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Tariq Ali Euroland in Schwierigkeiten

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»Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick«, schrieb Oscar Wilde einmal, »denn sie lässt die eine Küste aus, in dem die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem bessern Land und richtet seine Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.«

Der Geist von Oscar Wilde ist im kollektiven Herzen der Jungen sehr lebendig, der Jungen, die auf die Straße gehen, um gegen die Formen des Kapitalismus zu demonstrieren, der die Welt seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 beherrscht. Sie schrien ihre Forderungen gegen das eine Prozent in New York, gegen die von den USA gestützte Diktatur in Kairo, gegen die Korruption der extremen Mitte in Griechenland und Spanien und für Selbstbestimmung in Schottland heraus.

Die Europäische Union – eine der größten Wirtschaftseinheiten auf dem Planeten, die einen größeren Raum als das Römische Reich vor 2000 Jahren einnimmt – ist in der Klemme. Alle Verschleierungen, alle Versuche, zu suggerieren, die Situation sei unter Kontrolle, und das dicke Heftpflaster um den ganzen Körper der EU bedeute eine Rückkehr zur Normalität, überzeugen ganz und gar nicht. Die Sterne auf der EU-Fahne beginnen zu verblassen. Die Länder der zweiten Reihe, die in die Europäische Union aufgenommen wurden, waren von Anfang an schwach, während die Hauptländer überleben – aber wie lange noch? Dass es den europäischen Philosophen (da fallen einem Habermas und Negri ein) nicht gelungen ist, das Wesen der Krise zu verstehen, weist darauf hin, dass sie selbst ein Teil des Problems sind. Europa ist keine bloße Abstraktion. Es ist eine schlechte Realität, in der bis vor Kurzem Kräfte der extremen Rechten die Debatte beherrschten.

Wie ist die EU zustande gekommen? Welche Ziele hatte sie? Es ist sehr schwierig, eine einzige Antwort zu geben, denn verschiedene Länder hatten verschiedene Ideen über das, was geschah und warum es geschah. Die Vereinigten Staaten wollten, dass die europäischen Länder, die sie im Zweiten Weltkrieg gerettet und dann mit dem Marshallplan finanziert hatten, im Kalten Krieg ein Bollwerk gegen die Russen und Osteuropa bildeten. Für die Franzosen war es ein Versuch, eine Allianz mit Deutschland zu schmieden. Für die Deutschen war die EU für deutsche Exporte wichtig.

Dazu kam: Der französische Führer General de Gaulle, der das abschließende Kopfnicken zu den Römischen Verträgen abgab, betrachtete die Union voller Verachtung als nicht mehr denn eine Maschine. Ihm gefiel es nicht, dass Frankreich seine Identität und Souveränität in irgendeiner Gestalt oder Form weggenommen würde. Und das ist bis vor Kurzem die Haltung Frankreichs geblieben.

Der Vater der Europäischen Union war ein sehr bemerkenswerter Franzose, ein kosmopolitischer Unternehmer namens Jean Monnet, dessen Bilanz in Wirtschaft, Politik und sozialen Aktivitäten recht unterhaltsam ist. Er stand den wichtigsten Kalten Kriegern in den Vereinigten Staaten nahe – unter anderen Dean Acheson, den Brüdern John Foster und Alan Welsh Dulles und John Jay McCloy. Er war gleichzeitig ein französischer Patriot und ein Internationalist. In seiner unvergleichlichen Darstellung des modernen Europas The New Old World liefert uns Perry Anderson eine unterhaltsame Schilderung von Monnets frühen Jahren.

Monnets Ehe gibt uns vielleicht den besten Einblick in sein Leben, das in der Zeit zwischen den Kriegen immer noch nur teilweise sichtbar ist. Im Jahr 1929 brachte er im Auftrag von John McCloy gerade eine Stadtanleihe in Mailand auf den Markt, als er sich in die frisch verheiratete Frau eines seiner italienischen Angestellten verliebte. Unter Mussolini gab es keine Scheidung und zwei Jahre später wurde dem Ehepaar ein Kind geboren. Der Ehemann und Vater vereitelte Versuche, die Ehe annullieren zu lassen, und der Vatikan weigerte sich. 1934 war Monnets Hauptwohnsitz in Shanghai. Dort stieg er eines Tages in die Transsibirische Eisenbahn, um sich mit seiner Geliebten in Moskau zu treffen, wohin sie aus der Schweiz angereist war. Über Nacht erwarb sie die sowjetrussische Staatsbürgerschaft, löste ihre Ehe auf und heiratete ihn trotz Verbot der UdSSR. Monnets Braut war eine fromme Katholikin und sie gab dieser ungewöhnlichen Maßnahme – so erklärte es Monnet – den Vorzug vor den erniedrigenden Ämtern in Italien. Warum Stalins Regierung ihnen das erlaubte, konnte er nie verstehen. Es war eine angespannte Zeit für eine Heirat: Vierzehn Tage später wurde Kirow ermordet. Als ihr verlassener italienischer Ehemann später versuchte, seine vierjährige Tochter aus Shanghai zurückzuholen, fand Madame Monnet im sowjetischen Konsulat – einer ziemlich berüchtigten Einrichtung in der Geschichte der Komintern – Zuflucht vor dem Entführer. Ende 1935 – sie hatte immer noch einen sowjetrussischen Pass – bekam sie eine Aufenthaltserlaubnis in den USA, als Monnet im Rahmen eines türkischen Kontingents nach New York übergesiedelt war.

Monnets Abenteuer einmal beiseite: Die Einheit Westeuropas war ein Kind des Zweiten Weltkrieges und des Beginns des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion, der auf die Niederlage der Achsenmächte folgte. Im Zentrum stand – im Gegensatz zu den Schrecken, die vom Versailler Vertrag, der auf den Ersten Weltkrieg gefolgt war, ausgelöst worden waren – die Vorstellung von einer tiefen Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland als gleichberechtigten Partnern. Aber in Wirklichkeit war das Ziel, Deutschlands politische Souveränität zu beschneiden.

Die Existenz der Sowjetunion und ihrer neu erworbenen osteuropäischen Satelliten machte eine kollektive Bestrafung der deutschen Elite der Kriegszeit unmöglich. Die Tatsache, dass das Land geteilt worden war, wurde für ausreichend gehalten, die Wiedergeburt des deutschen Militarismus zu verhindern. Der deutsche Führer der Konservativen Konrad Adenauer war niemals von der Lebensfähigkeit von Ostdeutschland überzeugt und sah, schon lange bevor Gorbatschow zu einem Augenzwinkern Reagans wurde, eine Wiedervereinigung voraus.

De Gaulle wollte ein dicht verwobenes Europa, einen unabhängigen bonapartistischen Block, der mit der UdSSR und den USA auf Augenhöhe verhandelte und in der Innen- und Außenpolitik eigene selbstständige Initiativen ergriff. Aus diesem Grund wollte er Großbritannien ausschließen, da er (wie auch fast alle anderen) wusste, dass es kaum mehr als ein trojanisches Pferd der Vereinigten Staaten sein würde. Die Auffassungen beider erwiesen sich als richtig. Heute ist Deutschland trotz seiner eingeschränkten Souveränität das stärkste Land in Europa und die EU, die infolge des englisch-amerikanischen Drucks außer Kontrolle geraten ist, stöhnt wie ein kranker Stier.

Frühe Versuche des Franzosen Jacques Delors, ein »soziales Europa« zu schaffen, scheiterten am wiedergeborenen Fanatismus des Washington Consensus: Neoliberaler Kapitalismus sei der einzige Weg nach vorn. Die EU musste die neuen Regeln akzeptieren: Privatisierung im Inland, Kriege und Besetzungen im Ausland. Die Nordeuropäer (Großbritannien und Skandinavien) und die Osteuropäer (die entzückt waren, einen neuen Satelliten-Status annehmen zu dürfen, bei dem die USA die UdSSR ersetzten) erwiesen sich als die loyalsten und gefügigsten EU-Vasallenstaaten. Das Ergebnis ist eine Katastrophe für die EU als Ganze.

Im Inneren wurde sie zu einem Europa der Bankiers mit wenig Rücksicht auf irgendetwas anderes als auf die Bedürfnisse des Finanzkapitals. Die daraus folgende Wirtschaftskrise hat bisher noch keinen wirklichen Wandel im Grundparadigma bewirkt. Auf die Wunde wurde ein in antiseptischer Flüssigkeit getränkter Verband gelegt, aber noch sieht man das Blut und es wird bald wieder hervorquellen.

Über zehn Jahre nach dem Crash von 2008 steckten die amerikanischen und europäischen Wirtschaften in Arbeitslosigkeit und Stagnation fest. Die Anarchie der Kreditschöpfung wurde unter eine gewisse Kontrolle gebracht, aber ihre Grundlagen bleiben so solide wie eh und je. Bankiers, Gauner und Betrüger warteten geduldig auf die Wiederherstellung, damit sie ihre Arbeit bei geringstmöglicher Regulierung wieder aufnehmen können. Und wie zur Bestätigung beschlossen die Deutschen, Luxemburg – das Geldwäschezentrum der europäischen Reichen – zu belohnen, indem sie den Starpolitiker Jean-Claude Juncker zum Präsidenten des Europäischen Rates wählten.

Die Unfähigkeit der westlichen Regierungen, das System von Grund auf zu reformieren, hatte zu einer Verschärfung der Krise geführt, die nun das Funktionieren der Demokratie an sich bedrohte. In Griechenland und Italien regierten die Bankiers das Land. Die soziale Schicht, die die Krise verursacht hat, lieferte nun Bürokraten, die sich über die Politik hinwegsetzen. Anderswo übte die extreme Mitte die Macht aus, indem sie Sparmaßnahmen förderte, die die Reichen privilegieren, und Kriege und Besetzungen im Ausland unterstützt.

Wie ist es so weit gekommen? Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1991 verdarb das Geld die Politik und das große Geld verdarb sie vollkommen. In den Kernländern des Kapitals wurden wir zu Zeugen des Entstehens effektiver Koalitionen: in den Vereinigten Staaten der Republikaner und Demokraten, in Großbritannien von New Labour und den Tories, in Frankreich von den Sozialisten und einem Gemisch aus verschiedenen Konservativen, in Deutschland verschiedene Koalitionen, in denen sich die Grünen weitgehend als übertriebene Atlantiker auszeichneten, in Skandinavien die fast identischen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Koalitionen, die zaghaft vor dem Angesicht des Empires miteinander konkurrierten. In fast allen Fällen verformte sich das Zwei-/Drei-Parteien-System in eine erfolgreiche nationale Regierung.

Ein neuer Marktextremismus kam ins Spiel. Der Eintritt des Kapitals in die heiligsten Bereiche der Sozialleistungen wurde als eine notwendige »Reform« angepriesen. Private Finanzinitiativen bestraften den öffentlichen Sektor und wurden zur Norm. Länder (wie Frankreich und Deutschland), die nicht schnell genug zum neoliberalen Paradies unterwegs waren, wurden deswegen regelmäßig im Economist und in den Financial Times gerügt. Als konservative Dinosaurier wurden jene beschimpft, die Folgendes taten: diese Wendung infrage stellen, den öffentlichen Sektor verteidigen, die staatliche Eigentümerschaft von Versorgungsunternehmen befürworten, den Ausverkauf von Sozialwohnungen anfechten.

Die Politiker der extremen Mitte waren, berauscht vom Triumph des Kapitalismus, nicht auf die Krise von 2008 vorbereitet. Ebenso wenig waren es die meisten Bürger, die sich von der Verfügbarkeit billiger Kredite und von zahmen, unkritischen Medien täuschen ließen und glaubten, alles stünde zum Besten. Ihre Führer mochten ja nicht gerade charismatisch sein, aber sie verständen doch, das System zu handhaben. Überlasst nur alles den Politikern! Der Preis für diese zur Norm gewordene Apathie wird jetzt gezahlt.

(Fairerweise muss man sagen, dass das irische, niederländische und französische Volk in den Auseinandersetzungen um die EU-Verfassung, die den Neoliberalismus festschrieb, eine Katastrophe witterten und gegen sie stimmten. Sie wurden ignoriert).

Dennoch war es für viele Wirtschaftswissenschaftler offensichtlich, dass die Wall Street die Immobilienblase absichtlich aufpumpte, indem sie Milliarden für Werbekampagnen ausgab, um die Menschen dazu zu verleiten, eine zweite Hypothek aufzunehmen und mehr Schulden zu machen, um das geliehene Geld blindlings für Konsumgüter auszugeben. Die Blase musste platzen, und als sie platzte, wankte das System, bis der Staat die Banken vor dem völligen Zusammenbruch rettete.

Als die Krise auf Europa übergriff, wurden alle Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln im Zuge der EU-Rettungsaktion für nichtig erklärt. Die Lehren des Marktes fielen praktischerweise dem Vergessen anheim.

Als einige Länder zusammenbrachen (Island, Irland, Griechenland) und andere (Portugal, Spanien, Italien) in den Abgrund starrten, griff die EU ein, um Sparmaßnahmen durchzusetzen und das deutsche, französische und britische Bankensystem zu retten. Dass es Spannungen zwischen Markt und demokratischer Verantwortlichkeit gab, konnte nun nicht mehr verschleiert werden.

Die griechische Elite wurde dazu erpresst, sich vollkommen zu unterwerfen, während die Sparmaßnahmen, die die Bürger schlucken mussten, das Land an den Rand einer Revolution brachten. Griechenland ist das schwächste Glied in der Kette des europäischen Kapitalismus, seine Demokratie wurde längst von den Wellen des krisengeschüttelten Kapitalismus weggeschwemmt. Generalstreiks und kreative Proteste machten es der extremen Mitte sehr schwer, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Die Menschen suchen nach Alternativen, aber das geschieht, ohne dass sie die politischen Parteien daran beteiligen, da sich alle als unfähig erwiesen haben. Das Vorgehen in vielen Ländern war ganz anders als bei früheren Protesten. Es waren Aktionen, die in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und an Orten stattfanden, an denen die Zukunft düster aussieht. Die meisten jungen Menschen werden nur studieren können, wenn sie erhebliche Summen aufbringen, und schon bald wird die Bevölkerung einem Zweiklassengesundheitssystem ausgesetzt sein. Die kapitalistische Demokratie setzt heute eine grundlegende Übereinstimmung der wichtigsten im Parlament vertretenen Parteien voraus, sodass ihr noch dazu durch Mäßigung begrenztes Gezänk völlig unbedeutend wird. Diese Ideologie kann als Demokratismus bezeichnet werden, aber die Demokratie an sich bietet keine wirklichen Alternativen.

Die Besetzungen und Straßenproteste gegen den Kapitalismus ähneln in gewisser Weise den Protesten der Bauern in früheren Jahrhunderten. Unannehmbare Lebensumstände führen zu Aufständen, die dann meist zerschlagen werden oder von sich aus abflauen. Wichtig ist, dass sie oft Vorboten dessen sind, was kommen wird, wenn sich die Lage nicht bessert. Keine Bewegung kann überleben, wenn sie nicht eine dauerhafte demokratische Struktur schafft, die die politische Kontinuität wahrt. Je breiter die Unterstützung für eine solche Bewegung ist, desto notwendiger ist es, dass sie in irgendeiner Form organisiert wird.

Die südamerikanischen Rebellionen gegen den Neoliberalismus und seine globalen Institutionen sind in dieser Hinsicht vorbildlich. Große und erfolgreiche Kämpfe gegen den IWF in Venezuela, gegen die Wasserprivatisierung in Bolivien und gegen die Stromprivatisierung in Peru schufen die Grundlage für eine neue Politik, die in den beiden erstgenannten Ländern sowie in Ecuador und Paraguay bei den Wahlen triumphierte. Nach ihrer Wahl begannen die neuen Regierungen mit der Umsetzung der versprochenen sozialen und wirtschaftlichen Reformen – mit unterschiedlichem Erfolg.

Den Rat, den Professor H. D. Dickinson 1958 der Labour-Partei in Großbritannien gab, lehnte diese zwar ab, aber rund vierzig Jahre später akzeptierten ihn die bolivarischen Führer in Venezuela und Bolivien:

Wenn der Wohlfahrtsstaat überleben soll, muss er eine eigene Einkommensquelle finden, auf die er einen Anspruch hat, der vor dem eines […] Gewinnempfängers rangiert. Die einzige Quelle, die ich erkennen kann, ist die des Eigentums an Produktionsmitteln. Der Staat muss auf die eine oder andere Weise in den Besitz eines sehr großen Teiles des Landes und des Kapitals kommen. Das ist vielleicht keine beliebte Politik, aber wenn sie nicht verfolgt wird, wird die beliebte Politik der verbesserten sozialen Dienstleistungen unmöglich werden. Man kann Konsumgüter nicht auf die Dauer sozialisieren, wenn man zuvor nicht die Produktionsmittel sozialisiert hat.

Die Regierenden dieser Welt werden in diesen Worten kaum mehr als den Ausdruck von Utopismus sehen, aber sie irren sich. Denn eben dies sind die Strukturreformen, die wirklich notwendig sind, und nicht die, die die EU vorantreibt. Notwendig ist eine vollkommene Kehrtwende, der das öffentliche Eingeständnis vorausgeht, dass das Wall-Street-System nicht funktioniert hat und nicht funktionieren konnte und deshalb aufgegeben werden muss.

Das gaullistische Frankreich wollte, dass die Europäische Union eine neutrale Kraft werde und einige in Deutschland wollten dasselbe. Viele in der Europäischen Union entwickelten langsam die folgende Idee: Wenn sich Europa zu einer Großmacht entwickeln würde, dann könnte es im Kalten Krieg zwischen Russen und Amerikanern vermitteln. Es könnte sich mit einer eigenständigen Politik, eigenständigen Positionen und einer eigenständigen Gesellschaftsorganisation selbstständig machen.

Aber schon bald geschah das Unvermeidliche: Die vom deutschen Kanzler Konrad Adenauer General de Gaulle schon in den 1950er-Jahren vorhergesagte Wiedervereinigung Deutschlands veränderte das Gesicht Europas noch einmal. Das wiedervereinigte Deutschland wurde zur Europa dominierenden Macht, und trotz ihrer falschen Bescheidenheit freute sich die deutsche Elite, wieder ins Rampenlicht zu treten. Die Vereinigten Staaten erkannten, dass die einzige Möglichkeit, Europa jetzt daran zu hindern, zu mächtig zu werden, darin bestand, die Union zu verwässern und zu erweitern, und das machte eine ernsthafte wirtschaftliche und politische Vereinigung unmöglich.

Die USA wussten schon immer, dass die Wiederbelebung dieser Volkswirtschaften früher oder später bewirken würde, dass diese Länder mit ihnen in Konkurrenz träten, zumindest an der Wirtschafts- und Handelsfront. Die Vereinigten Staaten waren bereit gewesen, dieses Risiko auf sich zu nehmen, denn, solange die Sowjetunion bestand, schien es keinen anderen gangbaren Weg zu geben, das angeschlagene kapitalistische Nachkriegssystem zu stützen. Doch als die Sowjetunion sich selbst zerstörte und in ihre Teile zerlegt wurde, entstanden neue, zum Teil politische, zum größten Teil aber soziale und wirtschaftliche Probleme. Mit dem Sieg Hayeks und der Chicagoer Schule wurde das geboren, was dann als Neoliberalismus bekannt wurde.

Dementsprechend begann die Europäische Union die Sozial- und Wirtschaftspolitik ihrer Mitgliedsstaaten zu bestimmen. Dies bedeutete das Ende der staatlichen Kontrolle von Industrien und den langsamen, aber unaufhaltsamen Abbau des Sozialstaates, denn der Markt drang nun in die bis dahin heiligsten Bereiche der Bereitstellung von Sozialleistungen ein.

Als 2008 die Krise ausbrach, bewirkte sie die reine Panik in den EU-Zentralen. Panik in Berlin. Panik in Paris. Panik in London. Was sollten sie tun? Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler behaupteten, nun sei die Zeit gekommen, eine Form des Keynesianismus wieder einzuführen, um die Wirtschaft anzukurbeln, und das taten die Vereinigten Staaten in gewissem Maße. Anders jedoch Europa, denn Europa hatte zu viel ausgegeben, es stand sozial, wirtschaftlich, ideologisch zu viel auf dem Spiel, als dass ihm diese Wende möglich gewesen wäre. Stattdessen bekamen wir die von Berlin beschlossenen und von allen Regierungen der Europäischen Union unterstützten Sparmaßnahmen: Je ärmer das Land, desto feiger waren seine Führer.

Die Europäische Union steht heute einer ziemlich großen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise gegenüber. Deren einzige Lösung ist die Bestrafung der Opfer. Die extreme Mitte der meisten Mitglieds­staaten plädiert dafür, dass dies geschieht und dass Oppositionen zerschlagen werden – es sei denn, sie tauchen auf der rechten Seite auf.

Bis die Blase wieder platzt, kann sie ignoriert werden, es sei denn, es käme zu einer großen Revolte von unten. Was die Regierenden in Europa betrifft, so ist für sie alles schon beigelegt, das Problem ist mehr oder weniger gelöst. Diejenigen, die den Zusammenbruch des Euro vorausgesagt hatten, haben sich offensichtlich geirrt. Solange die deutschen Banken glücklich sind, sind die Eliten glücklich. Sie denken, es sei ihnen gelungen, das System zu beherrschen. Aber aus der Perspektive der angeschlagenen Parlamente von Athen und Madrid und angesichts geschlossener Geschäfte, verbarrikadierter Gebäude und vernagelter Häuser in Lissabon und Dublin sind die Aussichten nicht so rosig. Selbst in den blühenden Metropolen London, Paris, Brüssel, Mailand und Frankfurt gibt es dunkle Ecken, die dem Blick der Öffentlichkeit verborgen bleiben. In diesen ärmeren, von Migranten, Arbeitslosen und Obdachlosen bewohnten Vierteln geht das Leben weiter und es gibt sogar ein Gemeinschaftsgefühl, das es anderswo in Großstädten nicht gibt, aber die Probleme des täglichen Lebens lassen wenig Zeit für Entspannung.

Für die von der Troika regierten EU-Länder ist die gemeinsame Währung zu einer Fessel geworden, die mehr als die Hälfte der Eurozone an eine permanente Rezession kettet. Griechenland ist in die Armut gestürzt, seine Wirtschaft ist um ein Fünftel geschrumpft, die Löhne sind um 50 % gesunken, die Jugendarbeitslosigkeit ist groß: Zwei Drittel der jungen Menschen sind arbeitslos. Die Erfahrungen der Spanier sind nicht besser: Von der Rente der Großeltern oder von einem einzigen Gehalt müssen in vielen Fällen drei Generationen leben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 26 %, die Löhne werden nicht ausgezahlt, der Lohn für Gelegenheitsarbeit ist in Spanien auf zwei Euro pro Stunde gesunken.

Italien befindet sich nach einem Jahrzehnt der wirtschaftlichen Stagnation seit einigen Jahren in einer Rezession. Nun sind 42 % der jungen Italiener ohne Arbeit. In Portugal mussten Zehntausende kleine Familienunternehmen, die jahrzehntelang das Rückgrat der portugiesischen Wirtschaft bildeten, ihren Laden dichtmachen. Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen hat keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Und Irland: Wieder einmal haben die Jungen, die Besten und Klügsten der Nation das Land verlassen. Damit wiederholt sich traurigerweise die Auswanderung, die dazu beigetragen hat, Irland jahrzehntelang in Konservatismus und Unterentwicklung einzusperren.

Die Europäische Union ist das Instrument des Ministerrates. Diese Minister sind von ihren Ländern in ihren Parlamenten gewählte Regierungsvertreter und bestimmen alles. Darum ist das Demokratiedefizit in der Europäischen Union riesig. Das Europäische Parlament hat in Wirklichkeit überhaupt keine Macht – abgesehen von der, den Präsidenten der Europäischen Union zu wählen, der ebenso wenig Macht hat. Die Macht wird immer noch von den einzelnen Staaten ausgeübt, aber wenn der eine oder andere ausfallen sollte, ist das auch kein Problem. Deutschland spielt als reichster und größter Staat der EU bei der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik heute die Hauptrolle. Wenn die deutschen Bankiers Sparmaßnahmen wollen, sorgen die mit ihnen im Bunde stehenden Politiker dafür, dass ihre Forderungen erfüllt werden, denn im Grunde sind sie eine Bankier-Gemeinschaft. Die Eliten haben aus der EU ein System gemacht, das ihren Interessen dient. Sie ist eine Wirtschaftsunion, die eine Wirtschaftspolitik durchsetzt, und sie ist keine soziale oder politische Union.

Kurz gesagt, jene Europäische Union, die aus dem langen und abenteuerlichen Kampf um den Schutz des Euro hervorgegangen ist, ist ihrem Wesen nach eher autokratisch, autoritär, deutsch-dominiert und rechtsgerichtet und entbehrt jeglichen ausgleichenden Charmes. Die Euro-Zone dehnt sich weiter aus. Kroatien ist 2013 der EU beigetreten. Im Jahr 2011 führte Estland und 2014 Lettland den Euro ein. Jedoch hat die neue Ordnung ein Ad-hoc-Wirtschaftsdirektorat hervorgebracht, das nur im Notfall legitim wäre.

Dieses Direktorat wurde als Troika bezeichnet. Es hat keinen offiziellen Namen, wurde aber im April 2010 zusammengestellt, um als Voraussetzung für den ersten Kredit die Führung der griechischen Wirtschaft zu übernehmen. Die Troika setzt sich im Wesentlichen aus Bürokraten der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds zusammen. Mit der Zeit regierte sie Portugal, Irland, Zypern und Griechenland. Und sie gehört auf Dauer zum europäischen Stabilitätsmechanismus. Die Troika gibt Absichtserklärungen nach demselben Muster wie der IWF heraus, die den Mitgliedsstaaten jedes Detail der Regierungsprogramme diktiert.

Jede nationale Regierung wird dafür sorgen, dass die gesetzlichen Regelungen für Kürzungen im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, im öffentlichen Sektor, bei Entlassungen, Kürzungen der staatlichen Rente und der Streichung von Leistungen für Arbeitslose dem Parlament vorgelegt und von diesem verabschiedet werden. Dann wird die Regierung dem Parlament einen Privatisierungsplan vorlegen und dafür sorgen, dass dieser verabschiedet wird. Die Troika besteht nach ihren eigenen Worten darauf, die Regierung sollte im Voraus darüber beraten, auch politische Entscheidungen anzunehmen, die noch nicht in diesem Memorandum enthalten sind. Das kann man nur noch finanziellen Halbkolonialismus nennen. Und die Bilanz der Troika im Bereich der Wirtschaftsführung ist katastrophal.

In anderen Ländern haben die Parteien der extremen Rechten profitiert. Sie haben zwei miteinander verbundene Argumente entwickelt: Erstens, dass die EU-Politik zu Sparmaßnahmen geführt und den Armen geschadet hat, und zweitens, dass die Freizügigkeit von Arbeitskräften aus EU-Ländern mit niedrigen Löhnen und hoher Arbeitslosigkeit die Lage verschlechtert.

Was den zweiten Punkt betrifft, so handelt es sich bei der Einwanderung um eine Reihe von Strategien, die seit Jahrhunderten akzeptiert werden. Die Welt wäre nicht das, was sie heute ist, wenn es keine Einwanderung gegeben hätte. Deutsche Unternehmen brauchten türkische Arbeitskräfte, Frankreich holte Menschen aus seinen ehemaligen Kolonien ins Land, damit sie in der französischen Industrie arbeiten, die britische Regierung schickte Enoch Powell auf die Karibischen Inseln, damit er dort Krankenschwestern für den neuen Nationalen Gesundheitsdienst anwarb. All dies geschieht schon seit Ewigkeiten, darum ist die Vorstellung, die Menschen, die an der Krise schuld sind, wären die Einwanderer, ein billiges, armseliges und schäbiges Vorurteil und hat keinerlei reale Grundlage. Aber heute sagen die Rechte und die extreme Rechte, Migranten aus Polen und Rumänien – aus Staaten der zweiten Reihe der verblassenden Sterne – nähmen uns unsere Arbeitsplätze weg.

Das ist nun einmal etwas, zu dem man sich verpflichtet, wenn man der Europäischen Union beitritt. Es geht nicht nur um den freien Kapitalverkehr, sondern auch um die Freizügigkeit der Arbeitskräfte innerhalb der Grenzen der EU. Wenn man die abschaffte, würde das vielen europäischen Volkswirtschaften schweren Schaden zufügen. Die Politiker sind sich dieser Tatsache bewusst, aber man findet immer leicht Sündenböcke, wenn man die wahren Gründe nicht finden kann.

Die Führer der Europäischen Union haben in weiten Teilen Europas ein Wirtschaftssystem geschaffen, das nicht richtig funktioniert, und nun stehen sie vor dem Problem, dass sich die Menschen in Scharen vom politischen Überbau abwenden, dessen Hauptziel es ist, dieses System um jeden Preis zu verteidigen. Vor allem junge Menschen interessieren sich nicht für die Mainstream-Politik. Viele gehen nicht mehr zur Wahl. Und daran ist nicht die Union, sondern daran sind die Bankiers schuld, die sie beherrschen und die die Politik bestimmen, der die Mitgliedsstaaten folgen müssen.

Die EU ist das Mutterschiff der extremen Mitte mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zu den ihr untergeordneten Vasallen keiner gewählten Körperschaft gegenüber verantwortlich ist. Diese Krise wird nicht verschwinden. Die für die von der Troika kontrollierten Länder vorgesehenen weiteren Kürzungen entbehren jeder wirtschaftlichen Begründung. Eine Reihe nicht gewählter Bürokraten, die für Banken, den IWF, die EZB usw. arbeiten, befehlen eigenständigen Regierungen: Dies dürft ihr tun und dies dürft ihr nicht tun! In einigen Fällen entheben sie Premierminister ihres Amtes und setzen neue Premierminister an deren Stelle.

Wenn das so bleibt, kann es unmöglich besser werden. Wenn Bankiers, die nicht gewählt wurden, über die Bedürfnisse der Menschen in einigen europäischen Ländern entscheiden, was sie tatsächlich tun, wie kann es dann vorwärtsgehen? Aber das ist etwas, das die heutigen unkritischen Verteidiger Europas nicht verstehen. Für sie ist nichts daran auszusetzen, Europa ist großartig, es ist eine großartige Idee, lasst alles beim Alten!

Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist das liberale Manifest For Europe! des deutschen Grünen Daniel Cohn-Bendit und des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt. Die beiden schreiben: Nur die Europäische Union kann die sozialen Rechte aller europäischen Bürger gewährleisten und die Armut zu beseitigen. Nur Europa kann die Probleme der Globalisierung, die Probleme des Klimawandels und der sozialen Ungerechtigkeit lösen. Das leuchtende Vorbild Europa hat andere Kontinente inspiriert, den Weg der regionalen Zusammenarbeit einzuschlagen.

Kein Kontinent ist besser gerüstet, seiner Vergangenheit voller Gewalttaten abzuschwören und nach einer friedlicheren Welt zu streben.

Welches Europa könnten sie wohl meinen? Dies ist ein Blick aus dem Inneren der Blase. Sogar im stärksten der EU-Staaten, in Deutschland, wächst das Unbehagen an der Rolle, die die Nation zu spielen gezwungen wird, und einige Anti-EU-Parteien sind entstanden. Die meisten dieser Parteien sind fehlgeleitet, aber der Grund für ihr Entstehen ist der um sich greifende Verlust an Vertrauen in die Eliten, die die Parteipolitik beherrschen und die die Symbiose zwischen den wie durch eine Nabelschnur miteinander verbundenen großen Banken, großen Unternehmen und der Politik verkörpern. Die Feindseligkeit gegen die EU beschränkt sich nicht auf die Rechtsextremen. Der Mangel an scharfer Kritik an der EU sowohl bei der extremen Mitte als auch bei vielen Linken hat der Rechten eine solche Anziehungskraft verliehen.

Weit davon entfernt, dass die Kritik an einer geheiligten EU die Reaktion und den nationalen Chauvinismus fördern würde, ist es das Fehlen einer ernsthaften Kritik, das den Prozess noch verschlimmert.

Habermas ist natürlich ein Philosoph der extremen Mitte. Negri sollte es besser wissen. Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten in Europa ist selten tiefer gewesen. Politisch gesehen verbindet sich die in den Strukturen der EU fehlende demokratische Verantwortung auf schädliche Weise mit der Wirtschaftslehre einer schuldengeplagten Stagnation. An der militärischen Front ist die Mitgliedschaft in der NATO für neue Mitglieder obligatorisch; das bindet sie in eine umfassendere imperiale Strategie ein. Die in der gesamten EU gefeierte Wiedervereinigung Deutschlands hat dazu geführt, dass das Land bei der Festlegung sozialer und wirtschaftlicher Prioritäten zum Schlüsselstaat geworden ist.

Die Gleichheit der Mitgliedsstaaten wurde nach der Erweiterung zu einem Witz. Selbst als in den beiden Gründerstaaten Frankreich und in den Niederlanden 2005 Mehrheiten gegen die EU-Verfassung stimmten – vor allem weil sie den Neoliberalismus festschrieb –, wurde die in diesen Referenden zum Ausdruck gebrachte Volksmeinung tatsächlich ignoriert. Zurzeit setzt sich die Achse Berlin–Washington im Fall größerer politischer Meinungsverschiedenheiten über die archaischen und autoritären Strukturen der Europäischen Union hinweg. Das deutsch-französische Gleichgewicht ist bedeutungslos und überflüssig geworden. Wenn die Entscheidungen der Deutschen von Washington grünes Licht erhalten, werden sie den anderen Mitgliedsstaaten aufgezwungen.

Die meisten der bewunderten Philosophen Europas können die Welt nicht interpretieren, geschweige denn verändern. Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen diskutieren mögliche Alternativen. Im »EuroMemorandum 2014« arbeitete eine Gruppe radikaler europäischer Wirtschaftswissenschaftler eine Handlungsalternative aus.8 Ihre Kritik konzentrierte sich auf die misslungene Wirtschaftspolitik und die Forscher weisen darauf hin, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Jahr 2013 in Deutschland (7,8 %) und Österreich (9,1 %) relativ niedrig war, während sie in Belgien 23,7 %, in Frankreich und Irland 25,8 %, in Griechenland 57,3 % und in Spanien 55,9 % betrug. Im Bereich der Finanzen, stellen die Wirtschaftswissenschaftler fest, sei die Situation »äußerst fragil« und in Italien und Spanien seien die neuen »Emissionen von Staatsanleihen fast vollständig von den nationalen Banken aufgenommen« worden. Hinsichtlich einer Bankenreform bestehen die Forscher darauf, das »Gewicht der Finanzen in der Wirtschaft« müsse verringert und Spekulationen im Bankensystem müssten als illegal verfolgt werden.

Die meisten ihrer Argumente, besonders die scharfe Kritik an der autoritären Verhängung von »Strukturreformen« unter Androhung von Sanktionen, sind stichhaltig und rational. Sie fordern ein Ende des Sadomonetarismus. Aber wer wird die von ihnen empfohlenen Veränderungen herbeiführen? Weder die Politiker der extremen Mitte noch die EZB und ihre Satelliten noch das US-Finanzministerium noch die US-Notenbank. Es ist zu hoffen, dass das Zunehmen sozialer Bewegungen zu ernsthaften Gesprächen über eine alternative Wirtschaft führen wird – aber eine jede Entwicklung in dieser Richtung wird durch jede einzelne Struktur der Europäischen Union behindert. Sie lässt keine Opposition zu.

Bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge verhielt sich die Bevölkerung weitgehend passiv. Jetzt sind einige etwas streitlustiger, aber meist sind es die auf der rechten Seite: in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Italien. Nur in den Ländern Spanien und Griechenland, die jahrelang Erfahrungen mit Bürgerkrieg und Diktatur gemacht haben, sehen wir die Möglichkeit zu etwas anderem. Die Linke fordert die extreme Mitte heraus, aber sie ist unerprobt und muss die Probe erst noch bestehen. Es wäre ein Fehler, wenn sie die Legitimität der EU und ihrer Institutionen in ihrer jetzigen Form einfach akzeptieren würde.

Der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck hat im letzten Kapitel seines Buches Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus den Umriss einer neuen, demokratischen europäischen Verfassung skizziert, die, dem Kontinent entsprechend, eine kulturell vielfältige und sozial heterogene Realität widerspiegelt. Die Kaufleute des Status quo haben dem Europäischen Parlament zwar einige weitere Befugnisse, aber keine Souveränität eingeräumt. Die größte Fraktion im Parlament nutzte dies, um den Luxemburger Jean-Claude Junker zum neuen Präsidenten zu wählen. Die Wahl eines Politikers, der das kleine Herzogtum zur Geldwäsche bevollmächtigte und zu einem Steuerparadies für Reiche machte, war eine symbolische Wahl. Alles sollte den gewohnten Gang gehen.

Wer wird die Nabelschnur durchtrennen? Die extreme Rechte oder neue Kräfte der Linken? Dies bleibt die große unbeantwortete Frage. Die Zukunft vieler EU-Länder und in der Tat auch der Europäischen Union selbst (wie sie heute beschaffen ist) wird vom Verlauf der Krise in den nächsten Jahren abhängen.

8 Online unter: www.euromemorandum.eu.

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