharktis. Hell steht die Sonne am Himmel. Die Sonne bringt Leben und Lust auf Streiche, Heiterkeit und Träume. Es ist zwei Uhr morgens und ich kümmere mich nicht mehr darum, wann ich zu Hause sein muss. Das werde ich bitter büßen müssen, wenn ich heimkomme und die donnernden Schritte meines Vaters das Haus mit einem Zorn erschüttern, wie nur er ihn aufbringt.
Es lohnt sich, ungehorsam zu sein und zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern prickelnde Freiheit und Neugier zu zelebrieren. Mit zittrigen Fingerspitzen und schwankenden X-Beinen beschwören und verschwören wir uns; wir verscheuchen die Zweifel und überlassen uns der Lebenslust. Der Winter war lang und bedrückend. Wir wissen alle, dass wir bald Teenager sein werden – die Zeit ist kostbar. Alle Kinder an der Schwelle zur Pubertät verstehen instinktiv, dass diese magische Zeit bald vorbei sein wird. Sie begrüßen die Zukunft und sehnen sich nach dem Erwachsensein, leben aber noch in der kindlichen Fantasiewelt. Im Jungsein schwelgen, wünschen, es würde nie enden. Nie weiter als bis zur eigenen Nasenspitze blicken, während der mächtige Blitzschlag wachsender Zellen und vermeintlicher Unsterblichkeit durch unsere Körper fährt. Wir zeigen es der Zeit, wir pflücken uns gegenseitig das Lächeln von den Gesichtern. Kitzeln Kichern aus den Rippen, werfen mit Beleidigungen um uns, als seien es Komplimente.
In unserem kleinen Ort hört man mittags um zwölf und abends um zehn eine Sirene. Sämtliche Schlittenhunde fallen in das Sirenengeheul mit ein; wahrscheinlich stellen sie sich vor, es sei ein großer, lauter Hundegott, der mit seinem Jaulen über das Land herrscht. Das erinnert mich an Religion – der kurzsichtige und verzweifelte Versuch, in einem Universum, das wir unmöglich verstehen können, Vernunft und Ordnung herzustellen. Dabei ist die Wahrheit ganz einfach: Wir haben alles der Sonne und ihrer Energie zu verdanken. Wir sind wunderbarer Ausdruck der Macht des Universums. Wir sind die Fingerspitzen der Kraft, die die Sterne antreibt, also tut gefälligst, wozu ihr da seid, und FÜHLT.
Unser schwarzhaariges Menschenrudel treibt sich an der Hintertreppe der Schule herum. Zähneknirschend, gaumenmalmend, hungrig nach Betätigung, Zungen, die Streit suchen und Wunschwelten erschaffen, in denen wir interessant und wichtig sind, nicht bloß Kinder auf der Schultreppe. Nicht bloß Teil dieses langweiligen Kaffs mit seinen zwölfhundert Seelen (wenn man ausschließlich die Menschen zählt, aber wer sagt eigentlich, dass das Universum nur in den Menschen lebendig ist?). Die Hintertreppe ist unauffälliger als die am Eingang, wo unter der Sommersonne nichts vor neugierigen Blicken verborgen bleibt. Neben der Treppe steht ein großer Wassertank; das ist gut. Dahinter können wir uns verstecken, wenn wir den Pick-up der Gemeindepolizei hören. Uns vor dem Gemeindepolizisten zu verstecken ist eins unserer Lieblingsspiele. Seine Aufgabe ist es, in dem Städtchen herumzufahren, die Kinder nach Hause zu schicken und streunende Hunde zu erschießen. Er will, dass wir sicher in unseren Betten liegen. Aber sind Betten wirklich so sicher?
Helligkeit. Gelächter. Wir sind eine Gang aus fünf schlaksigen Mädchen und einem kleinen Jungen im schrecklichen Strudel peinlichen Verknalltseins und verstohlener Blicke. Unbeholfene Anmachversuche, die nur ein Ziel haben: sagen zu können, jemand steht auf mich. Die Zeit, in der wir die Teenager beim Knutschen neben der Jukebox sehnsüchtig beobachten und hoffen, dass wir eines Tages die Freiheit besitzen werden, Ja zu sagen. Damals wusste ich nicht einmal, wie man Nein sagt.
Bisher habe ich mich ganz auf meine Schnelligkeit und Beweglichkeit verlassen. Leider sind die Jungs in letzter Zeit schneller, stärker und größer geworden, und das macht mich fertig, weil ich bisher immer die Beste war. Mein Ich ist ins Wanken geraten. Mit einem Mal bin ich machtlos, habe meinen Fahnenmast im sozialen Gefüge verloren. Ich war die Schnellste. Eine bittere Pille für ein wildes Mädchen wie mich. Ich will die Jungs wieder besiegen können. Früher habe ich ihnen in die Eier getreten. Der einzige Junge, der an diesem Abend mit uns zusammen abhängt, ist ein bisschen jünger als wir; klein für sein Alter, aber total von sich selbst überzeugt. Er hat dunkelbraune Haut und tiefschwarze Augen. Sein Haar ist so schwarz, dass es blau in der Sonne schimmert, was ich hin reißend finde. Er ist echt süß, auch wenn er noch keine tiefe Stimme und keine feuchten Träume hat. Die Mädchen wollen ihn alle knuddeln wie eine Puppe. Aber er ist fies, in der Art, wie nur unsichere Leute fies sein können. Er nervt mich in vielerlei Hinsicht, aber nichts ist nerviger als seine blöden Bemerkungen, ich sei in meine Freundin verknallt. Sie ahnt nichts davon, deswegen machen mich seine pubertären Sprüche noch aggressiver. Ich habe Mädchen immer schon gern gemocht, aber unser unerträgliches Kaff findet so etwas abartig. Dieser kleine Scheißer macht die Sache nicht einfacher. Wir sammeln alte Zigarettenkippen vom Boden auf, paffen ein bisschen daran herum und verbrennen uns Mund und Finger an der Unwürdigkeit des Ganzen. Rund um den Hudson’s-Bay-Laden und den Co-op liegen immer genug Kippen herum, aber heute Abend haben wir alles aufgeraucht. Die größeren Kids rauchen meistens hier auf der Hintertreppe, da kann man gute, lange Kippen finden, die sie schnell wegschmeißen müssen, wenn die Lehrer sich anschleichen und versuchen, sie auf frischer Tat zu ertappen.
Der kleine Scheißer will unbedingt Streit. In einem fort quasselt er, Jungs seien so viel besser als Mädchen. Jungs seien stärker, Jungs seien schneller, und schlauer natürlich auch. Schwule sind eklig und er hasst sie. Mir kommt er vor wie eine lästige Mücke. Ich habe eine Idee. Ich springe vom Geländer und packe ihn von hinten. Er ist ein Fliegengewicht. Problemlos bringe ich ihn zu Fall, drücke ihn zu Boden und fordere die anderen auf, mir zu helfen. Wir lachen wie die Wahnsinnigen. Ich ziehe ihm das Hemd aus. Sein kleiner, brauner Bauch ist flach. Muskulöses Mini-Sixpack, magere Ärmchen. Die Hose ziehen wir ihm auch herunter. Seine Knöchel sind so schmal. Er ist so zierlich. Seine dunkle Haut ist mit großen, schwarzen Muttermalen übersät. Er riecht nach Rauch und Panik. Er hat noch keine Haare am Körper. Zwei Mädchen halten ihn an den Beinen fest, eine an den Armen, und ich ziehe ihm die Klamotten aus. Jetzt sind wir einmal fies.
Er kreischt, wir sollen aufhören, aber wir kitzeln ihn durch, und er lacht sich schlapp. Damit es nicht zu peinlich wird, darf er Unterhose und Socken anbehalten, Hemd und Hose klauen wir. Mit unserer Beute rennen wir so schnell es geht auf die Main Street zu, er rennt hinter uns her und brüllt, wir sollen ihm seine Sachen wiedergeben. Als wir auf die Main biegen, sehen wir ein paar andere Kids. Er wird sicher nicht riskieren, halb nackt gesehen zu werden, doch er nimmt die Ecke furchtlos, grinst die anderen nur breit an und sprintet weiter. Abgehackter Atem, stechende Lunge, brennende Seiten: Wir überlassen uns der Welt. Mit fliegenden Sohlen und rasendem Herzen biegen wir um die nächste Ecke und sehen eine Gruppe Erwachsener. Wir quietschen voller Schadenfreude und rennen weiter – er wird uns nicht mehr verfolgen, das wissen wir. Dass Erwachsene ihn so sehen, wird er nicht riskieren.
Ich denke daran, wie oft ich mir schon anhören musste, dass ich als Mädchen weniger wert bin. Ich denke daran, wie oft mich Männer angegrapscht haben, obwohl ich das nicht wollte. Ich denke daran, was für ein herrliches Gefühl es ist, die Hose von einem der aufgeblasenen Gockel durch die Luft zu schwenken, während er sich hinter einer Ecke versteckt. Wir rennen einmal um die Schule. An der Rückseite wartet er auf uns und schlägt weinend nach den Mücken. Es ist nicht das letzte Mal, dass er in Schwierigkeiten gerät, weil er ein großes Mundwerk und nichts dahinter hat. Am Ende stirbt er so.