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Tariq Ali Die Geburtsstunde der extremen Mitte

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Die Demokratie ist in ernsten Schwierigkeiten, besonders in ihrer Hochburg Europa. In den Vereinigten Staaten haben die StaatsbürgerInnen seit mehr als einem Jahrhundert akzeptiert, dass das System kaputt ist. Ein beträchtlicher Anteil der Wählerschaft hat sich daran gewöhnt, nicht zur Wahl zu gehen. Damit drücken die Menschen Protest und die Erkenntnis aus, dass das System ziemlich korrupt ist.1 Sie müssen das gute alte Europa jetzt belächeln, wenn es denselben Weg nach unten schlittert, allerdings mit einer Ausnahme: Während die US-Politik versteinert ist, werden in einer Reihe europäischer Länder die bestehenden Strukturen infrage gestellt.

Was Amerikas zwei Geschwister britischer Abstammung betrifft, so hat Kanada die USA als neuen Elternteil adoptiert und passt sich entsprechend an; die australische Politik befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls, seit der verstorbene Premierminister Gough Whitlam 1975 durch einen von London gelenkten Geheimdienstcoup abgesetzt wurde. Das Land hat sich nun mit beeindruckender Regelmäßigkeit auf die Batteriehaltung von Provinzpolitikern einer Provinz-Kaste spezialisiert. An all diesen Orten haben die Bürger etwas Besseres verdient.

Als 1989 die Berliner Mauer fiel, brach nicht nur die Sowjetunion oder die »kommunistische Idee« oder die Effektivität der »sozialistischen Lösungen« zusammen. Auch die westeuropäische Sozialdemokratie ging zu Boden. Angesichts des triumphalen kapitalistischen Sturms, der über die Welt fegte, besaß sie weder Vision noch Entschlossenheit, Elemente ihrer eigenen ehemaligen Sozialprogramme zu verteidigen. Stattdessen entschloss sie sich zum Selbstmord. Das war das Gründungsmoment der extremen Mitte.

Im Jahr 2000 regierten sozialdemokratische oder von ihnen beherrschte Koalitionen den größten Teil Westeuropas, Spanien ausgenommen. Die Erfahrung lehrte, dass keine dieser Parteien eine wirksame Politik liefern konnte, die die Lebensbedingungen der Mehrheit der Wähler, deren Stimmen sie an die Macht gebracht hatten, verbessert hätte. Der von seinem Sieg berauschte Kapitalismus, der von keiner Seite infrage gestellt wurde, hatte es nicht mehr nötig, seine linke Flanke zu schützen, indem er irgendwelche Reformen zugelassen hätte. Nicht einmal eine geringfügige Umverteilung des Reichtums zur Verringerung der Ungleichheiten stand noch auf der Tagesordnung.

Unter diesen Umständen wurde die Sozialdemokratie überflüssig. Alles, was sie ihren traditionellen Unterstützern noch zu bieten hatte, war Angst oder eine leere ideologische Formel, deren Hauptfunktion es war, die Armut an jeglichen fortschrittlichen Ideen zu bemänteln: »dritter Weg«, »konfliktfreie Politik jenseits von links und rechts«. Das Nettoergebnis war entweder ein Wechsel der Wähler nach Rechtsaußen (wofür in Europa Österreich zum frühen Beispiel wurde) oder eine zunehmende Entfremdung von der Politik und dem gesamten demokratischen Prozess. In anderen Worten: eine zunehmende Amerikanisierung der europäischen Politik, die den Wählern die Wahl zwischen Pest und Cholera ließ – bei abnehmender Wahlbeteiligung. Da die Popkultur so stark atlantisiert worden war, konnte die Politik nicht zurückstehen. Nirgendwo in Westeuropa kapitulierte die sozialdemokratische Partei so bereitwillig und vollständig vor den Bedürfnissen des entfesselten Kapitalismus und der imperialen Kriege wie die Labour Party von Blair und Brown im Vereinigten Königreich.

Die Nachfolger von Reagan und Thatcher waren und sind konfektionierte Politiker: Blair, Cameron, Obama, Conte, Macron und so weiter haben einen Autoritarismus gemeinsam, der das Kapital über die Bedürfnisse der Bürger stellt und die Macht der durch gewählte Parlamente abgesegneten Unternehmen stützt. Die neuen Politiker Europas und Amerikas bedeuten einen Bruch mit so gut wie jeder Form traditioneller Politik. Die neue Technologie hat es Cliquen oder Komitees viel leichter gemacht zu regieren.

Sie sind in exklusive Bunker eingemauert, zu denen nur Bankiers und Geschäftsleute, unterwürfige Medienleute, ihre eigenen Ratgeber und Speichellecker verschiedenster Art Zugang haben. Sie leben in einer halb wirklichen, halb künstlichen Welt von Geld, Statistiken und Gesprächsgruppen. Ihr Kontakt mit realen Personen ist außerhalb der Wahlperioden verschwindend gering. Ihr öffentliches Auftreten besteht größtenteils in der lügnerischen Propaganda der Fernsehkanäle oder den Fototerminen, die manchmal völlig danebengehen. Sie weigern sich, sich zu den Menschen, deren Welten sie zerstört haben, herabzulassen und mit ihnen zu reden.

Wenn sie an der Macht sind, neigen sie zum Verfolgungswahn, behandeln ernsthafte Kritik als Illoyalität und werden zunehmend abhängig von Imageberatern, die sich ihrerseits wie Berühmtheiten verhalten und sich auch so behandeln lassen. Da die politischen Unterschiede kaum wahrnehmbar sind, wird die Macht zum Selbstzweck und zu einem Mittel, Geld und, wenn die Politiker ihr Amt niedergelegt haben, gut bezahlte Beratungsfirmen zu erwerben. Heutzutage hat die Symbiose von Macht und Geld fast überall extreme Ausmaße erreicht. Die eingeschüchterten und fügsamen Politiker, die das System betreiben und sich reproduzieren, nenne ich die »extreme Mitte« der Mainstream-Politik in Europa und Nordamerika. Großbritannien war das erste Land in Europa, das den neuen Konsens einführte, der später mehr oder minder anderswo übernommen wurde, mit Schweden an der Spitze.

Thatcher und ihre Nachfolger handelten mit der Wahlunterstützung von Teilen der traditionellen ArbeiterInnenklasse, besonders, aber nicht nur, in Mittelengland, und teilweise mit der Unterstützung durch die Einnahmen aus dem Öl, das an schottischen Küsten gefördert wurde. Der Konservatismus der Arbeiterklasse fehlte in England nie, nahm aber unter Thatcher rasch zu. Eine gespaltene Arbeiterklasse und ein undemokratisches Wahlsystem bildeten die Basis für Thatchers Demontage der Reformen von 1945. Sie stellte die Bedeutung von »Gesellschaft« infrage und tat ihr Bestes, um zu Individualismus und Konsumismus zu ermuntern.

»Jeder für sich«, lautete ihr Motto. Diese kaum neue Vorstellung und die Offensive, mit der sie verbunden war, führte zu einem tiefen Bewusstseinswandel, einem geistigen und moralischen Umbruch, der zunächst durch die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus angeheizt wurde und später durch die Institutionalisierung der Verschuldung der privaten Haushalte durch leicht zugängliche Hypotheken und Kredite, die dazu bestimmt waren, den neuen Konsumismus zu unterstützen.

New Labour kam dadurch an die Macht, dass sie ihren traditionellen Unterstützern wenig versprach, wohl aber der City of London versicherte, dass sie nicht nur nichts ändern, sondern über Thatcher hinausgehen und die Aufgabe zu Ende führen werde, die sie sich gestellt habe, nämlich das Land vorwärtszubringen. Schon vor dieser rührenden Zusage hatte der vorausschauende Ex-Finanzminister der Tory-Partei Nigel Lawson in der Financial Times angemerkt, dass die Tragödie der Konfrontation mit den Konservativen in der Tatsache begründet sei, dass Thatchers wahrer Erbe der Oppositionsführer sei – eine Ansicht, die bald aufs Deutlichste bestätigt wurde.

Blairs »New Labour« war in vielerlei Hinsicht der bedeutendste ideologische Erfolg der Konterrevolution der 1980er-Jahres. Die politischen Unterschiede wurden darauf reduziert, welche Partei über die bessere Werbeagentur und bessere Imageberater verfügte und ob New Labour oder die Tory-Partei besser auf die Marktforschung reagierte. Es ist kaum verwunderlich, dass dieser Prozess mittelmäßige Politiker ohne Vision hervorbrachte und die Politik an sich auf Kitsch in Reinkultur reduzierte. Die Unaufrichtigkeit erreichte einen neuen Tiefpunkt.2

Die neue Veränderung im System trennte Europa von Großbritannien – doch nicht für lange. Die Schreckensvision der von Washington unterstützten Vorherrschaft des Kapitalismus, wozu auch der Einsatz von Militäreinheiten im Ausland und die Umverteilung des Einkommens von den ärmsten auf die wohlhabendsten Gesellschaftsschichten gehörte, würde langsam und auf unterschiedlichen Wegen Kontinentaleuropa erobern.

Während Reagans erster Amtszeit verloren Familien mit niedrigem Einkommen 23 Milliarden US-Dollar ihrer Einnahmen und ihrer staatlichen Leistungen, während Familien mit hohem Einkommen mehr als 35 Milliarden Dollar dazu erhielten. Das erklärt, warum Reagan in den wohlhabenden Vorstädten und dem Sun Belt stark unterstützt wurde. In Großbritannien, das unterwürfiger denn je war, wurde die Habgier des Einzelnen schamlos durch die Senkung der Einkommensteuer ermutigt (unterstützt durch die Nordsee-Öl-Goldgrube), dazu kam der Verkauf von Sozialwohnungen und anderen staatseigenen Vermögensgütern. Die Deregulierung des Finanzsektors regte die Bildung einer Klasse von Neuunternehmern an, die wenig nach Sicherheitsbestimmungen für ihre Beschäftigten und deren Gewerkschaftsrechten fragten.

Eine halluzinatorische Euphorie, unterstützt und begünstigt durch ein unterwürfiges Nachrichtenwesen, trug zur Zementierung des neuen Konsenses bei. Ein intensiver ideologischer Angriff auf die alte Nachkriegsvereinbarung wurde unternommen. Über Nacht wurde die keynesianische Wirtschaft auf den Müll geworfen, als dieser neue soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Konsens sich breitmachte. Er war hässlich. Er war brutal. Er schien zu funktionieren. Er musste die Vormachtstellung bekommen und das tat er.

Jene in den Fernsehsendern, die Widerstand leisteten und nicht »einer von uns« sein wollten, wurde kurzerhand beseitigt.

Mithilfe von Rupert Murdoch von News International und vom Generaldirektor der BBC John Birt begann eine offiziell geförderte Kultur der Konformität Gestalt anzunehmen. Die Situation wurde glänzend auf einem Transparent zusammengefasst, das streikende südkoreanische Arbeiter während eines Generalstreiks in den späten 1980er-Jahren vor einem japanischen transnationalen Unternehmen trugen, das seine Hauptgeschäftsinteressen in Großbritannien hatte. Dort hieß es: »Ihr könnt uns nicht besiegen. Wir sind keine Briten!«

Mit seiner Politik im Stil der USA wurde Großbritannien zur Start­rampe für das übrige Europa.

Deutschland durfte aufgrund seiner »besonderen Umstände« als verwöhntes Kind des Kalten Krieges einige alte Spielzeuge und viel vom Personal des [Dritten] Reiches3 behalten und erlernte schon bald nach dem Krieg die Kunst der Koalitionspolitik. Interessanterweise wurde die gemäßigte Mitte in ihre extremste Version verwandelt, als die kriegstreiberischen grünen Führer in die Regierungskoalition eintraten und Kriege im Ausland und den Neoliberalismus im Inland vorantrieben. Der Architekt des modernen Deutschlands Otto von Bismarck nahm gerne die Miene geistigen und moralischen Überdrusses an und sagte zu kriecherischen Besuchern: »Wir wollen die Lösung einiger Probleme für unsere Kinder übriglassen, damit sie sich nicht allzu sehr langweilen.« Diese Haltung spiegelt sich in der heutigen regierenden, von der europäischen Krise und der Rolle, die sie darin spielt, erschöpften deutschen Elite wider.

Anderswo versetzte der Crash von 2008 der neoliberalen Finanzwelt einen starken Schlag. Seitdem sind Frankreich und Italien gefallen. Irland und Portugal befinden sich in einer traurigen Lage, da eine große Anzahl ihrer jungen Menschen in die weißen Angloländer oder nach Brasilien oder Angola auswandert. Nur Griechenland und Spanien haben Bewegungen und Parteien hervorgebracht – Griechenland die Syriza- und Spanien die Podemos-Partei —, die den bestehenden Konsens infrage stellten. Allerdings nur kurz: Syriza beugte sich als Regierungspartei dem Diktat der EU und Podemos trat einer Regierung der extremen Mitte bei. Die meisten osteuropäischen Staaten werden von korrupten Politikern betrieben und dort ist der Kapitalismus das privilegierte Schutzgebiet krimineller Banden der einen oder anderen Art.4

Das ist kein schönes Bild. Die wenigen Wirtschaftswissenschaftler, die nicht mit dem Mainstream schwimmen, werden als krittelnde Kassandras abgelehnt und die politischen Eliten und wichtigsten Bankiers einigen sich auf die Notwendigkeit der Einschränkungen, die fadenscheinige innerstaatliche Kriege gegen einen weitgehend passiven »Feind« begleiten.

Den noch nie da gewesenen turboaufgeladenen wirtschaftlichen Veränderungen in der westlichen Welt entspricht jedoch keinerlei Wandel in ihren politischen Strukturen. Wenn, wie Peter Mair schreibt, das Zeitalter der Parteipolitik vorüber ist, was wird sie ersetzen? Die folgenden Jahrzehnte werden zweifellos ein Modell bereitstellen.

Einerseits ziehen kleinere Nationen, die seit Langem in größere Staaten eingebettet sind – Schottland, Katalonien, Kurdistan –, Nutzen aus der Krise und ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen: Sie alle greifen nach der Freiheit, auch wenn ihre Verhältnisse verschieden und ihre Führungen vielgestaltig sind. Andererseits achten europäische Bewegungen von unten ganz genau auf die bolivarischen Republiken Südamerikas. In beiden Fällen kann Verehrung des Status quo oder die Angst davor Einzelne und Bewegungen lähmen. Aber wir leben in einer unbeständigen Welt und Passivität hilft uns nicht weiter.

Tatsache und Fiktion voneinander zu unterscheiden ist heutzutage nicht so leicht, schon gar nicht im Westen. Aber selbst VerteidigerInnen des Systems finden es immer schwieriger, die kapitalistischen Gesellschaften, die aus den Ruinen des kommunistischen Systems erstanden sind oder die, die sich in der nachkommunistischen Ära neu gestaltet haben, als Beispiele von Wirtschaftsstabilität, Vollbeschäftigung, fortgesetztem Wachstum, sozialer Gleichheit oder individueller Freiheit in irgendeinem bedeutenden Sinn des Wortes abzubilden. Der siegreiche Westen, der seinen alten Feind ideologisch und wirtschaftlich besiegt hat, durchlebt jetzt das Zwielicht der Demokratie.

Die herrschenden Eliten in den USA und in Europa, die ihr politisches System so heftig und schamlos vorangetrieben haben, um die Völker Osteuropas zu überzeugen, entsorgen nun still und leise eben dieses System. Zeitgenössischer Kapitalismus verlangt eine geeignete inländische und internationale Rechtsgrundlage und Schiedsrichter, die im Streit zwischen Unternehmen und über Eigentumsrechte entscheiden, aber eine wirkliche Notwendigkeit für eine demokratische Struktur besteht nicht, außer für die Schaufenstergestaltung. Wie lange sich unsere Herrscher noch die Mühe machen werden, die Formen der Demokratie zu wahren, während sie sie eines jeden wahren Inhalts berauben, ist ein Thema für eine ernsthafte Debatte.5

Wir, die wir – einige glücklicher als andere – im Westen leben, sind Bürger einer ungeordneten Welt. Eine große Mehrheit von uns hat in unterschiedlichem Ausmaß Anteil an neuen kollektiven Erfahrungen: Arbeitslosigkeit oder Teilzeitbeschäftigung, Verschuldung der privaten Haushalte, Obdachlosigkeit, dazu die Abnahme von Qualität und Verfügbarkeit von Dienstleistungen: Gesundheitsdienst, Bildung, Sozialwohnungen, öffentlicher Transport- und Verkehr, öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen, erschwingliche Gegenstände des täglichen Bedarfs; das sind Dienstleistungen, die in den vier Jahrzehnten, die auf den Zweiten Weltkrieg folgten – durchaus nicht länger –, als wesentlich galten.

Als der alte Sowjetstaat und seine Satelliten in Osteuropa schon schwankten, wurde in Washington eine umfassende Strategie entworfen. Ihr Ziel war ganz einfach, einen neuen Kurs in Richtung globaler Kapitalismus einzuschlagen, der die abnehmende Profitrate rückgängig machen und alle Hindernisse, die im Weg standen, beseitigen würde: Länder, Institutionen, Bürger. Die Weltbank fasste die Grundlagen der neuen Wirtschaftsordnung folgendermaßen zusammen: rücksichtslose Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Steuer»reformen« (das heißt, Steuern für die Reichen senken und sie zum Beispiel mit dem Instrument der Mehrwertsteuer für die Armen erhöhen), den Märkten (Banken) ermöglichen, die Zinsraten zu bestimmen, Abschaffung von Kontingenten und Zöllen und damit direkte Förderung ausländischer Investitionen, systematische Privatisierung aller Staatsunternehmen und effektive Deregulierung. Fortan würde es keine unantastbaren Bereiche des öffentlichen Eigentums mehr geben: Der Markt bzw. die Unternehmen entscheiden alles.

Dieses waren die wirtschaftlichen Pfeiler der Diktatur des Kapitals. Das Ergebnis war offensichtlich. Die Politik in den alten Hochburgen des Kapitalismus würde zu kaum mehr als konzentrierter Wirtschaftswissenschaft verkommen. Der Staat, der all diese Veränderungen ermöglichte und über sie wachte, würde als Exekutivkomitee des Finanzkapitalismus fungieren, er würde dessen Verteidigung stärken und, wenn notwendig, eingreifen, um alles vor dem totalen Zusammenbruch zu bewahren, wie 2008/2009 geschehen. Das strukturell angepasste System forderte einen neuen Typ Politiker im Gefolge der Pioniere der neuen Ordnung Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Der Erstere war ein zweitrangiger Schauspieler, der wie ein Zombie handelte, dem eine Gehirnwäsche verpasst worden war, und der sich im Weißen Haus überfordert fühlte. Zwar hatte er seinen Text gut gelernt und wurde so lange als großer Darsteller gelobt, bis ihm schließlich nicht mehr einfiel, in welcher lateinamerikanischen Hauptstadt er gerade gelandet war – und er auch noch sein Redemanuskript zu Hause vergessen hatte.

In Wirklichkeit wurden die USA unter Reagan von einer Kabale von rechten Eiferern geleitet, einem imperialen Politbüro, das die meisten wichtigen Entscheidungen dieser wichtigen Periode traf. Diese Eiferer verbreiteten sich über die Welt durch ihren Präsidenten, dessen Ansehen seinen Höhepunkt erreichte, als der letzte sowjetische Führer, Michail Gorbatschow, beschloss, Washington und nicht Peking zu folgen. Reagans Nachfolger war sein (von der CIA entsandte) Vizepräsident George H. W. Bush. Er erlebte nur eine einzige Amtszeit und wurde dann vom Demokraten Bill Clinton besiegt. Aber das Vermächtnis war bei den New Democrats in sicheren Händen: Clinton erwies sich als eifriger und erfolgreicher Verteidiger der Reagan-Revolution und noch von vielem anderen.

Margaret Thatcher umgab sich mit einer Clique von besonders rechtsgerichteten Ratgebern, um den neuen Konsens durchzusetzen, aber es war nicht so leicht, wie es später dargestellt wurde. Innenpolitisch standen Thatcher eine Anzahl Faktoren bei, darunter ein nicht repräsentatives Wahlsystem, aufgrund dessen sie niemals die Mehrheit der Stimmen gewinnen musste, und eine innerlich gespaltene Labour-Partei, die sich bald auch äußerlich in zwei Teile spalten sollte. Besonders wichtig war ihre Entscheidung, einen Streik der widerstandsfähigsten Angehörigen der britischen ArbeiterInnenklasse erst zu provozieren und dann niederzuschlagen. Ihr Sieg über den »inneren Feind«, und wie er zustande gebracht worden war, ist gut dokumentiert.6

Außenpolitisch endete der Krieg zur Zurückeroberung der Falk­land-Inseln dank der Unterstützung des Labour-Führers Michael Foot im Inland und General Pinochets in Chile mit einem Sieg. Foot hatte den von den USA gestützten argentinischen Diktator General Galtieri als einen neuen Hitler angeprangert (der erste von vielen solchen Vergleichen, die in den folgenden Jahren angestellt wurden). Der Sieg des argentinischen »Hitlers« erforderte die Unterstützung des chilenischen »Hiders« (Versteckers). Die beiden Siege waren für die Heiligsprechung von Thatcher im eigenen Land und in Europa entscheidend. Seitdem hielt sich die »eiserne Lady« – den Spitznamen hatten ihre Schmeichler erfunden – streng an ihren Beinamen.7 In Osteuropa betrachten die Eliten sie immer noch als »Mutter der Völker«.

Aber ihre eigenen Parteikollegen, die sich Sorgen über ihre zunehmende Realitätsferne machten und eine Wahlniederlage befürchteten, brachten sie zu Fall. Das war vielleicht eine Schande – es wäre viel besser gewesen, wenn sie durch die Umfragen besiegt worden wäre.

Ein Jahr, bevor Thatcher zum ersten Mal gewählt wurde, hielt Lord Hailsham eine vorausschauende Rede über die Verfassung. Er fürchtete, eine linksgerichtete Labour-Partei, die durch militante Gewerkschaften unterstützt würde, sei im Begriff zurückzukehren. In der Rede sagte er: »Es gab immer eine unserer Verfassung innewohnende Gefahr, dass eine Wahldiktatur die Herrschaft übernehmen werde.«

In dem Fall kam die Gefahr (und nicht nur in Großbritannien) weder von der Linken noch von der Rechten, sondern von all den Mainstream-Parlamentsparteien, die sich darin einig waren, den Kapitalismus zu verteidigen: von der extremen Mitte. Aus dieser Tatsache ergibt sich, dass das herrschende Wirtschaftssystem seinem Wesen nach Demokratisierung ausschließt. Der Widerspruch zwischen der hohen Konzentration des Kapitals und den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung wird immer brisanter. Aber die Aushöhlung der Demokratie ist kein Prozess, den allein ein Parlamentsdekret rückgängig machen könnte.

Dazu bedarf es einer Massenmobilisierung und Volksversammlungen, durch die neue Bewegungen und Parteien geschaffen werden. Diese werden ihrerseits neue Verfassungen brauchen, die eine Radikaldemokratie stärken. Wir müssen einer neuen Form der Politik den Weg bereiten, die die extreme Mitte herausfordern und hoffentlich besiegen wird.

1 Eine Umfrage von CBS News deckte 2011 auf, dass acht von zehn Amerikanern davon überzeugt sind, dass die von ihnen gewählten Repräsentanten im Kongress »stärker daran interessiert sind, den Bedürfnissen besonderer Interessengruppen zu dienen, als den Menschen, die sie repräsentieren«. Vgl. »Poll: Americans Angry with DC Politics«, CBSnews.com. Der Kongress gehört gewissermaßen den großen Banken. Unternehmen geben Milliarden für Lobby-Arbeit und Spitzenanwälte aus, die sich damit beschäftigen, Schlupflöcher in jedes auch nur im mindesten bedrohliche, weil regulierende Gesetz zu bohren.

2 Ein klassisches Beispiel war Blairs Reaktion auf die Schwangerschaft seiner Frau. Er erklärte: »Ein Kind produzieren ist viel wichtiger als eine allgemeine Wahl gewinnen.«

3 Es gab noch eine weitere Verwendung eines solchen Personals. Die New York Times berichtete, dass mindestens tausend Nazi-Spione und Nazi-Offiziere von US-Agenturen im Kalten Krieg rekrutiert wurden. »In den 1970er-Jahren tauchten in der Öffentlichkeit Beweise für Verbindungen zwischen der Regierung und Nazi-Spionen auf, dazu Tausende von Datensätzen aus freigegebenen Dateien. Nachfragen im Zuge des Gesetzes über Informationsfreiheit und andere Quellen sowie Interviews mit zahlreichen derzeitigen und ehemaligen Regierungsbeamten zeigen, dass die Rekrutierung von Nazis durch die Regierung weitaus umfassender ausgefallen war, als man bis dahin gewusst hatte, und dass die Beamten nach dem Krieg mindestens ein halbes Jahrhundert lang diese Verbindungen verheimlichten.« Einer dieser Agenten, der »gemäßigte Nazi« Aleksandras Lileikis war am Tod von 60.000 litauischen Juden beteiligt. Ein anderer war Assistent von Adolf Eichmann; er war darauf spezialisiert, »Terrorakte« gegen Juden auszudenken. Aber zum Teufel, das war eben der Kalte Krieg! Vgl. »In Cold War, US Spy Agencies Used 1,000 Nazis«, New York Times, 26. Oktober 2014.

4 Eine Studie der Dozentin am University College London Emily Morris zeigt, dass Kuba auf der Liste der sozialen Indizes weiter oben steht als die osteuropäischen Staaten. Vgl. »The Cuban Surprise«, New Left Review, July/August 2014.

5 Zwei wichtige Bücher zu diesem Thema sind das des verstorbenen Peter Mair The Void: The Hollowing Of Western Democracy, (London and New York, 2013) und das von Wolfgang Streeck Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus (2013). Beide stellen den vor sich gehenden Prozess heraus. Mairs scharfer Angriff auf die EU liefert eine sehr starke Grundlage für eine linke Kritik an der von Deutschland beherrschten Bankiersunion.

6 Seumas Milne, The Enemy Within (London and New York, 2014) wurde zu einem Klassiker über das Thema; dort werden im Einzelnen die Methoden dargestellt, die der Staat einsetzte, um die Bergarbeiter zu besiegen.

7 Im September 2014 wurden die Spanier von der Entscheidung ihrer rechtsgerichteten Regierung erschreckt – den modernisierten Erben Francos, die ihr Land im Namen der Troika ruinierten –, die beschlossen hatte, in Madrid eine Statue zu Thatchers Gedächtnis zu errichten.

Die extreme Mitte

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