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2. Kapitel
ОглавлениеEilig verließ Cécile Merz die Wohnung ihres Lovers, bei dem sie übernachtet hatte. Sie musste vor sieben zu Hause sein, um noch rechtzeitig ins Büro zu kommen. Sie war keineswegs verliebt. Aber der regelmäßige Sex ließ sie richtiggehend aufblühen.
Vor ihrem Umfeld hielt sie die Beziehung jedoch geheim. Außerdem suchte sie wirklich nur körperliche Befriedigung. Zum Zusammenleben taugte der knackige Spanier ohnehin nicht. Sie war wohl auch nicht die Einzige, die er bediente, aber auch das störte sie nicht. Ihr Mann Erich, blieb inzwischen seit vier Jahren verschollen. Deshalb gestattete sie sich ab und zu eine deftige Portion Mann.
Nach der Dusche betrachtete sie sich im Spiegel. Wenn ich doch nur etwas mehr Busen hätte, dachte sie zum x-ten Mal. Ihren Bauch fand sie immer noch flach. Den Hintern knackig. Sogar an den Oberschenkeln zeigte sich die Haut glatt und praktisch ohne Leberflecke. Nirgends Speckrollen und kein Ansatz zum Doppelkinn. Eigentlich konnte sie zufrieden sein. „Noch dieses Jahr lasse ich mich operieren“, sagte sie leise zum Spiegel.
Wenn nur nicht diese Angst vor dem Eingriff gewesen wäre, die sie auf diese Weise zu bekämpfen versuchte.
Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Ungläubig schaute sie auf die Uhr im Wohnzimmer. Gerade sieben Uhr morgens. Wer ruft um diese Zeit an?
Sie kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. Die aufgeregte Stimme ihrer Freundin Nadine machte keine Pause: „Cécile, bist du da? Wir haben ihn gefunden! Er sieht genauso aus! Er muss es sein! Erich lebt! Cécile hörst du mich? Sag etwas!“
Nackt, wie sie war, setzte Cécile sich auf den Boden. Schwindel ergriff sie. Sie konnte gar nicht antworten. „Cécile!“, wieder rief Nadine ihren Namen. „Bleib da! Ich bin in fünf Minuten bei dir!“
Als ihre Freundin läutete, saß sie immer noch auf dem Boden. Sie konnte es nicht fassen. Erich lebt, hatte Nadine gesagt. Endlich stand sie auf und tastete sich zur Tür.
Nadine sah sie aus aufgerissenen Augen an. „Du bist ja völlig nackt. Was wenn ein Nachbar geläutet hätte?“
Schnell schob sie Cécile ins Wohnzimmer und holte ihr einen Morgenmantel aus dem Schrank.
Schon zwei Stunden später saßen sie gemeinsam im Zug nach Salzburg. Beide viel zu aufgeregt, um selbst fahren zu können. Nadine hatte ihr inzwischen haarklein erzählt, was sich gestern Abend ereignet hatte.
In Salzburg war ein Komapatient aufgewacht. Offenbar ohne jede Erinnerung. Daher wurde sein Bild in einer Fernsehsendung gezeigt. Die Daten seiner Auffindung passten.
Nadine hatte keine Möglichkeit gehabt, die Sendung irgendwie aufzuzeichnen oder sich eine Telefonnummer zu merken. Alles war viel zu schnell gegangen. Danach hatte sie die ganze Nacht versucht, Cécile zu erreichen.
Einzig, dass diese Klinik in Salzburg lag, wusste sie mit Sicherheit. Dorthin waren sie jetzt unterwegs. Ohne Anmeldung. Nadine war sehr überzeugend gewesen.
Jetzt auf der Reise, meldeten sich die ersten Zweifel bei Cécile. „Wie kommt er nach Österreich?“, fragte sie leise.
„Das weiß ich doch nicht!“, antwortete Nadine. „Aber er ist es. Natürlich ist er abgemagert. Das Bild hat mich wie ein Blitz getroffen. Ich bin sicher“, schob sie noch nach.
„Und er kann sich an nichts erinnern?“, fragte Cécile, nicht zum ersten Mal.
„So etwa haben sie das gesagt: Der Patient hat keine Erinnerung. Sollten Sie ihn erkennen, melden Sie sich bitte bei uns. Ich habe mich so aufgeregt. Bis ich soweit war, um die Telefonnummer aufzuschreiben, war die Sendung schon zu Ende. Nachher habe ich mir gedacht, nach Salzburg ist nicht so weit. Wir fahren einfach hin, dann haben wir sofort Gewissheit.“
Gewissheit; dachte Cécile. Was ist, wenn er mich nicht erkennt? Was tun wir dann? Wie soll das weitergehen?
***
Cécile bezahlte den Taxifahrer, der sie zur Uniklinik gefahren hatte, großzügig in Schweizerfranken. Zum Geldwechseln waren sie noch nicht gekommen.
Erst am Empfang verlor sie die Haltung. Nadine musste nach dem Komapatienten fragen. Cécile fühlte sich inzwischen so nervös, dass sie sich kurz hinsetzen musste. Eine Schwester erschien. Schweigend folgten sie ihr durch die Flure. Cécile ließ sich zitternd an Nadines Hand mitziehen. So erreichten sie einen eher schäbigen Teil der riesigen Klinik. Ein Viererzimmer, Desinfektionsmittel lag in der Luft. Cécile ließ ihren Blick über die Betten schweifen, dann erstarrte sie. Erich. Da lag er.
Schwindel erfasste sie. Irgendwie erreichte sie das Bett. Noch registrierte sie das Gefühl, eine Puppe zu umarmen, die mit reglosen Augen an die Decke starrte. Danach blieb nur noch Dunkelheit, in die sie sich versinken ließ.
„Er ist es“, stöhnte Nadine. „Er lebt.“
Die Schwester kümmerte sich bereits um Cécile, die regungslos auf dem Patienten lag.
Mit leichten Ohrfeigen versuchte sie, sie zurückzuholen. Aber auch Schütteln und Umdrehen half nicht. „Kommen Sie!“, rief sie Nadine zu. „Bringen Sie bitte einen Stuhl!“
Gemeinsam setzten sie die Ohnmächtige hin. Nadine musste Cécile die ganze Zeit festhalten, sonst wäre sie einfach auf den Boden gerutscht.
„Bleiben Sie da. Ich hole etwas“, hörte sie die Schwester sagen, die sich rasch entfernte. Nun versuchte Nadine, ihre Freundin aufzuwecken. „Cécile, hörst du mich? Wach doch auf. Ich bin’s, Nadine!“
Keine Reaktion. Endlich wagte auch Nadine einen Blick auf Erich, der zwar kurz die Augen bewegte, aber nicht in ihre Richtung sah. Nur seine Atmung wechselte plötzlich zu einem anderen Geräusch.
„Erich?“ Vorsichtig sprach sie ihn an. „Erkennst du mich?“ Keine Reaktion.
Die bizarre Situation wurde durch die zurückgekehrte Schwester unterbrochen. Sie schob Cécile eine kleine Tablette unter die Zunge. Wieder begann sie ihr Gesicht zu tätscheln. „Hören Sie mich? Aufwachen, gnädige Frau.“
Nadine musste trotz der ernsten Lage ein Lächeln unterdrücken. Gnädige Frau und Ohnmacht, das passte ganz gut zusammen.
Endlich regte sich Cécile. Sie wollte aufstehen, aber die Schwester hielt sie auf den Stuhl gedrückt. „Bleiben Sie noch ein wenig sitzen, sonst fallen Sie gleich wieder um.“
Cécile gehorchte. Einen Moment lang schien sie nachzudenken, bevor sie sich zu ihrem Erich umwandte.
Geräuschlos begann sie zu weinen.
Nadine reichte ihr ein Taschentuch. Selbst gegen die Tränen kämpfend, weil auch ihr der Zustand des Patienten klar wurde. Er lebte. Das war offenbar schon alles. Wenn er nicht einmal seine Frau erkannte. Das bedeutete dann wohl, dass er überhaupt keine Erinnerungen mehr hatte.
„Kann er sprechen?“, fragte Nadine schließlich die Schwester.
Diese schüttelte nur den Kopf.
„Was kann er noch?“
„Nichts weiter“, lautete die niederschmetternde Antwort. „Seit einigen Tagen hat er die Augen geöffnet. Das ist die erste Veränderung seit Jahren.“
„Denken Sie, dass er Fortschritte machen kann?“
„Das kann man nie sagen. Manchmal geschehen Wunder“, antwortete die Schwester. „ Aber fragen Sie den Professor. Ich bin nur eine Pflegekraft.“
Cécile hatte nur zugehört. Das Allerschlimmste, das sie sich vorgestellt hatte, war eingetroffen. Seltsam klar wusste sie gleich: Er wird nie wieder gesund werden. Trotzdem stand sie jetzt doch auf. Streichelte ihm über die Wangen. „Erich, ich bin’s“, flüsterte sie ihm zu, während ihre Tränen auf sein Gesicht tropften.
***
„Leider kann ich Ihnen keine große Hoffnung machen“, erklärte der Professor, der sie in sein Büro gebeten hatte. „Sein Zustand ist seit Anfang praktisch unverändert. Dass er jetzt die Augen offen hat, ist offensichtlich ein Fortschritt, der uns natürlich freut. Trotzdem kann man nicht von einer wesentlichen Veränderung sprechen.
Viel wichtiger dürfte sein, dass Sie jetzt nicht mehr in dieser Ungewissheit leben müssen. Das bedeutete natürlich eine große Belastung für Sie!“
Cécile sah ihn mit großen Augen an. Kann er wieder gesund werden, Herr Professor?“
Dieser zuckte mit den Schultern. „Alles ist möglich. Es sind schon Komapatienten nach Jahren wieder aufgewacht. Damit zu rechnen ist allerdings bei ihrem Mann ...“ er räusperte sich. „Es ist äußerst unwahrscheinlich. Freuen Sie sich an der Zeit, die Sie mit ihm noch haben. Es könnte auch ziemlich schnell zu Ende sein, aber genauso kann es noch viele Jahre dauern. Er braucht auf jeden Fall intensive ärztliche Betreuung. Blutwerte müssen überwacht und im Gleichgewicht gehalten werden. Seine Ernährung ist jederzeit zu überprüfen. Dazu kommt die äußere Pflege. Es können sich Liegewunden bilden. Das alles ist eine sehr schwierige Aufgabe, die eigentlich nur eine Klinik leisten kann.
Eine richtige Behandlung, im Sinne des Wortes, ist trotz allem Fortschritt nicht möglich.
Darüber sollten Sie sich im Klaren sein.“
„Also gibt es keine Hoffnung“, stellte Cécile fest. „Hoffnung gibt es immer, gnädige Frau. Aber machen Sie sich auf eine schwierige Zeit gefasst. Das ist leider alles, was ich Ihnen mitgeben kann“, antwortete der Professor.
***
Schon seit einigen Stunden saß Cécile nun wieder an seinem Bett. Sie würde das so nicht hinnehmen, überlegte sie. Für diesen Professor war Erich doch nur ein Patient mehr. Dazu noch ein Ausländer. Weshalb sollte er versuchen, ausgerechnet ihm zu helfen. Sicher gab es Mittel und Wege, die noch nicht versucht wurden. Er ist doch nur eine Nummer, dachte sie grimmig. Ein Wunder, dass sie ihn nicht einfach sterben ließen.
Entschlossen beugte sie sich über ihn. „Jetzt bin ich da. Ich lasse dich nicht mehr allein“, flüsterte sie ihm zu.
Erich atmete ruhig und gleichmäßig. Er schläft, dachte sie. Sie hörten ihm noch eine Weile zu, dann stand sie auf.
***
Im Hotel wartete Nadine ungeduldig auf sie. „Ich dachte schon, du bleibst die ganze Nacht.“
„Aber nein“, antwortete Cécile. „Etwas Zeit brauche ich auch zum Ausruhen.“ „Hast du schon überlegt, was du jetzt machen willst?“, fragte Nadine erwartungsvoll. „Ja“, lautete ihre Antwort. „ Ich lasse mir zuhause eine komplette Intensivstation einrichten. Er soll die besten Ärzte bekommen, die es gibt. Ich glaube fest daran, dass er doch wieder gesund werden kann, wenn man ihn nur richtig behandelt.
Ich erinnere mich, schon von Fällen gehört zu haben, die durch intensive Betreuung geheilt werden konnten. Dieser Professor lässt ihn doch einfach nur herumliegen. Wie soll es da Fortschritte geben?“ Cécile regte sich wieder auf.
Nadine versuchte, sie zu beruhigen. „Du wirst schon das Richtige tun. Da mache ich mir keine Sorgen.“
Trotz des anstrengenden Tages konnten beide lange nicht einschlafen. Jede hing ihren Gedanken nach. Cécile fühlte ein aufkeimendes Verantwortungsgefühl für Erich, wie sie es sich als Mutter für Kinder vorgestellt hätte. Die sie niemals haben wollte. Jetzt sollte er es eben bekommen.
Nadine fühlte sich hin und hergerissen. Zwischen gut, dass das nicht mich getroffen hat und Bewunderung für ihre Freundin. Die sich der Herausforderung stellte. Ohne Wenn und Aber.
Der nächste Tag verging, mit Ausfüllen von Formularen, Besuchen am Krankenbett, dazwischen Telefonate und Essenspausen, wie im Flug. Die Heimreise mussten sie um einen weiteren Tag aufschieben.
Erich sollte so schnell wie möglich überführt werden. Cécile wollte in der Ambulanz mitreisen. Nadine blieb nichts anderes übrig, als allein die Bahn zu nehmen.
Die schweizerische Botschaft stellte einen Notpass für Erich aus. Die Ambulanz würde direkt nach Zürich in die Uniklinik fahren können.
Cécile beobachtete Erich genau, während er umgeladen wurde. Wohl zum ersten Mal seit Jahren wieder an die frische Luft gelangte. Aber er zeigte absolut keine Reaktion.
Sie hatte wenigstens auf ein kleines Zeichen gehofft, jedoch vergebens. Möglicherweise konnte sich auf der Fahrt durch die Bewegungen etwas ergeben, tröstete sie sich.
Die Reise dauerte rund fünf Stunden. Unterbrochen durch eine Pause, während der sie versuchte, Erich durch Streicheln und Zureden zu einer Reaktion zu bewegen.
Die mitreisende Schwester hatte sich etwas gesträubt, das Fahrzeug zu verlassen. Aber Cécile hatte darauf bestanden. Diese Gelegenheit wollte sie sich nicht entgehen lassen. Aber alles half nichts.
Als sie am Abend endlich die Uniklinik in Zürich verlassen konnte, war sie völlig erschöpft. Gähnend betrat sich ihre Wohnung. Für einen Moment legte sie sich angezogen auf ihr Bett. Nur, um kurz auszuruhen.
Natürlich erwachte sie am nächsten Morgen noch in ihren Kleidern. Trotzdem saß sie schon eine Stunde später wieder bei Erich.
Er hatte die Reise offenbar gut überstanden. Jedoch an seinem Zustand hatte sich gar nichts verändert.
Für Cécile begann eine intensive Zeit. Täglich mehrmals Besuche in der Klinik. Gespräche mit Ärzten, die Planung und Einrichtung einer privaten Intensivstation, die ihr etwas mehr Ruhe verschaffen sollte.
***
Bereits nach einem Monat konnte Erich nach Hause zurückkehren. Zwei festangestellte Schwestern kümmerten sich tagsüber um den Patienten. Die Nächte übernahm Cécile selbst. Stundenlang versuchte sie jeweils, ihn zu einer Reaktion zu bewegen. Mit Zureden und Streicheln. Einmal pikste sie ihn sogar mit einer Nadel. Alles umsonst, er rührte sich nicht.
***
Leichter Nieselregen in Wien. Kreidel und Dornbach standen als letzte am frischen Grab im Schlosspark.
„Seit 1946 hat er dieses Schloss nicht mehr verlassen“, sinnierte Kreidel. „Und jetzt wird es auch dabei bleiben.“
Dornbach nickte nur. Was für ein Leben, dachte er.
„Er soll einen großen Grabstein bekommen“, fuhr Kreidel fort. „Aus schwarzem Granit.“
„Was willst du darauf schreiben lassen?“, fragte Dornbach. „Doch nicht etwa seinen richtigen Namen?“
Kreidel lächelte. „Er bekommt eine schöne Messingtafel. Hier ruht der Schlossherr. Dann seine Titel. Geburtsdatum 28.04.1900, gestorben 30.04.1991.
Unter der Tafel steht dann sein richtiger Name im Stein: Heinrich Müller. Leiter des Reichsicherheitshauptamtes.
Im Dienst des Führers bis zu dessen letzten Atemzug.“
„Ist das nicht zu riskant?“, fragte Dornbach.
„Bis sich jemand erlaubt, die Messingtafel zu entfernen, wird eine andere Zeit sein“, antwortete Kreidel. „Die Geschichte wird uns irgendwann Recht geben.“
Langsam gingen sie zurück zum Schloss, wo die anderen Trauergäste in kleinen Gruppen herumstanden.
„Jetzt bist du der neue Vorsitzende“, sprach Lorenz, Kreidel an. „Noch bin ich nicht gewählt“, gab dieser zurück.
„Das ist nun wirklich nur eine Formsache“, lächelte Lorenz.
***
Am späteren Abend saßen Kreidel und Dornbach wieder allein im Rauchsalon des Schlosses.
„Die Entwicklung in Kroatien macht dir keine Sorgen?“, fragte Kreidel.
„Auf der Insel bin ich sicher. Falls ich doch verschwinden muss, nehme ich die Jacht. Außerdem bleibt mir noch mein Bunker. Ein paar Tage halte ich da aus“, antwortete Dornbach.
„Du kannst jederzeit nach Österreich kommen, das weißt du“, gab Kreidel zurück. „In Wien haben wir einige schöne Wohnungen. Oder du könntest sogar hier im Schloss einziehen.“
Dornbach grinste. „In diesem Schloss, bis ans Ende meiner Tage.“ „Halt auf jeden Fall die Jacht vollgetankt. Die Lage kann schnell eskalieren“, mahnte Kreidel in ernstem Ton.
Dornbach war anderer Meinung. Weder Panzer noch andere Fahrzeuge konnten das Meer überqueren. Die Inseln würden letzte Zuflucht bleiben. Mit der Jacht schnell zu verschwinden blieb bestimmt möglich. Nach Italien oder auch weiter, da machte er sich keine Sorgen.
Trotzdem wollte er seinen Bunker, der bestens getarnt vom Keller seiner Villa abging, mit einigen Lebensmitteln auffüllen. Dass ich doch noch einen Krieg miterlebe, dachte er. Aber heute ist eine andere Zeit. Ein paar Tage Gefechte, das dürfte wohl alles ein, das die umliegenden Länder und die Großmächte zulassen würden.
Ausgerechnet diesen Sommer, auf den er sich so gefreut hatte, wollte er nicht in Wien verbringen. Was sollte er da den ganzen Tag über machen?
„Mach dir keine Sorgen, Max“, sagte er schließlich zu Kreidel. „Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch.“
***
Die ersten Wochen mit Erich im Haus waren für Cécile eigentlich ziemlich rasch vergangen.
Sie war davon überzeugt gewesen, dass es nur die richtige Pflege brauchte, um ihn ins Leben zurückzuholen.
Vor einiger Zeit hatte sie damit begonnen, ihm jeden Abend aus einem seiner früheren Lieblingsromane vorzulesen. Natürlich zusätzlich zu Streicheleinheiten und den täglichen Berichten über ihre aktuellen Erlebnisse. Sie hatte sich gedacht, dass sein Gehirn irgendwie auf die bekannten Texte reagieren müsste. Ein Muster, einen Namen oder eine Episode, die ihn besonders beeindruckt hatte, wieder erkennen konnte.
Langsam begann ihre Zuversicht zu bröckeln. Was ist, wenn ich in zehn Jahren immer noch an seinem Bett sitze? Das ging ihr einfach so und ohne jede Absicht durch den Kopf. Dann bin ich alt, stellte sie erschrocken fest. Sie straffte sich. „Erich, wach endlich auf!“, sagte sie laut zu ihm. Keine Reaktion. Mit einem lauten Knall schlug sie das Buch zu. „Warum tust du mir das an? Willst du mein Leben zerstören?“, schrie sie ihn an. Hemmungslos begann sie zu weinen. Schlagartig wurde ihr klar. Das würde sie nicht aushalten, ihn jahrelang, ohne den geringsten Erfolg, zu pflegen.
Jetzt schämte sie sich für ihren Ausbruch. „Entschuldige!“, sagte sie zu ihm. „Ich habe es doch nicht so gemeint. Ich liebe dich doch.“
Zärtlich strich sie ihm über die Stirn. Ihre Tränen gepaart mit Hilflosigkeit hatten ihn doch früher stets zum Nachgeben gebracht.
Aber er glotzte wie immer an die Decke.
Cécile zitterte am ganzen Leib. Sie musste sich zurückhalten. Der Wunsch, ihn zu schlagen, überkam sie. Weinend lief sie aus dem Zimmer.
Die ganze weitere Nacht konnte sie nicht schlafen. Immer wieder flossen ihre Tränen. Aus Scham über ihre Worte zu ihm. Vielleicht konnte er doch hören, was sie sagte. Dann würde er jetzt wissen, dass er eine schlechte Ehefrau hatte.
Aus tiefstem Herzen hatte sie ihm doch nur helfen wollen. Ihre Zuversicht hielt dem Druck nicht mehr stand.
In Demut würde sie warten müssen, bis er von selbst aufwachte.
***
Am Morgen danach, beim ersten Blick in den Spiegel, sah Cécile ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Gerötete Augen. Tiefe Falten, die sie noch nie an sich gesehen hatte.
Nach einer sehr heißen Dusche fühle sie sich etwas besser. Auch ihr Gesicht hatte sich größtenteils wieder erholt.
Trotzdem würde ihr die Alte, die sie im Spiegel gesehen hatte, lange im Kopf bleiben.
Zum ersten Mal, seit „Er“ wieder da war, verließ sie die Wohnung, ohne sich zu verabschieden.
Auch dafür schämte sie sich zutiefst. Sie konnte ihn einfach jetzt nicht ansehen.
Dick geschminkt, hatte sie nur abgewartet, bis die Schwester eintraf. Danach verschwand sie einfach.
***
Am Nachmittag rief sie zum ersten Mal wieder ihren Lover an. Ein gutgebauter Spanier. Jesus Mendez, hieß er. Ein Name, der zu ihm passte, wie eine Maschinenpistole zu einer Nonne.
Deutlich jünger als Cécile. Schwarze Haare. Immer braun gebrannt und durchtrainiert. Der klassische Latin Lover.
Wovon er lebte, konnte sie nur vermuten. Irgendwie hatte er etwas mit Fitnessstudios zu tun, wofür er zumindest eine gute Reklame abgab. Das hatte er einmal durchblicken lassen. Für tiefgreifende Gespräche war er kaum geeignet. Aber als Liebhaber, für Cécile mit Abstand der Beste, dem sie sich jemals hingegeben hatte.
Er wollte sie so schnell wie möglich sehen. Gleich heute Abend. Cécile zierte sich erst ein wenig. Erich brauchte Betreuung. Woher sollte sie auf der Stelle eine Nachtschwester bekommen? Jedoch die Worte, die er ihr durchs Telefon zuflüsterte, ließ sie rasch alle Bedenken über Bord werfen. Also sagte sie zu und freute sich ehrlich auf die Nacht.
Wie erwartet, fand sie keine Ablösung für den Nachtdienst. Also entschloss sie sich, Erich einfach allein zu lassen. Warum eigentlich nicht, dachte sie? Wenn ich schlafe, ist er doch genauso ungeschützt.
Wenn sein Herz stehenbleiben sollte, was könnte ich tun? Nichts. Es kann schnell zu Ende sein, hatte der Professor gesagt.
Außerdem erfährt dann auch niemand, dass ich ein wenig ausgehe, fiel ihr ein. Damit liefere ich den Schwestern keinen Grund zum Tratschen, stellte sie schließlich befriedigt, auch noch fest.
Lange überlegte sie, ob sie Erich sagen sollte, dass sie plante, auszugehen? Falls er sie hören und verstehen konnte, würde er sich wahrscheinlich Sorgen machen.
Also besser nichts sagen. Oder höchstens, dass sie rasch etwas erledigen müsse.
Cécile schluckte leer. Wenn er sie sah, in ihrem knappen Kleid, das sie jeweils für ihren Lover trug, wusste er doch sofort, was sie vorhatte. Schließlich war sie immer noch mit ihm verheiratet.
Er kann mich doch nicht sehen, versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Aber sicher konnte sie sich dessen nicht sein. Welch eine Vorstellung, wenn er eines Tages aufwachte und ihr alle diese Dinge vorwarf, die sie ihm in der letzten Zeit angetan hatte?
***
In dieser Nacht brachte Jesus sie zu ungeahnter Ekstase. Noch nie hatte sie so intensiv gefühlt. Das schlechte Gewissen, wie weggeblasen oder gar nicht vorhanden. Auch als er bereits im Bad verschwunden war, durchströmten sie immer noch Wellen reiner Lust. Sie fühlte sich jung und attraktiv. Ihre Nippel ragten groß und hart aus den Brüsten. Sie konnte sie nur ganz kurz anfassen, bis der nächste wohlige Schauer ausgelöst wurde. Allmählich wich die Erregung einer satten Zufriedenheit, die sie ebenso völlig genießen konnte.
Er schlüpfte wieder zu ihr, zog die auf dem Boden liegende Decke über ihre nackten Körper. Cécile schmiegte sich an ihn und wünschte sich, niemals mehr aufstehen zu müssen.
***
Ein paar Stunden hatte sie tatsächlich geschlafen, stellte sie mit Schrecken fest, als sie endlich aufwachte. Draußen war es bereits hell. Und jetzt meldete sich auch das schlechte Gewissen gleich wieder.
So rasch wie möglich, machte sie sich ein wenig zurecht. Ohne ihn zu wecken, verließ sie die Wohnung. Auf der Fahrt kämpfte sie mit ihren Empfindungen. Womöglich war es schlecht, was sie sich erlaubt hatte. Das gestand sie sich ein. „Aber ich habe auch nur ein Leben“, wies sie ihre mahnende, innere Stimme zurück. „Auch ich habe ein Recht auf ein paar schöne Stunden.“ Wenn sie in Zukunft wieder regelmäßiger Sex haben würde, dann könnte sie möglicherweise den Zustand ihrer Beziehung mit Erich, doch durchstehen.
Es könnte wie ein Anker sein, der ihr Halt und Kraft gab, stellte sie sich vor. Trotzdem duschte sie, bevor sie im Bademantel nach Erich sah. Am Vorabend war sie nur kurz bei ihm stehengeblieben. „Ich muss etwas erledigen, schlaf gut!“ Das Einzige, das sie herausgebracht hatte, ohne ins Stottern zu geraten.
Er lag wie immer, reglos da und glotzte an die Decke. Einen Moment lang dachte sie daran, ihm zu erzählen, wie sie die Nacht verbracht hatte. Aber wozu? Wenn sie daraus wirklich die Kraft schöpfen konnte, die sie für seine Pflege brauchte? Dann geschah es zuletzt doch auch für ihn.
Zumindest solange, er ihr keine Zuneigung zeigen konnte, würde sie es wieder tun.
Natürlich nur gelegentlich. Sie brauchte es schließlich nicht wirklich und von Liebhabern abhängig war sie schon gar nicht.
Genau eine Woche hielt sie aus, dann rief sie den Spanier an. Er schien sich zu freuen, während sie irgendwie an eine läufige Hündin dachte.
Wieder trafen sie sich noch am gleichen Abend. Dieses Mal nahm er sich allerdings deutlich weniger Zeit. Cécile fühlte sich nicht völlig enttäuscht. Aber etwas mehr hatte sie doch erwartet. Sie lag reglos auf dem Rücken, während er wie immer, gleich danach in der Dusche verschwunden war.
Er legte sich kurz darauf wieder neben sie, jedoch in deutlichem Abstand. „Warum bist du so lange nicht zu mir gekommen?“, fragte er schließlich. „Hast du einen Anderen gefunden?“
„Es gibt keinen Anderen“, antwortete sie schroff. „Aber es ist etwas passiert. Ich hatte einfach keine Zeit mehr.“
„Keine Zeit für die Liebe?“, gab er zurück.
Cécile zögerte. Sollte sie ihm von Erich erzählen? War er gekränkt und hatte er sie deshalb nur so knapp abgefertigt.
Sie wusste, dass er sich für einen begnadeten Liebhaber hielt. Was er ja auch sein konnte, wenn er wollte.
Es ging dabei keineswegs um Eifersucht, sondern lediglich um seine Potenz.
Also entschloss sie sich, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Nur damit er sie verstehen konnte. Nicht um ihre Sorgen, mit ihm zu teilen. „Mein Mann war jahrelang verschollen“, begann sie.
***
„Wenn ich zu dir komme, denke ich, er sieht mir an, was ich vorhabe. Darum schleiche ich heimlich aus dem Haus“, schloss sie ihre Erklärung.
„Aber er bekommt doch nichts mit?“, antwortete Jesus. „Wenn ich richtig verstanden habe?“
„Trotzdem. Zu hundert Prozent sicher bin ich nicht, auch wenn alle sagen, dass es so ist“, sinnierte Cécile. „Wenigstens kannst du dir das leisten. Eine komplette Intensivstation zu Hause. Die Schwestern. Sonst müsstest du ja die ganze Zeit an seinem Bett sitzen“, stellte er nüchtern fest.
„Was machst du, wenn er doch plötzlich stirbt? Dann war ja alles umsonst?“, fuhr er fort.
Cécile zuckte zusammen. „Er ist mein Mann. Da ist mir egal, was das kostet“, antwortete sie bestimmt.
„Du bist eine tolle Frau“, sagte er anerkennend.
„Findest du? Warum?“
„Weil du dich dermaßen um ihn kümmerst. Du könntest ihn ja einfach in einer Klinik liegen lassen, wie alle anderen.“
„Könnte ich?“, antwortete sie leise. Das Lob freute sie, obwohl sie ihn für völlig oberflächlich hielt. Natürlich hörte sie das dauernd in ihrer Umgebung. Aber von ihm?
Unvermittelt griff er nach ihren Brüsten. Sie stöhnte auf und ließ ihn gewähren.
Gut gelaunt dachte sie auf dem Nachhauseweg an das Erlebte zurück. Also war es richtig gewesen, ihn einzuweihen.
Er hielt sie sogar für eine tolle Frau.
Ohne Probleme konnte er auch eine viel Jüngere bekommen. Also musste sie über etwas verfügen, das ihn besonders reizte.
Was es sein könnte, konnte sie sich allerdings nicht vorstellen.
Bis ihr plötzlich einfiel, dass sie ihm bisher sehr bewusst verschwiegen hatte, wieviel sie besaß.
Bisher. Er hatte nicht erstaunt gewirkt, als sie über die Einrichtung einer ganzen Intensivstation gesprochen hatte. Eine böse Ahnung überfiel sie.
Andererseits, er befriedigte sie absolut vollkommen. Das konnte doch nur funktionieren, wenn der Mann richtig geil auf eine Frau ist, dachte sie trotzig.
Auf jeden Fall würde es nicht so gut klappen, wenn er mich abstoßend fände.
Und heute Nacht, das zweite Mal. Das hatte ihm auch Spaß gemacht. Zweifellos.
***
Erst kurz bevor sie wieder ihr eigenes Haus verließ, sah sie nach Erich. Dieser lag genauso da, wie immer.
Die Schwester erschien pünktlich. „Irgendetwas Besonderes, in dieser Nacht?“, fragte sie.
Cécile schüttelte irritiert den Kopf. „Er hat eine ruhige Nacht hinter sich“, antwortete sie, nach kurzem Nachdenken.
„Bringen Sie ihn heute wieder in den Garten?“, fragte Cécile noch nach, um Interesse zu zeigen.
„Aber selbstverständlich!“, antwortete die Schwester erstaunt. „Wie immer, nach der Bewegungstherapie. Die Sonne tut ihm gut. Er hat ja sogar etwas Farbe bekommen.“ Cécile schämte sich. Das war ihr noch gar nicht aufgefallen. Diese Schwester kümmerte sich wirklich ernsthaft um ihren Mann.
Auf jeden Fall besser, als sie selbst.
Schließlich bezahle ich sie auch dafür, dachte Cécile trotzig. Aber gegen den schalen Geschmack im Mund half das nicht.
Auf der Fahrt ins Büro dachte sie über ihr Verhalten nach. In solchen Momenten wollte sie sich ändern. Aber wenn die Zeit kam, dann wurde die Gier nach Sex einfach übermächtig.
Ich brauche das, wiederholte sie für sich. Sonst halte ich die Situation nicht durch. Nicht zum ersten Mal schlich sich der Gedanke ein, wenn er doch bald sterben könnte?
Könnte, nicht müsste. Diesen Unterschied fand sie sehr wichtig.
Empfand er möglicherweise Schmerzen? Dann wäre es doch eine Erlösung für ihn.
Im Büro lösten andere Gedanken die Grübelei rasch ab. Irgendwie gewöhnte sich Cécile sogar an diesen ewigen Diskurs mit sich selbst.
***
An diesem Abend sah sie zuerst nach Erich, bevor sie sich umzog. Wirklich, eine leichte Bräunung hatte seine bisher so blassen Wangen überzogen. Er sieht nicht mehr wie eine Leiche aus, schoss ihr durch den Kopf. Wann hatte sie ihn eigentlich zuletzt genau angesehen? Schon einige Zeit her, dachte sie, sonst müsste mir das aufgefallen sein.
Sein Geglotze ließ sich einfach kaum ertragen, wandte sie ein, bevor sich ihre innere Stimme mit Vorwürfen melden konnte.
Ihre beste Freundin, Nadine, hatte sich für diesen Abend angemeldet. Nur zum Quatschen, hatte sie gesagt. Seit Erich im Haus lag, hatten sie sich nicht mehr so oft gesehen, wie früher. Irgendwie bemühten sie sich, das wieder zu ändern. Jedoch blieb das Thema einfach immer das Gleiche: immer Erich und noch einmal Erich.
Kaum hatte Nadine das Haus betreten, ging es gleich wieder los. „Wie du das nur schaffst? Ich bewundere dich“, seufzte sie.
Cécile stand kurz davor, sie anzuschreien. Beherrschte sich jedoch. „Nadine, hör zu!“, sagte sie schließlich ganz ruhig. „Ich kann das einfach nicht mehr hören. Was weißt du davon, wie ich mich wirklich um ihn kümmere?“
Ihre Freundin blieb für einen Moment sprachlos.
„Du spinnst!“, antwortete sie schließlich. Ich sehe doch, wie du dich aufopferst.“
Cécile schüttelte den Kopf. „Hör bitte auf damit. Ich bin nicht so gut, wie du denkst.“ „Aber du bist doch jeden Tag bei ihm? Man sieht dich nie mehr am Abend. Wann hast du dir das letzte Mal freigenommen?“, antwortete Nadine verdutzt.
„Ich bin nicht immer da. Ich habe einen Lover“, gab Cécile zurück.
„Du hast was? Einen Lover? Erzähl ...“
Jetzt war es heraus. Das hatte sie doch niemandem anvertrauen wollen. Nadine begann sofort zu bohren. „Wie sieht er aus? Seit wann?“ Alles wollte sie haarklein wissen. Schon bald wurde aus dem Abend, einer wie früher. Sie tranken und lachten. Zur Sicherheit soweit wie möglich weg, von Erichs Zimmer.
Beide froh darüber, endlich wieder einmal von etwas anderem reden zu können. Ihre Freundschaft hatte kurz vor dem Aus gestanden, das fühlten sie beide.