Читать книгу Verfluchtes Erbe - T.D. Amrein - Страница 6
4.Kapitel
ОглавлениеGrübelnd saß Krüger an seinem Schreibtisch. Der Blumenstrauß auf dem Nebentisch deprimierte ihn noch zusätzlich. Trotzdem ließ er ihn stehen.
In Gedanken erlebte er noch einmal die Beerdigung seiner Praktikantin. Wie er sich dazu durchgerungen hatte, doch hinzugehen.
Vor der Begegnung mit ihren Eltern hatte er richtig Angst gehabt. Nicht eine Angst wie vor einer realen Gefahr. Er hatte Atemnot bekommen. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
Wortlos hatte er deshalb die Hand ihrer Mutter ergriffen. Sie umarmte ihn. Krüger blieb einen Moment fassungslos. Wusste die Frau denn nicht, wer vor ihr stand?
„Sie waren ihr Chef“ sagte sie leise zu ihm.
Also wusste sie es doch.
„Ich bin gefahren“, schluchzte er zurück. Die Tränen ließen sich jetzt nicht mehr aufhalten. „Ich schäme mich so“, brachte er noch heraus.
„Der Herr hat sie uns gegeben und wieder genommen“, antwortete sie. „Sie trifft keine Schuld“.
Das hatte Krüger tief beeindruckt. Natürlich hatte er an ihrem Tod Schuld, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Er selbst war nicht religiös. Eine Kirche betrat er höchstens bei Beerdigungen oder bei Hochzeiten. Trotzdem wurde ihm ein Teil der Last genommen. Wie gut, dass er sich der Mutter gestellt hatte.
Die Sitzungen bei der Psychologin hatten ihm dagegen kaum geholfen, dachte er. Obschon irgendwie der dumpfe Schmerz, der ihn ständig begleitete, langsam nachließ.
Gegen das Krankenhaus lief ein Verfahren. Wie sich abzeichnete, kam einer dieser Krankenhauskeime als Ursache in Frage.
Endlich kramte Krüger die Akte Obermann wieder einmal aus der Schublade. In seiner Abwesenheit hatte sie noch ein Stück an Umfang gewonnen: Die Obduktion von Heiko Stohler hatte den Messerstich als alleinige Todesursache ergeben.
Allerdings war Heiko nicht süchtig gewesen, wie Krüger vermutet hatte.
Der lange Bericht der Spurensicherung vom Tatort brachte kaum brauchbare, neue Erkenntnisse. Vieles in der Wohnung konnte man gar nicht mehr untersuchen. Der Abfall lag teilweise seit Jahren herum. Haare von vielen verschiedenen Menschen. Dazwischen auch Hundehaare. Fingerspuren in Mengen, die sich nicht mehr zuordnen ließen.
Offenbar hatte auch einige Zeit ein weibliches Wesen in der Wohnung gelebt. Alte Kosmetik und etwas Damenunterwäsche ließen den Schluss zu. Ein Staubsauger war jedoch nicht vorhanden. Die letzte Reinigung der Wohnung musste Jahre her sein.
Nur die Tatwaffe, trug nebst denen des Opfers frische Fingerspuren. Leider nur verwischte. Und die konnten auch vor der Tat auf das Messer geraten sein.
Ein neues Protokoll über die Vernehmung des Sohnes von Frau Obermann, dem Anwalt, weckte Krüger aus seiner Lethargie. Nach dessen Aussage hatten die Erben gemeinsam auf den Nachlass verzichtet.
***
Kanzlei Walter Obermann. In scharf gestochener Schrift, stand auf dem altmodischen Messingschild, zu lesen, vor dem Krüger bald darauf stand. Kein Hinweis, um welche Art Kanzlei es sich handelte, dachte Krüger. Das fand er doch etwas seltsam. Dreimal hatten sie sich bereits getroffen: in der Wohnung der Mutter, in Walter Obermanns eigener Bleibe und in Krügers Büro.
Um sein Bild zu vervollständigen, wollte Krüger nun auch Obermanns Arbeitsort sehen. Bei Zeugen, die nicht nur etwas gesehen hatten oder ganz zufällig beteiligt waren, ging Krüger oft auf diese Weise vor. Er sagte sich, dass jemand, der einen bestimmten Eindruck auf ihn machen wollte, kaum daran dachte, dies in jeder möglichen Lebenssituation durchzuziehen.
Der Anwalt öffnete persönlich. „Guten Tag, Herr Kommissar. Haben Sie etwas Neues?“, fragte er gleich.
Krüger erwiderte den Gruß. „Leider noch nicht. Aber ich habe noch einige Fragen.“ „Noch mehr Fragen?“, stöhnte Obermann.
Krüger beobachtete ihn genau. Er wirkte eher genervt als erschrocken. „Kommen Sie“, forderte Obermann ihn auf. „Bringen wir es hinter uns“.
Krüger sah sich kurz um. Antike Möbel. Einige echte Gemälde. Alles andere als die Wohnung seiner Mutter.
„Kaffee?“, fragte Obermann, während er auf eine gemütlich wirkende Sitzecke deutete. Krüger lehnte dankend ab. Er wollte dem zu Vernehmenden, keine Zeit zum Nachdenken lassen.
„Also, womit kann ich dienen?“, fragte der Anwalt, nachdem sie beide, Platz genommen hatten.
„Ein Kollege hat Sie kürzlich befragt. Zum Tod von Heiko Stohler“, begann Krüger. „Ich selbst konnte mich einige Tage nicht persönlich um den Fall kümmern. Aber ich habe das Protokoll gelesen. Darin steht, dass Sie auf das Erbe Ihrer Mutter verzichten?“
„Ach so“, antwortete Obermann. „Das hätte ich mir ja denken können, dass Sie das beschäftigt“.
„Inwiefern?“, fragte Krüger.
„Weil das auf ein Motiv hinweisen könnte“, antwortete Obermann.
„Ein Motiv“, gab Krüger zurück. „Sie werden doch gar nicht verdächtigt?“ „Woher weiß ich das?“, antwortete der Anwalt. „Es wäre doch naheliegend, dass die Erben ihre Anzahl verkleinern wollten, um die Anteile zu erhöhen. Oder nicht?“
Krüger konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „So einfach sind wir nun auch wieder nicht gestrickt“, gab er zurück. „Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Sie etwas verbergen wollen. Etwas, das auf keinen Fall ans Licht kommen soll“, fuhr Krüger fort. „Falls Sie Recht haben sollten“, antwortete Obermann. „Dann erwarten Sie doch nicht wirklich, dass ich Ihnen darauf antworte?“
„Ich habe zwei Morde aufzuklären“, stellte Krüger fest. „Ich kann nicht auf jedermanns Befindlichkeiten Rücksicht nehmen.
Wie gesagt, ich verdächtige Sie nicht. Aber Sie könnten mir trotzdem helfen, den richtigen Täter zu finden. Das sollte doch auch in Ihrem Interesse liegen? Oder nicht?“, passte sich Krüger an.
Obermann schwieg.
„Wollen Sie denn gar nicht wissen, wer Ihre Mutter umgebracht hat?“, hakte Krüger nach.
„Der Mörder meiner Mutter heißt Heiko Stohler“, antwortete der Anwalt. „Daran besteht für mich absolut kein Zweifel. Er hat seine verdiente Strafe bekommen. Von wem auch immer. Selbst wenn ich mich dadurch belasten sollte: Ich bin froh darüber.“
„Was macht Sie so sicher?“, wollte Krüger wissen.
„Er war ein Strolch. Ein Nichtsnutz“, ereiferte sich Obermann. „Ständig hat er Mutter um Geld angegangen. Obschon er genau wusste, dass sie selbst nichts zu verschenken hatte.
Wie oft haben wir versucht, ihm eine leichte Arbeit zu vermitteln. Alles hat er vermasselt. Er erschien nie zur rechten Zeit am Arbeitsplatz. Bei Gelegenheit hat er die Kaffeekasse mitgehen lassen. Nur Ärger hat er gebracht.“ „Das macht ihn noch nicht zum Mörder“, warf Krüger ein. „Natürlich nicht“, antwortete Obermann. „Ich denke, dass er irgendwie mitbekommen hat, dass Mutter etwas besitzt, das er erben könnte.“ „War das denn nicht bekannt?“, fragte Krüger.
„Nein“, antwortete der Anwalt. „Keiner von uns hat darüber Bescheid gewusst.“ „Und der Diamantring?“ Krüger sah ihn eindringlich an. „Der soll doch echt und sehr wertvoll gewesen sein.“
Obermann lachte auf. „Das war so eine Familiensage. Einfach nicht totzukriegen. Dieser Ring bestand aus Glaskristall. Ein paar Mark wert, wenn es hochkommt. Wer dieses Gerücht vor Jahren in Umlauf gesetzt hat, lässt sich natürlich nicht mehr herausfinden.“ „Zumindest Ihre Schwester schien jedoch davon überzeugt. Sie hat uns einen Wert von zwanzigtausend Mark angegeben“, stellte Krüger trocken fest.
„Ja, das war nicht sehr klug von ihr“, antwortete der Anwalt. „Wir haben darüber gesprochen. Sie hat das wirklich geglaubt.“
„Wann haben Sie darüber gesprochen?“, wollte Krüger wissen. „Schon vor oder erst nach dem Tod Ihrer Mutter?“
„Ernsthaft, erst danach“, antwortete Obermann.
„Und sie hat Ihnen geglaubt?“, fuhr Krüger fort.
„Ich denke, ja.“
„Und der Neffe? Heiko. Hat er von dem Ring gewusst?“
„Das er nicht echt war? Ja, natürlich. Sonst hätte er ihn schon lange geklaut. Darauf können Sie sich verlassen.“
Der Anwalt stutzte. „Sie halten es für möglich, dass er wegen des Rings ...“
„Immerhin hat ihn der Täter offenbar mitgehen lassen“, antwortete Krüger. „Ja. Aber natürlich nur, um einen Raubmord vorzutäuschen“, entgegnete Obermann bestimmt.
Krüger bevorzugte eher eine andere Variante.
Er wollte jedoch lieber die Situation nutzen, als sich mit ihm um Details von Spekulationen zu streiten. Da Obermann bisher alle Fragen bereitwillig beantwortet hatte, schien Krüger die Gelegenheit günstig, das Gespräch einfach fortzusetzen. „Warum also haben Sie das Erbe abgelehnt?“, fragte er fast beiläufig. „Netter Versuch“, erhielt er zur Antwort.
„Ich bitte Sie“, sagte Krüger scheinbar entschuldigend. „Weshalb sollte das ein Geheimnis sein? Ich mache mir keine Notizen, wie Sie sehen. Ich brauche nur mehr Informationen um den Fall, oder besser gesagt, die Fälle lösen zu können.“ „Das hat mit den Fällen nichts zu tun“, trotzte Obermann. „Das kann ich nicht einfach so ausschließen“, antwortete Krüger. „Wenn Sie mich davon überzeugen wollen, dann versuchen Sie es. Sonst muss ich das auf andere Weise herausfinden, auch wenn ich gar nicht möchte.“
„Was habe ich davon, wenn Sie über meine privaten Gründe Bescheid wissen?“, gab Obermann zurück.
„Dann könnte ich Sie möglicherweise bald wieder in Ruhe lassen“, stellte Krüger in Aussicht.
Eine längere Pause entstand.
Obermann schien tatsächlich über das Angebot nachzudenken.
„Ein Versprechen?“, fragte er plötzlich.
Jetzt war es an Krüger, kurz nachzudenken. „Ein Versprechen kann ich nur geben, wenn es für die Ermittlung tatsächlich keine Rolle spielt“, antworte er.
„Es spielt keine“, beharrte Obermann. „Trotzdem! Ihr Wort ohne Wenn und Aber. Sonst sage ich nichts.“
Beide schwiegen. „Kaffee?“, fragte der Anwalt schließlich erneut. Krüger nickte. „Bitte!“
Der Kommissar nutzte die Zeit zum Überlegen, die, wie er eingestehen musste, geschickt von Obermann zur Verfügung gestellt wurde. Was konnte er denn verlieren? Andererseits schien der Anwalt daran zu glauben, dass er sein Wort halten würde. Natürlich würde er es halten.
Schweigend rührte er seinen Kaffee um, bevor er Obermann in die Augen sah. „Also gut. Ich gebe Ihnen mein Wort“, sagte er, ohne mit dem Umrühren aufzuhören.
„Dieses Erbe“, begann der Anwalt, „hat meinen Eltern nie wirklich gehört. Mein Vater war nur Strohmann. Kurz vor seinem Tod hat er mich gewarnt, dass auf seinen Namen fremdes Vermögen registriert sei. Das ich auf keinen Fall beanspruchen solle. Diese Leute sind gefährlich. Lass die Finger davon. Das waren seine Worte.
Ich habe es versprochen und wollte es auch so halten. Eines Tages erschien ein Herr in meiner Kanzlei, der mich in einer persönlichen Angelegenheit sprechen wollte, wie er vorgab. Offenbar sollte er herausfinden, was ich wusste.
Er nannte mir die Adressen von zwei Liegenschaften und wartete auf meine Reaktion. Diese Adressen sagten mir gar nichts. Ich fragte ihn, was er damit bezwecke?
Noch nie gehört, bohrte er weiter.
Nein. Nie, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Es könnte sein, erklärte er mir, dass durch einen Fehler in früheren Tagen, diese und weitere Grundstücke auf den Namen meines Vaters eingetragen worden seien. Nur ein Versehen, das bis jetzt noch niemand bemerkt habe.
Die tatsächlichen Besitzer wollten die Angelegenheit möglichst ohne Aufsehen regeln. Nach dem Tod meiner Mutter würde er mir ein Testament vorlegen, worin meine Mutter die Erben um den Verzicht auf alle Vermögenswerte bitten würde.
Als Testamentsvollstrecker solle eine unbeteiligte Person eingesetzt werden. Ein Anwalt, den sie, also meine Mutter, damit beauftragt habe, den Nachlass in ihrem Sinne verwalten. Alle Erben, sollten danach eine großzügige Entschädigung erhalten, wenn sie ihren letzten Willen geachtet hatten. Natürlich war ich wütend und wollte den Kerl sofort rauswerfen. Plötzlich hielt er jedoch eine Pistole in der Hand und zwang mich, ihm weiter zuzuhören.
Wenn sie nicht darauf eingehen, wird ihr Leben sehr schwierig werden, drohte er mir.
Ihre Eltern haben nie etwas besessen. Die Entschädigung ist mehr als großherzig, also akzeptieren sie einfach. Und dieses Treffen hat natürlich nie stattgefunden, sie werden über alles Stillschweigen bewahren. Unser Arm ist lang. Wir finden sie überall, vergessen sie das nicht.
Dann zog er sich zurück. Rückwärtsgehend. Er hielt mich die ganze Zeit mit der Pistole in Schach, so dass ich nichts tun konnte.“
Krüger hatte aufmerksam zugehört. Die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, unterdrückt, bis der Anwalt geendet hatte. „Also haben Sie schließlich die Sache akzeptiert“, stellte er nun fest.
„Was blieb mir anderes übrig?“, antwortete Obermann. „Mein Leben ist ja in Ordnung. Ich verdiene genug, wozu sich in Gefahr bringen. Außerdem weiß ich auch von meinem Vater, dass dieses Vermögen wirklich nicht uns gehörte.“
„Aber die anderen Erben?“, hakte Krüger nach. „Waren die auch einverstanden?“ „Niemand außer mir wusste etwas von diesem Besitz. Die Aussicht auf eine Entschädigung hat schnell gewirkt, wie geplant.“
„Und dieses Testament wurde tatsächlich vorgelegt?“, fragte Krüger weiter.
„Es lag vor einiger Zeit in meinem Briefkasten“, antwortete Obermann. „Ohne Briefmarken auf dem Umschlag. Es wurde überbracht.“
„Dieser Anwalt war sich also ziemlich sicher, dass Sie darauf eingehen würden“, sinnierte Krüger. „Wann fand denn dieses erste Treffen statt?“, fragte er weiter.
„Das ist schon einige Jahre her“, antwortete Obermann. „Einige Jahre?“, staunte Krüger. „Und nie ein weiterer Kontakt?“
„Nein. Nur die Geburtstagskarten“, gab der Anwalt zur Antwort. „Geburtstagskarten?“, fragte Krüger ungläubig.
„Ja. An jedem Geburtstag erhalte ich eine Karte ohne Absender. Jemand wünscht mir ein weiteres ruhiges Jahr, mit lieben Grüßen an meine Mutter. Der ich stets jeden Wunsch erfülle, wie es sich für einen guten Sohn gehört!“, erklärte Obermann. „Haben Sie diese Karten aufbewahrt?“, fragte Krüger.
„Nein, ich verbrenne sie immer gleich“, antwortete Obermann. „Das war mein Geheimnis, dass Sie wie versprochen für sich behalten werden“, fuhr er fort. „Sie können sich denken, dass ich sonst in größte Schwierigkeiten komme.“
„Sie können sich darauf verlassen“, antwortete Krüger. „Ich werde nichts davon notieren oder verwenden, wie versprochen.“
Dass er selbst, jedes Jahr eine solche Karte erhielt, erwähnte er natürlich nicht.
Erst auf der Rückfahrt hatte er Zeit, die neuen Informationen zu ordnen. Er erinnerte sich an die Hilflosigkeit, die ihn erfasst hatte, als die erste Karte in seinem Briefkasten gelegen hatte. Eine besonders perfide Art, eine Drohung wach zu halten. Ob er der Einzige war, der auf diese Weise bedroht wurde, darüber hatte er nie wirklich nachgedacht. Und jetzt traf er einfach so, auf einen Leidensgenossen.
Im Büro wurde er bereits ungeduldig erwartet. Der Stimmenvergleich, den er veranlasst hatte, ergab zweifelsfrei, dass die anonyme Anruferin die Schwester von Anwalt Obermann gewesen war. Krüger hatte insgeheim gehofft, damit nicht Recht zu haben.
Der Anwalt, bei dem er ja gerade gewesen war, wusste offenbar nichts davon. Sonst hätte er sich anders verhalten. „Sollen wir die Dame gleich abholen?“, fragte ein Kollege vom Bereitschaftsdienst.
Krüger dachte kurz nach. „Wir geben ihr noch vierundzwanzig Stunden. Sie kann sich selbst stellen“, antwortete er schließlich.
„Und wenn sie flieht? Den Haftbefehl bekommen wir sofort, das ist keine Frage“, bohrte der Kollege weiter.
„Sie wird nicht fliehen“, beruhigte Krüger.
„Wenn Sie sich dessen sicher sind, Herr Kommissar. Ja dann.“
Enttäuscht zog er ab. Krüger griff zum Telefon und wählte die Nummer des Anwalts Obermann.
***
Am nächsten Morgen erschien der Anwalt mit seiner Schwester Margarete Obermann auf dem Polizeirevier und verlangte umgehend nach Hauptkommissar Krüger.
Sie legte ein umfassendes Geständnis ab. Sie gab zu, Heiko Stohler im Streit mit einem seiner eigenen Küchenmesser erstochen zu haben.
Als Grund führte sie an, dass er ihr den verschwundenen Ring ihrer Mutter zum Kauf angeboten habe.
Diesen Ring hatten die beiden mitgebracht. Womit auch an der Schuld Stohlers, kaum noch Zweifel offen blieb.
„Erstaunlich, wie sich manche Fälle entwickeln“, sagte Krügers Chef, nachdem er den Bericht kurz angesehen hatte. „Was hat sie bewogen, sich zu stellen?“
„Sie konnte wohl damit nicht leben“, antwortete Krüger unschuldig. „Das wird sich sehr positiv auf ihre Strafe auswirken“, stellte der Chef fest. „Und uns erspart es viel Arbeit, schön.“ Er sah Krüger fragend an: „Woran arbeiten Sie zur Zeit sonst noch? Sind Sie ausgelastet?“
„Damit bin ich eigentlich im Moment praktisch arbeitslos“, antwortete Krüger mit einem Schulterzucken.
„Sehr gut“, lobte sein Chef. „Dann können Sie ja Ihren Jahresurlaub gleich nehmen.“ „Urlaub? Welchen Urlaub?“ Krüger schüttelte den Kopf. „Das passt mir zurzeit aber gar nicht. Ich habe nichts geplant, so kurzfristig.“
„So wie immer, nicht wahr?“, erhielt er zur Antwort. „Ich möchte Sie in den nächsten vier Wochen hier nicht mehr antreffen.“
„Vier Wochen!“, japste Krüger. „Das ist völlig unmöglich. Ich muss doch die Berichte noch fertigstellen, Details abklären ...“
„Vier Wochen. Natürlich geht das“, beharrte sein Chef. „Wenn Sie wollen, betrachten Sie es als dienstliche Anweisung.“ „Drei“, versuchte Krüger.
Der Chef zog die Brauen hoch. „Hier ist kein Basar. Außerdem habe ich, im Gegensatz zu Ihnen, noch zu arbeiten. Alle weiteren Details klären wir bei unserem nächsten Treffen in frühestens vier Wochen.“ Er betonte das „frühestens“ besonders. Krüger blieb nichts anderes, als sich zu fügen.
Den Rest des Tages ordnete er nur noch seinen Schreibtisch und überlegte sich, was er denn nun mit diesem Urlaub anfangen sollte.
In Frankfurt bleiben kam nicht in Frage. Das Einzige, das er schon zu Anfang sicher wusste.
Ans Meer, einfach so? Das passte nicht zu ihm. Zwar, jetzt in der Vorsaison, dürfte es noch relativ ruhig sein. Aber trotzdem.
Mit dem Bodensee verband er gute und schlechte Erinnerungen.
In die Berge zog es ihn auch nicht besonders. Du bist eigentlich ein richtiger Langweiler, überlegte er. Kein Wunder, dass es keine mit dir aushält.
Vera brachte ihm einen Kaffee, ohne das er danach verlangt hatte. „Nett von dir“, sagte er anerkennend. „Du weißt besser als ich, was ich brauche.“
„Es ist einfach jetzt Zeit dafür“, gab sie zurück, während sie ihm die Tasse auf den Schreibtisch stellte.
Er musterte sie kurz. Eigentlich auch eine Frau, bei der sich ein Versuch lohnen könnte, dachte er.
Bis ihm einfiel, dass sie mehr als zehn Jahre nach ihm auf die Welt gekommen war. Die würde sich hüten, sich mit einem alten Knacker...
„Hast du noch einen Wunsch?“, fragte sie. Natürlich hatte sie seinen taxierenden Blick bemerkt.
„Nein! Nur, äh, ich muss Urlaub nehmen“, brachte er schließlich heraus. „Ich weiß“, antwortete sie nur.
„Du weißt? Ach so, natürlich. Das Buschtelefon.“
Sie lächelte kurz. „Ich muss das wissen. Wie sollte ich sonst die Termine einteilen?“ „Ja. Klar“, antwortete Krüger.
Sie blieb immer noch stehen. „Wenn ich nur wüsste, was ich während vier Wochen machen soll?“, seufzte er.
Jetzt lachte sie laut auf. „Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Dass ich einen ganzen Monat Ferien bekomme und keine Ahnung habe, was ich machen soll.“ „Was würdest du denn machen?“, fragte er so beiläufig, wie möglich. „Baden, sonnen. Mit meinen Freundinnen ausgehen. Für diese Zeit würde ich sogar ins Ausland fahren. Die Freiheit genießen. Ach, ich könnte auch zwei Monate“, geriet sie ins Schwärmen.
„Hm“, brummte Krüger über die Tasse.
„Meer, Sand“, fuhr sie fort. „Neue Orte, andere Kulturen.“ „Was ist mit neuen Männern?“, konnte sich Krüger nicht verkneifen.
Sie stutzte. Ein wenig Farbe schoss in ihr Gesicht. „Ja, das auch“, gab sie zu. Drehte sich um und verschwand.
Freiheit, überlegte Krüger. Freiheit ist das Gegenteil von ... Er brauchte einen Moment, um ein Wort zu finden. Von eingesperrt? Oder? Nein, von Gefangenschaft.
Nachdenklich sah er sich in seinem Büro um. Möglicherweise hatte sie ihm doch geholfen.
***
Noch am gleichen Abend packte er seinen abgegriffenen Lederkoffer. Viel wollte er nicht mitnehmen. Andererseits wie sollte er dann Wäsche für einen ganzen Monat dabeihaben.
Er beschloss, sich einfach unterwegs immer das Notwendige zu kaufen. Damit konnte er gleich noch seine Garderobe komplettieren. Viel Brauchbares besaß er ohnehin nicht mehr, seit Nadja ihm nichts mehr kaufte.
Wie befürchtet. Sobald er nicht mehr arbeiten durfte, tauchte Nadja auf. Die eine wie die andere. Grübeln über seine Beziehungsunfähigkeit oder über seine Fahrkünste? Krügers Brust wurde eng.
Sollte er jetzt wieder nur noch auf seinen Katastrophen herumkauen? Besser wieder einmal ausgehen. Ein oder zwei Bier konnte er sich leisten.
Warum nicht? Wen könnte das interessieren, wenn er morgen nicht aufstand, fiel ihm ein. Es musste doch möglich sein, dass er wieder ganz normal auf ein Bier ging, ohne sich gleich sinnlos zu besaufen.
Ein Ziel für diesen Urlaub. Wieder normal trinken zu lernen. Vorsichtshalber besuchte er ein Lokal, in dem er noch nie gewesen war.
Allein an einem Tisch sitzend, dachte er krampfhaft darüber nach, wie er den morgigen Tag verbringen wollte. Um die drückenden Gedanken zu verscheuchen. Einmal losfahren. Zum Bodensee, deutsche Seite. Dann sehe ich weiter. Angeln und Wandern. Ein einfaches Hotel zum Übernachten. Zu Fuß gehen. Seine Kondition hatte ohnehin deutlich nachgelassen.
Wieder einmal einen ganzen Tag über Berge und Täler streifen. Insgeheim gestand er sich ein, dass er auch im Urlaub offenbar nur Sinnvolles tun wollte. Aber einmal bleibe ich einige Stunden einfach auf einer Bank sitzen, nahm er sich fest vor.
Sein erstes Bier stand leer vor ihm. Mit einem Wink orderte er ein Neues. Wie gut dieser erste Schluck geschmeckt hatte, unglaublich.
Wann war ich zum letzten Mal in einem Museum? Als Junge hatte er sich doch für Archäologie interessiert. Ägypten. Die Pyramiden. Oder sogar die illegalen Schatzsucher in Deutschland, die ab und zu für Schlagzeilen sorgten. Das wäre doch was für die Bildzeitung, dachte er: Hauptkommissar bei illegaler Ausgrabung erwischt. Seine Laune besserte sich. Noch einen Kurzen, dann Schluss für heute.
Er fühlte sich richtig stolz, als er das Lokal verließ. Er hatte es geschafft, rechtzeitig aufzuhören. Jetzt wusste er, dass es möglich war, die Sauferei zu kontrollieren.
Er würde sein Leben wieder in den Griff bekommen. Die Probleme lösen, nicht bloß verdrängen.
Bis auf Nadja Siller. Das ließ sich nicht mehr lösen.
Von der Psychologin hatte er gehört, dass Überlebende von großen Unglücken sich immer die Frage: „Warum bin ich am Leben“, stellten. Es gibt keine kollektive Schuld. Es ist einfach Schicksal, hatte sie gesagt.
In seinem Fall traf das natürlich nicht zu. Er hatte nicht aufgepasst. Wenigstens musste sie nicht mit entstelltem Gesicht durch die Welt laufen, fiel ihm ein. Sofort schämte er sich für diesen Gedanken.
***
Kurz vor Mittag erreichte er Lindau. Er hatte erstaunlich gut geschlafen. Möglicherweise konnte er doch noch lernen, mit seiner Situation umzugehen.
Wie vorgenommen, stellte er sein Auto ab und besuchte zu Fuß die Insel. Mehrere Stunden streifte er herum. Schon beim ersten Versuch, gelang ihm, ein Zimmer für zwei Tage mieten. In einer Pension auf der Insel. Zimmer mit Seeblick in einem echt historischen Bürgerhaus.
Der erste Urlaubstag war perfekt verlaufen. Auch für das Abendessen fand er ein gemütliches Restaurant. Er bestellte ein üppiges Fleischgericht mit einem halben Liter Rotwein dazu. Zuletzt gönnte er sich einen Schnaps.
Ohne Probleme konnte er danach mit dem Alkohol gleich wieder aufhören. Wie früher, noch vor der Zeit mit Nadja. Alles schien vollkommen. Schade nur, dass er es mit niemandem teilen konnte.
***
Über Nacht hatte das Wetter umgeschlagen. Krüger blieb zuerst lange beim Frühstück sitzen, danach spazierte er aufs Neue durch die engen Gassen, Lindaus. Natürlich ohne Regenschirm. An sowas hatte er nicht gedacht, beim Packen. Ein Mann brauchte eigentlich gar keinen Schirm, dachte er sich. Ist eher für Weicheier.
Schon nach wenigen Minuten sickerte ihm das Regenwasser in den Kragen. So hatte er sich das doch nicht vorgestellt. Ideales Wetter für einen Museumsbesuch, ging ihm durch den Kopf.
Dass er in Lindau so viele Museen finden würde, hätte er nicht erwartet. Den ganzen Tag strich er zwischen Gemälden und antiken Möbeln herum. Dazwischen gönnte er sich ein Bier. Die Zeit verging wie im Flug. Abends leistete er sich wieder ein üppiges Essen mit einem Glas Wein.
Müde vom Tag schlief er die ganze Nacht, ohne auch nur ein einziges Mal aufzuwachen.
Leider stand sein Zimmer nicht länger zur Verfügung. Auch die übrigen Pensionen und Hotels in Lindau waren völlig ausgebucht, teilte man ihm an der Rezeption schulterzuckend mit. Ein Folkloretreffen, das mehrere Tage dauern sollte. Krüger blieb nichts anderes übrig, als abzureisen.
Irgendwie fühlte er sich heimatlos. Er wäre gerne noch ein paar Tage geblieben. Das schlechte Wetter hielt noch an. Was tun? Bei Regen konnte man auch angeln? Dazu hatte er jedoch keine Lust.
Also entschied er sich zu einem Ausflug. Irgendwohin. Ohne es eigentlich gewollt zu haben, stand er sich plötzlich an der österreichischen Grenze.
Sollte er jetzt umkehren? Seinen Pass hatte er mitgenommen. Also warum nicht nach Österreich? Ist doch egal, wohin mich das Schicksal treibt, dachte er grinsend.
Kurz flackerte Nadja auf. Die bevorstehende Kontrolle brachte ihn wieder auf andere Gedanken.
Kaum hatte der Grenzer seinen Pass gesehen, winkte er ihn durch.
Am Horizont schien es heller, die Wolken lichteten sich, also behielt Krüger die Richtung bei. Ab und zu hielt er an, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Auf einem Postamt wechselte er Geld. Dann fuhr er wieder ein Stück. Durchquerte den Arlberg, bis er gegen Abend in Innsbruck ein Zimmer suchte.
Eine einfache Pension. Sehr einfach, wenn er es mit Lindau verglich. Dusche und Klo auf dem Gang.
Im Klo, oben auf einem kleinen Schrank, lag eine ganze Menge Altpapier. Mehr zum Spaß zog er eine alte Zeitung aus dem Stapel. Einfach mal schauen, was die Österreicher so vorgesetzt bekamen. Eine Story über einen Unbekannten, der ohne Bewusstsein im Zug aufgefunden wurde. Ohne Ausweis und ohne irgendwelchen persönlichen Sachen. Nur eine Fahrkarte für den Zug und etwas Geld fand man in seinen Taschen. Soweit die Vorgeschichte. Jetzt, nach Jahren, konnte er endlich identifiziert werden. Kein Einheimischer, wie angenommen. Sondern ein Ausländer. Ein gewisser Erich Merz aus Zürich.
Zufälle gibt’s, dachte Krüger. Dass der auch so heißt. Die Zeitung wanderte zurück auf den Stapel. Zeit zum Abendessen.
Erst beim Dessert dachte er wieder an die Geschichte. Der Name Merz konnte in der Schweiz sehr häufig sein. Etwa wie Müller oder Meier bei uns. Erich fand sich wahrscheinlich auch ziemlich oft. Sonst, könnte ... Aber nein. So ein Blödsinn.
Eigentlich gar nicht so schlecht, dieser Urlaub, überlegte er weiter. So viel Natur wie heute, hatte er schon lange nicht mehr genossen. Was heißt schon lange, fiel ihm ein. Eher noch nie. Zumindest nicht als Erwachsener.
Jetzt konnte er noch einen kleinen Schnaps vertragen. Was trinkt man hier? Ein Blick in die Getränkekarte. „Obstler, Wachauer Marille, Feinbrand, Zwetschgenschnaps, Himbeerlikör, las er. Er bestellte einen Obstler. Dann noch Einen. Danach ließ die Lust deutlich nach, wie er befriedigt feststellte. Bevor er sein Zimmer aufsuchte, führte in sein Weg noch einmal auf dieses Klo.
Die Zeitung lag immer noch oben auf dem Stapel, so wie er sie zurückgelassen hatte. Es ließ sich nicht vermeiden, sie die ganze Zeit anzusehen. Also griff er wieder danach. Das Datum interessierte ihn plötzlich. Schon fast ein Jahr alt, stellte er belustigt fest. Alte Geschichten, dachte er. Davon kenne ich auch noch ein paar.
***
Trotz des guten Schlafes, den er schnell fand, träumte er von Erich Merz.
Die Beichte in der Waldhütte. Wie geschlagen er gewirkt hatte. Wie er im Zug auf dem Boden lag. Krüger schreckte hoch, was hatte er da ganz klar gesehen. Durst plagte ihn. Kein Wasser im Zimmer. Also wieder aufs Klo.
Dieses Mal nahm er die Zeitung mit. Das ließ sich doch herausfinden. Aber nicht heute Nacht.
Bald schlief er wieder ein. Die Sonne, die ihm direkt ins Gesicht schien, weckte ihn. Frühstück, danach packte er seine Sachen zusammen. Die Zeitung lag ganz oben im Koffer. Salzburg wollte er auf jeden Fall besuchen.
Für heute sein Tagesziel. Gemütlich wie am Vortag, reiste er im wahrsten Sinne des Wortes. Nur auf kleinen Straßen. Da und dort hielt er, um sich eine Burg oder auch nur eine kleine Schlucht, genauer anzusehen.
Am Nachmittag hatte er erst etwa ein Drittel der Strecke geschafft. Jetzt musste er sich beeilen, wenn er heute noch ankommen und eine Bleibe finden wollte.
Krüger hatte keine Ahnung, wie es in Salzburg aussah. Hoffentlich fanden nicht gerade diese Festspiele statt, von denen er gehört hatte. Dann würde es kaum freie Zimmer geben. Wie in Lindau. Kurz vor der Stadt fiel ihm eine Reklame auf: Camping Bungalows zu vermieten.
Kurz entschlossen, hielt er an. Einmal etwas Anderes, als die immer gleichen Hotelzimmer. Außerdem entfiel die mühsame Parkplatzsuche in der Stadt. In Frankfurt hatte er sich daran gewöhnt, sich auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen.
Der Bungalow, eigentlich für eine Familie ausgelegt, erwies sich als geräumig. Krüger fühlte sich sofort wohl. Kein Gedanke an primitives Wohnen, wie er erwartet hatte.
Erst hatte er noch kurz gezögert, weil er für mindestens eine Woche mieten musste. Seit er jedoch sein kleines Reich bezogen hatte, freute er sich auf diese paar Tage. Inzwischen saß er schon mehr als eine Stunde im Vorgarten. Gerade hatte es noch gereicht, um einige Dinge einzukaufen, bevor der kleine Laden für diesen Tag schloss.
Im Einkauf befand sich auch ein Flasche Wein. Die leistete ihm jetzt Gesellschaft, während er den anderen Campern zusah. Er stellte fest, dass die bei jeder Beschäftigung eine gewisse Ruhe ausstrahlten. Niemand bewegte sich hektisch. Auch nicht die Jüngeren.
Krüger musste sich eingestehen, dass er eine völlig falsche Vorstellung vom Leben auf Campingplätzen gehabt hatte. Nicht primitiv, fand er. Sondern gemütlich.
Die Flasche war leer. Ein guter Zeitpunkt, um sich schlafen zu legen.
In seinem Bungalow besaß er sogar eine eigene Toilette. Nicht so wie das gewöhnliche Volk, dachte er belustigt. Der Wein hatte seine Beine etwas unsicher gemacht. Dafür war seine Laune umso besser geworden.
Zum Glück konnte er sich überall irgendwo festhalten. Keine freie Fläche schien groß genug zum Hinfallen.
Angezogen legte er sich auf sein Bett. Kurz drehte sich die Welt nur um ihn. Dann war er auch schon eingeschlafen.
***
Lautes Vogelgezwitscher weckte ihn auf. Keine Kopfschmerzen. Krüger fühlte sich ausgezeichnet.
Draußen fand offenbar längst reger Betrieb statt, fiel ihm bei einem Blick durchs Fenster auf.
Als Krüger seine Residenz verließ, stand die Sonne allerdings schon fast senkrecht am Himmel. Er hatte ziemlich lange geschlafen, ohne es zu bemerken.
Einfach schön, dachte er. Bloß sollte man hier nicht allein sein. Und der Bungalow bot schließlich Platz für mehrere Personen.
Erfreut hatte er gestern festgestellt, dass auch attraktive Frauen über die Gehwege schlenderten. Da musste doch einfach eine dabei sein, die auch allein unterwegs war.
Sein erster Weg führte ihn zum Restaurant. Zwar verfügte er auch über eine eigene Küche. Aber ihm stand der Sinn jetzt nach Gesellschaft. Gutgelaunt bestellte er einen Kaffee bei der Kellnerin. Die etwa in seinem Alter, jedoch nicht besonders interessiert an einem Flirt schien.
Offenbar hatte er sie eher gestört, beim Putzen der Glasflächen, auf den die Flaschen normalerweise aufgereiht standen. Jetzt bildeten sie, die ganze Theke einnehmend, praktisch eine Mauer aus Alkohol.
Krüger sah darin eine gewisse Symbolik. Und außerdem verstellten sie ihm die Sicht auf wesentliche Teile der Kellnerin, wie er registrierte. Trotzdem behielt er sie die ganze Zeit im Auge. Es war schon einige Zeit her, seit er Nadja beim Putzen zugesehen hatte. Dass man sogar so etwas irgendwie vermissen konnte, ging ihm durch den Kopf.
Er saß als einziger Gast im Lokal. Die Camper zogen es offenbar vor, den eigenen Kaffee zu trinken.
Erst beim dritten Mal reagierte die Bedienung auf seine zweite Bestellung. Deshalb bezahlte er gleich, um sich nicht noch einmal zum Affen machen zu müssen. Die hatte er damit endgültig abgehakt. Demonstrativ schaute er ihr nicht weiter zu. Sollte die doch hier versauern.
Im Restaurant hingen überall Bilder von Salzburg. Krüger hatte sich eine gewöhnliche Kleinstadt vorgestellt. Was er da zu sehen bekam, machte ihn ausgesprochen neugierig. Mozart überall. Reiche Fassaden, darüber die Burg auf dem Hügel. Malerische Flusslandschaften. Blumen, die komplizierte Muster bildeten. Plätze vollgestellt mit Tischen und Sonnenschirmen, wie im Süden.
Wenn er daran dachte, wie er hierhergekommen war. Ohne jeden Plan. Und trotzdem hatte er so viel Interessantes gefunden. Dieser Urlaub brachte viel mehr Abwechslung, als er jemals für möglich gehalten hatte.
Leise Zweifel an seinem bisherigen Leben tauchten auf.
Immer war die Arbeit das einzig wirklich Wichtige für ihn gewesen.
Ausgenommen blieb höchstens die Zeit mit Nadja. Aber auch nur am Anfang der Beziehung, um ehrlich zu sein.
Wenn ich eine Neue finde, dann werde ich das nie mehr vergessen, nahm er sich fest vor.
Zurück in seinem Bungalow zog er sich nur rasch um. So bald wie möglich wollte er in die Stadt. Zu Fuß. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie weit entfernt das Zentrum lag. Er hatte ja Zeit. Schlimmstenfalls konnte er immer noch den Bus nehmen, sagte er sich. Zufrieden mit der Welt schlenderte er durch die Reihen der Parzellen, nicht ohne da und dort einen Blick zu riskieren. Es roch überall nach Grill. Liegestühle, gepflegter Müßiggang.
Bis er an einem ansonsten leeren Platz vorbeikam, wo eine Frau allein ein Zelt aufzustellen versuchte.
Sie stand völlig verschwitzt da. Die weiße Bluse bedeckt mit dunklen Flecken. Wirre Locken hingen ihr ins Gesicht.
Krüger musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. „Kann ich helfen?“, fragte er freundlich.
„Das schaffe ich schon!“, erhielt er zur Antwort. Sie klang nicht besonders nett.
Krüger blieb trotzdem stehen. Endlich schien es so weit. Kurz zeigte das Zelt seine Form, bevor es wieder in sich zusammensackte.
Das war nun doch zu viel. Sie ließ sich auf den unförmigen Haufen sinken. Den Tränen nahe, wie sich unschwer erkennen ließ.
„Warum lassen Sie sich denn nicht helfen“, fragte Krüger. „Machen Sie mir doch die Freude.“
„Damit Sie mir zeigen können, wie man so etwas macht!“ Krüger stutzte. „Ich habe keine Ahnung von Zelten. Ich sehe nur, dass es allein schwer ist“, antwortete er.
Sie stand wieder auf. „Also gut. Halten Sie hier fest!“ Krüger übernahm die Ecke des Zelts, die sie ihm entgegenstreckte. Sie hob die andere Seite an, zog jedoch so stark, dass ihm seine Hälfte durch die Finger glitt. „Sie haben ja wirklich keine Ahnung“, stellte sie trocken fest.
„Habe ich Ihnen ja gesagt“, brummte Krüger.
„Ich hab’s Ihnen aber nicht geglaubt“, gab sie zurück.
Die Szene begleitete Krüger auf seinem ganzen Weg in die Stadt. Schon nach zwei Minuten war das Zelt soweit aufgestellt gewesen, dass sie darauf bestand, allein weiter zu machen.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie nur das Zelt und einige Kisten auf dem Platz stehen gehabt hatte. Das konnte sie ja nicht hergetragen haben. Also dürfte er vermutlich für jemanden eingesprungen sein, der gerade durch Abwesenheit glänzte.
Warum sollte auch eine Frau allein zelten gehen? Schade, dachte er. Ein Versuch wäre sie wert gewesen. Schon bald tauchten die ersten Sehenswürdigkeiten Salzburgs auf, die ihn auf andere Gedanken brachten. Die Stadt hielt, was die Bilder versprochen hatten. Einzig, er sah viel mehr Menschen in den Straßen, als auf den Fotos. Das störte Krüger jedoch nicht.
Der Nachmittag ging so schnell vorbei, dass er es gerade einmal bis ins Zentrum oder was er dafür hielt, schaffte.
Er gönnte sich ein Bier auf einem großen Platz, der vollgestellt mit Tischen und Stühlen, wie ein einziges, riesiges Restaurant aussah.
Danach ein kleiner Rundgang und schon war Zeit fürs Abendessen. Ein verlockender Grillduft wies ihm den Weg. Ein großes Stück Rindfleisch und einen halben Rotwein später, machte er sich auf den Heimweg. In bester Laune. Schon lange hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt, dachte er immer wieder.
Eine Stunde später, langsam wurde es dunkel, erreichte er den Zeltplatz.
Gespannt schlenderte er auf den Platz zu, wo er sich heute blamiert hatte. Sie saß vor dem Eingang, auf einem winzigen Klappstuhl. Das ließen zumindest die drei Beinchen, die schräggestellt unter ihrem verlängerten Rücken bis zum Boden reichten, vermuten. Vor sich eine Art umgedrehte Vase, die ihr als Tischchen diente.
Sie räkelte sich genussvoll und sah ihn dermaßen spöttisch an, dass er im Grunde nur noch vorbeigehen wollte.
„Kaffee“, sagte sie nur. Dass es eine Frage sein sollte, erkannte Krüger einzig an ihrer Mimik.
„Aber gern“, gab er mechanisch zur Antwort. Ohne zu überlegen, schon fast gegen seinen Willen.
Jetzt lächelte sie ihn breit an. „Ich habe nur einen Stuhl. Gäste waren nicht vorgesehen.“
„Das macht doch nichts“, antwortete Krüger. „Ich kann auch im Stehen.“ Jetzt lachte sie laut auf. „Das kommt gar nicht in Frage. Sie setzen sich jetzt hier hin! Ich brauche eigentlich keinen Stuhl“, antwortete sie bestimmt.
Krüger zierte sich. „Das kann ich doch nicht annehmen?“ „Ich muss ja sowieso in die Küche. Setzen Sie sich einfach hin“, beharrte sie.
„Küche?“, fragte Krüger. „Wo ist denn hier eine Küche?“
„Die Küche ist da, wo ich koche“, antwortete sie ernsthaft.
Krüger gab sich geschlagen und setzte sich.
Fasziniert sah er zu, wie sie eine kleine Pfanne mit Wasser füllte und sie auf einer einfachen Dose wie auf einem Herd abstellte. Die Dose entpuppte sich schließlich als Gasbrenner.
„Erstaunlich“, sagte er. „Was es alles gibt?“
Krüger war an diese Camping Utensilien nicht gewöhnt.
„Wie meinen Sie das?“, fragte sie. Ihrerseits erstaunt. Sprach er womöglich davon, dass sie ihn einfach so eingeladen hatte.
„So einen kleinen Ofen habe ich noch nie gesehen“, antwortete er. „Das ist alles neu für mich.“
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, fragte sie zurück. „Hier ist ein Campingplatz. Alle benutzen diese Gasbrenner.“
Krüger verstand nicht sofort, dass sie aneinander vorbei redeten. „Ich besitze keinen“, antwortete er nur.
„Und wie machen Sie Ihren Kaffee heiß?“, fragte sie spöttisch. „Reiben Sie an der Pfanne?“
„Auf dem Herd natürlich“, gab er verständnislos zurück. „Ach so, Sie haben einen Herd. Wahrscheinlich auch noch eine Abwaschmaschine“, spottete sie weiter. „Das weiß ich nicht. Da müsste ich zuerst nachsehen“, antwortete Krüger ernsthaft. Jetzt stemmte sie die Arme in die Hüften. „Sie kommen direkt vom Mond!“
Krüger wollte schon antworten: nein, aus Salzburg.
Sie ließ ihm die Zeit nicht, die er benötigte, um Luft zu holen, sondern fuhr gleich fort: „Sie wollen mir weismachen, dass Sie nicht wissen, ob Sie in Ihrem Wohnwagen eine Abwaschmaschine haben.“
„Ich wohne in einem Bungalow. Ich bin zum ersten Mal im Leben auf einem Campingplatz. Das ist wirklich alles absolut neu für mich“, gab er zurück.
„Ach so. Sie sind gar kein Camper. Jetzt verstehe ich. Ich habe wirklich gedacht, sie wollen mich ...“, lachte sie.
„Ich sehe gleich heute Abend nach“, versprach Krüger, immer noch ernsthaft.
„Sie wollen mich verspotten?“
„Aber nein. Wie kommen Sie auf so eine Idee?“
Zum Glück kochte das Wasser.
„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte sie zwischen dem Kaffeezubereiten.
„Max, Max Krüger. Und Sie?“
„Nadja“, antwortete sie beiläufig.
Ein Glück, dass sie nicht sehen konnte, wie Krüger erschrak. Das durfte doch nicht wahr sein. Schon wieder. Wollten sich alle Nadjas dieser Welt an ihm rächen?
Sie stellte die dampfende Pfanne auf die Vase.
„Wieso bist du so blass, Max?“, fragte sie erstaunt. „Hast du einen Geist gesehen?“ Wieder lachte sie laut. Er ist wirklich blass, dachte sie, während sie die Tassen holte. Vielmehr kreideweiß. Seltsamer Typ.
„Hast du vielleicht einen Schnaps?“, fragte er.
„Aber sicher, was denkst du denn?“, antwortete sie über die Schulter. Sie reichte ihm ein volles Glas, das er in beide Hände nehmen musste, so stark zitterte er.
„Bist du krank?“, fragte sie vorsichtig.
„Nein, nein“, antwortete er. Wie sollte er ihr erklären, was ihn erschreckt hatte. Ein großer Schluck ließ ihm noch etwas Zeit. Sag‘s ihr, hämmerte in seinem Kopf.
„Ich erkläre es dir. Du darfst aber nicht böse werden“, begann er. „Mit dir hat es wirklich nichts zu tun. Ich habe bis jetzt mit Frauen mit diesem Namen“, er konnte ihn nicht aussprechen, „nur veritable Katastrophen erlebt. Es tut mir leid. Ich bin völlig unmöglich, ich weiß.“
Sie lächelte trotzdem weiter. „Wenn es nur das ist, dann kann ich dich beruhigen. Ich heiße Elisabeth. Aber wenn ich jemanden nicht gut kenne, sage ich manchmal Nadja.“
Für Krüger ging für diesen Tag die Sonne zum zweiten Mal auf. „Elisabeth. Ein wunderbarer Name“, flüsterte er. „Findest du wirklich? Ich nicht.“
„Soll ich Sissi sagen?“, fragte er.
„Bitte nicht!“
Den Kaffee tranken sie schweigend. Beiden genügte es, den anderen nur anzusehen. Krüger saß auf dem Stuhl. Sie vor ihm, im Schneidersitz auf einer Decke, im Gras. Ihre Augen glänzten im Mondlicht.
„Gehen wir nachsehen?“, fragte Krüger endlich.
„Was nachsehen?“, gab sie zurück.
„Die Abwaschmaschine.“
Ohne zu zögern, ergriff sie seine ausgestreckten Hände, damit er sie hochziehen konnte.