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ОглавлениеAnique Dubois schaut die Fassade des reich verzierten Altbaus in der Londoner Innenstadt empor. Ein Blickfang, der diesen unrühmlichen Platz im Hinterhof ebenso wenig verdient hat wie den anrüchigen Geschäftsbetrieb in seinem Inneren. Anzusehen ist dem Gebäude nicht, welch lasterhafte Gesellschaft es beherbergt. Nur das kleine selbstgebastelte Schild neben dem Klingelknopf verrät, dass es sich keineswegs um ein normales Wohnhaus handelt. »Abigail's« steht dort in geschwungener Handschrift geschrieben. Anique muss unwillkürlich lächeln. Auch wenn es auf der Hand liegen mag, ist Abigail nicht der richtige Name der Dame, die diesen »Massage-Salon« betreibt. Sie hat ihn gewählt, da er im Gegensatz zu ihrem eigenen Vornamen mit »A« beginnt und somit in allen Verzeichnissen direkt am Anfang aufgeführt wird. Wahrscheinlich ist eine pragmatische Herangehensweise das Erfolgsrezept in diesem Business. Gefühlsduselei ist nirgendwo unangebrachter als hier.
Anique legt ihren Kopf in den Nacken. Alles sieht so friedlich aus im gleißenden Tageslicht. Ganz anders als in den Abendstunden, wenn sie normalerweise ihren Dienst antritt. Die Sonne spiegelt sich in den geteilten Fensterscheiben und verleiht dem Gebäude eine Romantik, die sonst ausschließlich alten Burgen und Schlössern vorbehalten ist. Auf dem Hof ist es ruhig. Die hohen Häuser ringsherum fangen den Großteil des Lärms der nahe gelegenen Hauptstraße ab, bis ein schepperndes Geräusch die vermeintliche Idylle zerreißt. Anique wirbelt herum. Am Rande der Einfahrt liegt eine der drei Mülltonnen mit geöffnetem Deckel am Boden und hat ihren stinkenden Inhalt auf dem Kiesbett verteilt. Das ist auch den zwei Nachbarskatzen nicht entgangen, die wie aus dem Nichts auftauchen und das unverhoffte Mahl fauchend für sich beanspruchen. Ihre aufgestellten, gesträubten Schwänze erinnern Anique an die Kakteen im Wintergarten ihrer Großmutter – wie lang diese sorgenfreie Zeit schon vorbei ist! Sie klatscht in die Hände und geht ein paar Schritte auf die Tiere zu, doch die lassen sich nicht aus ihrem Essensparadies vertreiben. Seufzend gibt Anique den Kampf schließlich auf und kehrt zum Eingang zurück. Seit einem guten halben Jahr kommt sie zweimal in der Woche her, neben ihrem Hauptjob in einem angesehenen französischen Restaurant. Kaum hat sie den Klingelknopf berührt, überkommt sie ein vertrauter Fluchtreflex, obwohl die Rahmenbedingungen dieser Anstellung eigentlich stimmen: nette Kollegen, eine verständnisvolle Chefin, saubere Zimmer, klare Hygiene- und Verhaltensregeln für die Kundschaft und nicht zuletzt die stattliche Bezahlung – der Hauptgrund dafür, diese Tortur wieder und wieder über sich ergehen zu lassen.
Anique betritt den kühlen Flur. An der kleinen Rezeption zu ihrer Linken betätigt sie die silberne Glocke auf dem Tresen. Ein helles Läuten schallt durch die hohe Halle und ruft trotz des lieblichen Tons unschöne Erinnerungen in ihr wach. Erinnerungen, die sie am liebsten in die hinterste Schublade packen und für immer vergessen würde. Die ganze Zeit über haben ihre Kunden sie durchweg gut behandelt, einige respektvoller als andere, aber nie hat es einen Anlass zur Beschwerde gegeben. Bis zu dem Zwischenfall in der letzten Woche. Er war ein gutaussehender Mann – eine gepflegte Erscheinung. Doch schon auf dem Weg ins Arbeitszimmer machte sich ein ungutes Gefühl in Anique breit. Irgendetwas an ihm war ihr suspekt und dieses Gespür sollte sich nur allzu schnell bestätigen. Unter der glatten Oberfläche lauerten derart niedere Triebe und eine alles unterdrückende Gewaltbereitschaft, die sie sich in dem Ausmaß vorher niemals hätte vorstellen können. Ausgeliefert, hilflos am Bettgestell fixiert, haben diese Minuten ihr Leben verändert und einen Teil von ihr für immer mit sich genommen.
»Anique! Wie schön, dass du da bist.« Eine Frau mit raspelkurzem grauen Haar kommt um die Theke herum und drückt Anique an ihren ausladenden Busen. »Dein Umschlag ist fertig. Kommst du eben mit nach hinten?«
»Gern. Vielen Dank für den Vorschuss, Vic. Ich hätte dich wirklich nicht darum gebeten, wenn es nicht so dringend wäre.«
»Das weiß ich. Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen.« Mit dem Zeigefinger schiebt Victoria ihre Brille ein Stück weiter die Nase hinauf und dirigiert Anique vor sich her ins Hinterzimmer. »Geht's deiner Kleinen gut?«
»Ja, alles in Ordnung.« Anique lächelt. Auch wenn sie im Laufe der Monate ein gutes Verhältnis zu ihrer Chefin aufgebaut hat, mag sie ihr nicht alles erzählen. Zu viel Nähe zum Vorgesetzten birgt immer ein gewisses Risiko. Victoria reicht ihr einen verschlossenen Briefumschlag.
»Ich zahle es dir so bald wie möglich zurück.«
»Kein Stress, wir können es Stück für Stück verrechnen. Sehen wir uns am Wochenende?«
Anique nickt. »Am Samstag. Hat sich schon jemand angemeldet?«
»Momentchen, ich schaue nach …«
Die Glocke an der Rezeption schrillt dreimal hintereinander und lässt Anique zusammenfahren. Kurz bevor dieser Dreckskerl zum Ende gekommen ist, hat es ebenfalls derart penetrant geklingelt. Natürlich hatte sie diesen Ton schon unzählige Male zuvor gehört, aber in diesem Augenblick war es anders. Grell und schmerzhaft brannte er sich in ihr Gedächtnis – die rettende Gesellschaft anderer Menschen war so nah und doch Lichtjahre von ihr entfernt.
Unverrichteter Dinge schlägt Victoria das Buch wieder zu, in dem sie die Anmeldungen notiert, und geht nach vorn.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Das will ich hoffen.«
Vier Worte reichen aus. Unter Tausenden würde Anique diese Stimme wiedererkennen. Ihr Herz stolpert, ihre Beine geben nach und zwingen sie auf die nächstbeste Sitzgelegenheit.
Ein Schlüsselbund landet geräuschvoll auf dem Tresen. »Ich fürchte, bei meinem letzten Besuch habe ich mein Zigarettenetui verloren. Bestimmt ist es mir aus dem Jackett gerutscht.«
»Bei wem waren Sie zu Gast?«
»Bei Anique. Ein reizendes Mädchen.«
»Anique? Das trifft sich gut. Warten Sie bitte, ich bin gleich zurück.« Victoria geht ins Hinterzimmer und stockt. Ein Blick in die Augen ihrer Mitarbeiterin genügt. Zusammengekauert sitzt sie auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch, als warte sie dort auf den unausweichlichen Gang zum Schafott.
Victoria kehrt zum Empfang zurück. »Tut mir leid, in unserer Fundkiste kann ich es nicht finden. Aber ich werde mich gerne für Sie umhören. Möchten Sie Ihre Nummer hinterlassen?«
Der Mann schüttelt den Kopf. »Das ist nicht nötig. Ich schaue bei Gelegenheit wieder vorbei.«
Victoria wartet, bis er das Haus verlassen hat. Im Hinterzimmer schließt sie die Tür und nimmt ebenfalls auf einem der Stühle Platz. »Was hat er mit dir gemacht?«
Anique schluckt. »Du darfst ihn nicht mehr reinlassen«, flüstert sie.
»Warum?«
»Er … er ist gefährlich.«
»Inwiefern?«
»Bitte frag nicht weiter.« Eine Träne löst sich aus Aniques Wimpern und rollte ihre zarte Wange hinunter.
»Was auch immer er dir angetan hat, ich hätte keine Sekunde gezögert, ihm die Polizei auf den Hals zu hetzen. Warum hast du nichts gesagt?«
»Die Polizei würde dir Ärger machen. Dein Geschäft ist nur geduldet, nicht akzeptiert.«
Victoria zieht ein Taschentuch aus einer Box und reicht es Anique. »Das ist zweitrangig, wenn es um die Sicherheit meiner Mädchen geht!«
»Ja, ich weiß.« Aniques Lippen pressen sich zu einem schmalen Strich zusammen.
»Was ist dann der Grund gewesen?«
»Ich … ich weiß nicht …«, sagt sie. Doch sie kennt die Antwort besser als ihr lieb ist: Angst. Angst vor dem, was er ihr und ihrer Tochter angedroht hat, wenn sie mit irgendjemandem über ihr Schäferstündchen reden sollte.
Victoria seufzt. »Er kommt auf unsere schwarze Liste. Weißt du, wer er ist?«
»Nein. Ich sollte ihn Joe nennen, aber das ist sicher nicht sein richtiger Name. Er trug einen Ehering. Sein Schlüsselanhänger hatte die Form eines Motorrads und ein eingraviertes »B« auf der Vorderseite. Darauf würde er bestimmt nicht den Anfangsbuchstaben einer Frau verewigen, sondern eher seinen eigenen. Außerdem nennen sich alle Kerle Jim, John oder Joe, die ihren echten Namen nicht verraten wollen.«
»Wir können ihn immer noch anzeigen, wenn er wieder auftaucht.«
Aniques Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran aufkommen, was sie von diesem Vorschlag hält.
»Ich sehe schon, das willst du nicht.« Victoria legt ihr den Arm um die Schulter. »Aber denk wenigstens drüber nach, okay?«
Anique deutet ein Nicken an. »Das mache ich. Versprochen.«