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Die antike Uhr auf dem Kaminsims schlägt neunmal, als der Schlüssel sich im Türschloss dreht. Lucy schreckt hoch. Er ist da! Schnell klappt sie das Buch zusammen und schiebt es unters Sofa. Ihr Mann mag es nicht, wenn sie liest. Für ihn ist das Abtauchen in einen Roman die größte Zeitverschwendung der Menschheitsgeschichte. Er meint, sie solle sich mit ihrem eigenen Leben auseinandersetzen und nicht mit fiktiven Figuren aus einer anderen Welt. Aber ist Realitätsflucht nicht manchmal der einzige Weg, das Dasein erträglich zu machen? Für ihn haben seine ehelichen Bedürfnisse oberste Priorität, dicht gefolgt von der Haushaltsführung und der Kinderversorgung. Aus seiner Sicht eine perfekte Familienfassade, die jedoch seit Monaten starke Risse aufweist – tiefe Schrammen, die sich unwiderruflich in Lucys Herz gegraben haben. Alltägliche Aufgaben werden zu unlösbaren Herausforderungen und drücken schwer aufs Gemüt. Selbst der tägliche Spaziergang mit ihren Kindern im nahegelegenen St. James's Park hat seine Leichtigkeit längst verloren.

Für einen letzten Check läuft sie ins Esszimmer hinüber. Alles sieht aus, wie es sollte: Bens Teller steht ordentlich an seinem Platz, umrahmt von einer weißen Stoffserviette und dem Silberbesteck seiner Großmutter. Das bauchige Rotweinglas und die entkorkte Flasche stehen ebenfalls bereit. Fehlt nur noch der Gemüseeintopf, dessen Duft aus der Küche strömt und in Lucys Magen ein leises Rumoren auslöst. Jeden Tag kommt er später nach Hause, jeden Tag verschiebt das Essen sich ein Stück weiter nach hinten. Böse ist Lucy darüber nicht, denn jede Minute ohne ihn ist ein Gewinn.

Im Flur hängt Ben seine Strickjacke an einen der Garderobenhaken. Draußen ist es trotz der Abendstunde immer noch unsäglich warm, die zusätzliche Kleidung hätte er sich sparen können. Als er den Arm hebt, umschmeichelt ein Hauch von Olivias Parfüm seine Nase. Er schaudert – was für eine Frau! Wie hat er es nur so lange ohne sie aushalten können? Ohne die Schmerzen, die ihre Nägel auf seiner Haut hinterlassen, wenn sie ihn in die Kissen presst und sich nimmt, was sie will. Er schließt die Augen und lässt ihre gemeinsame Zeit im Hotelzimmer Revue passieren, bis die klappernden Töpfe nebenan ihn zurück zu Lucy bringen, seiner Ehefrau. Diese Tatsache verschafft schlagartig Ernüchterung. In keinster Weise reicht sie an Olivias Qualitäten heran. Ben seufzt. Eine Teilschuld daran hat er sich selbst zuzuschreiben, schließlich ist er es gewesen, der sie überredet hat, ihren Job an den Nagel zu hängen. Und die letzten Reste ihres selbstbestimmten Lebens haben die Kinder auf dem Gewissen. Einerseits hat er dadurch jeglichen Respekt vor ihr verloren, andererseits erregt ihn die entstandene Abhängigkeit und schickt umgehend ein wohlbekanntes Kribbeln durch seine Leistengegend. Ein Grinsen huscht über sein Gesicht, während das Gefühl von Macht sich wie ein unsichtbarer Schleier über ihm ausbreitet. Lucy wird nicht nein sagen, egal was er von ihr verlangt. Ob sein Vater früher die gleichen Empfindungen gehabt hat, als er sich an ihm verging? Als er in seinem Hobbyraum Dinge mit ihm getan hat, über die niemand auch nur ungestraft nachdenken dürfte? Nie hätte er damals für möglich gehalten, dass er ihn eines Tages verstehen würde.

Ben knöpft sein Hemd auf, um es zu entsorgen. In der Wäsche würde Olivias Duft seine Affäre auf der Stelle auffliegen lassen. Man kann Lucy vieles absprechen, aber feine Antennen für seine Fehltritte, die hat sie definitiv. Ben zögert. Was wäre, wenn er es einfach anbehält? Wenn er ihr den Geruch der fremden Frau aufzwingt, beobachtet, wie ihre Verzweiflung wächst, während die Erkenntnis, dass sie ihm hilflos ausgeliefert ist, ihre Seele Stück für Stück sterben lässt. Langsam schließt er die Hemdknöpfe wieder und schlendert pfeifend ins Esszimmer hinüber. Da steht sie am Herd, weicht seinem Blick aus und hat keine Ahnung, was ihr heute noch bevorsteht.

Ben setzt sich an seinen Platz und betrachtet die zerstampfte Kartoffel-Möhren-Masse. Dann schiebt er den Teller mitsamt der Tischdecke von sich, wobei das gefüllte Weinglas gefährlich ins Wanken gerät. »Was soll das?«, herrscht er seine Frau an.

»Das … das hast du doch immer gemocht«, stammelt Lucy. Instinktiv weicht sie einen Schritt zurück.

»Nicht mitten im Sommer«, presst Ben zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er sieht sie an. Das Braun seiner Iris verdunkelt sich – ein sicherer Fingerzeig, dass seine Stimmung in die falsche Richtung kippt.

»Ich kann dir schnell etwas anderes machen«, schlägt Lucy vor. Aber Ben ist bereits aufgestanden und fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er kann ihre Angst förmlich riechen.

»Bitte nicht«, flüstert sie. »Denk an die Kinder.«

»Nein«, flüstert Ben zurück. Beinahe zärtlich streicht er eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus der Stirn. »Daran denke ich gerade ganz sicher nicht.«

Lucy weiß nicht, welchen der weinenden Zwillinge sie zuerst auf den Arm nehmen soll. Sie wendet sich Julian zu und legt ihn in die Wiege neben dem Sessel, den sie zum Stillen ins Kinderzimmer gestellt hat. Dann holt sie Levi aus seinem Gitterbett, dessen verzerrtes Gesicht mittlerweile eine bedenklich purpurne Farbe angenommen hat. Stöhnend sinkt Lucy mit ihm in die weichen Polster. Als ihre intimste Stelle mit der Sitzfläche in Berührung kommt, durchzuckt ein stechender Schmerz ihren Unterleib. Die Binde, die sie sich notdürftig in den Slip geschoben hat, um den Blutfluss aufzufangen, reibt über gerissene Haut. Mit der freien Hand streicht sie über Julians Wange und es dauert nicht lange, bis das Schreien nachlässt. Lucy betrachtet ihren Sohn in der Wiege und trotz der unerträglichen Lebensumstände muss sie lächeln. Julian ist der Stärkere von beiden, ein wenig Kontakt reicht ihm oft aus, um sich zu beruhigen. Ein Verhalten, das bei Levi undenkbar ist – der kuschelt sich zufrieden an den warmen Körper seiner Mutter, ohne dessen Nähe er die Nacht vermutlich durchschreien würde. Sein gleichmäßiger Herzschlag pegelt auch Lucys Puls nach und nach auf ein erträgliches Maß herunter. Sie bettet ihre Wange an sein Köpfchen und schließt die Augen. Kurz bevor sie einnickt, nimmt sie die Feuchtigkeit wahr, die sich in dem weichen Kopfflaum ihres Sohnes angesammelt hat. Mit einem Ruck ist Lucy hellwach und starrt das Rinnsal an, das ihm seitlich die Schläfe hinunterläuft. Im Dämmerlicht der Nachttischlampe ist die Farbe der Flüssigkeit schwer definierbar, die langsam in das Gewebe des hellen Stramplers sickert. Die dunklen Ringe schließen einen Schwall ausgespuckter Milch jedoch aus. Lucy nimmt mit der Fingerkuppe eine Probe und hält sie direkt unter den Lampenschirm. Blut! Wo kommt das her? In ihr wummert ein dumpfer Schmerz, hämmert von innen gegen die Schädeldecke, als wolle er sie mit Gewalt durchbrechen. Ihr Kopf schnellt in Richtung Tür. Sie hat sie abgeschlossen! Ganz sicher hat sie die Tür vorhin abgeschlossen! Doch das Licht, das durch den schmalen Spalt ins Kinderzimmer dringt, straft diese Überzeugung Lügen. Kalter Schweiß bildet sich auf Lucys Stirn, als ihr die Bedrohlichkeit der Situation vollends bewusst wird. Nahezu bewegungsunfähig im Sessel, mit Levi auf der Brust und Schmerzen in jeder Faser ihres Körpers – einen schöner angerichteten Präsentierteller könnte sie ihrem Ehemann kaum liefern. Vorsichtig tastet sie erst den Kopf ihres Sohnes, dann ihren eigenen ab. Der Kleine scheint unversehrt, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ihre eigenen Berührungen dagegen fühlen sich fremd an. Das, was sie dort ertastet, stimmt mit der Erinnerung an ihr Spiegelbild vom Morgen nicht überein. Die linke Gesichtshälfte ist angeschwollen und der Ursprung des Blutstroms schnell ausgemacht: Wo normalerweise eine fein geschwungene Augenbraue platziert ist, fährt ihre Hand über auseinanderklaffendes Gewebe. Levis kleine Faust krallt sich in ihre zerrissene Bluse, als wolle er seine Mutter nie wieder gehen lassen. Stöhnend steht Lucy auf und legt ihn zurück in sein Gitterbettchen. Beim Anblick der blutverklebten Babyhaut kann sie die unterdrückten Tränen kaum zurückhalten. So schnell ihr Zustand es zulässt, verschließt sie die Tür und schiebt den Sessel davor. Nichts und niemand wird sie in dieser Nacht mehr aus dem Zimmer bewegen. Als Toilette wird das Töpfchen herhalten müssen, das sie für die Kinder besorgt hat. Zugegeben, etwas verfrüht für Babys im Alter von wenigen Monaten, aber das Bedürfnis nach rechtzeitiger Vorsorge liegt nun einmal in ihren Genen. Sie ist immer überzeugt davon gewesen, dass sich jeder mit strukturierter Planung auf alle Eventualitäten vorbereiten kann. Erst die Ehe mit Ben hat ihr gezeigt, dass dies nichts als reine Illusion war. Ein rosaroter Wunschtraum – ein Netz aus Sicherheit, das nie wirklich existiert hat. Zurück im Sessel lehnt sie den Kopf nach hinten. Die Tür im Rücken ist ihr unangenehm, doch zumindest würde sie in dieser Position bemerken, wenn sie von außen mit dem Zweitschlüssel geöffnet werden sollte. Ihr letzter Blick gilt den Zwillingen, dann fallen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.

Die Nacht ist unruhig. Mit jedem Erwachen werden die Schmerzen größer. Die Jungs verlangen nach Milch und Lucys Brüste sind kaum mehr in der Lage, dieses Grundbedürfnis zu befriedigen. Schließlich lassen die Babys sich von den mühsam herausgepressten Tropfen nicht mehr beruhigen. Sie schreien. Die schrillen Stimmchen schallen durchs Haus und jagen Lucy einen Adrenalinschub nach dem anderen durch die Blutbahn. In der Küche stehen Fläschchen und Milchpulver im Schrank. Warum ist sie nicht dort hingeschlichen, als Ben geschlafen hat und alles noch ruhig war? Dass ihr natürlicher Vorrat nicht bis zum Morgengrauen ausreichen würde, ist schließlich absehbar gewesen. Der emotionale Stress hat ihren Körper bereits vor Tagen zum unfreiwilligen Abstillen veranlasst. Die Angst vor einem weiteren Zusammenstoß mit ihrem Ehemann vernebelt ihr offensichtlich die Instinkte.

Lucy schaut zur Wanduhr. Bunte Teddybären toben über das Zifferblatt und lassen die düstere Realität unwirklich erscheinen. Es ist kurz nach sechs. Um diese Zeit liegt Ben normalerweise noch im Bett. Zwar kommt er abends erst spät nach Hause, aber in der Früh ist er nicht vor neun im Büro. Lucy stößt einen erstickten Seufzer aus. Es hilft alles nichts: Sie muss etwas unternehmen. Der Sessel, der ihr die Nachtstunden über als Schutzschild gedient hat, bewegt sich nur schwer von der Stelle und ihre Kräfte sind am Ende. Vorsichtig streckt sie den Kopf zum Flur hinaus. Die Tür ihres Schlafzimmers liegt genau gegenüber, doch trotz der unüberhörbaren Alarmstimmung ist diese geschlossen. Schnell zieht sie die Kinderzimmertür ebenfalls hinter sich zu und verschließt sie sorgfältig. Bloß kein Risiko eingehen! Es ist nicht absehbar, wie weit Bens dunkles Potential reicht. Wer seine Ehefrau in diesem Ausmaß misshandelt, macht irgendwann auch vor dem Nachwuchs keinen Halt mehr. Und die Sicherheit ihrer Söhne steht für Lucy an höchster Stelle. »Ich bin gleich wieder da, ihr Süßen«, flüstert sie, wohl wissend, dass weder Levi noch Julian ihre Stimme von hier aus hören können. Sie schleicht zum Treppenabgang, der ins Erdgeschoss führt. Die Stufen knarren leicht unter ihren Füßen, was vom gedämpften Weinen der Kinder bizarr untermalt wird. Das Haus ist alt, aber aufwendig saniert worden, bevor sie es im letzten Jahr gekauft haben. Ein Traum im modernen Landhausstil, genau so, wie Lucy es sich immer gewünscht hat. Hätte sie nur im Entferntesten geahnt, wie hoch der Preis dafür am Ende sein würde – niemals wäre sie bereit gewesen, ihn zu zahlen. Auch wenn sie die Zwillinge über alles liebt und sie um nichts in der Welt hergeben würde, verflucht sie den Tag, an dem sie Ben begegnet ist. Den Tag, der ihr sorgenfreies Leben für immer beendet hat. Wie sehr sehnt Lucy sich nach ihrer kleinen Gartenwohnung zurück, die sie sich mit Kitty geteilt hat. Kurz nachdem ihre Schwangerschaft offiziell bestätigt war, wurde die Katzendame überfahren. Ihre Nachbarin fand sie zwei Straßen weiter im Rinnstein, weggeworfen wie ein ausgedienter Putzlappen. Damals glaubte Lucy an einen tragischen Unfall, heute nicht mehr. Dafür kennt sie Ben inzwischen zu gut. Vor dem Vorfall hat er sich sehr angeregt mit ihrem Gynäkologen über das Thema Toxoplasmose unterhalten. Eine Infektionskrankheit, die von Katzen übertragen und dem Ungeborenen gefährlich werden kann. Er hat Tiere schon immer gehasst und Kitty insbesondere. Die Kinder dagegen wollte er unbedingt. Als sie dann aber auf der Welt waren, war es vorbei mit seinem Interesse am Familienleben. Wie hat sie sich nur so in ihm täuschen können?

Zwischen Lucys Beinen wird es nass. Bevor das Blut sich auf den hellen Holzdielen verteilen kann, biegt sie ins Bad ab. Das Weinen ist leiser geworden, begleitet sie aber immer noch wie eine Hintergrundmusik. Sie reißt einen Stapel Binden aus dem Regal und öffnet den Reißverschluss ihre Hose. Allein das Gefühl, wie der Stoff die Beine hinabgleitet und ihren Unterleib freilegt, zerrt alle Erinnerungen an die vergangene Nacht brutal zurück ans Tageslicht. Die Übelkeit wird übermächtig. Lucy klappt den Toilettendeckel hoch, fällt auf ihre Knie und lässt der Natur freien Lauf. Die Anstrengung treibt ihr Tränen in die Augen und ihre Zunge ertastet einen stumpfen Belag auf den ebenmäßigen Zähnen – der bittere Nachgeschmack wird sie noch eine Weile begleiten. Mühsam rappelt Lucy sich auf. Der Weg vom Bad bis in die Küche erscheint unüberwindbar, aus ein paar Yards wird eine schier endlose Strecke. Ihre Beine zittern, als wäre sie einen Marathon gelaufen, trotzdem erfüllen sie wider Erwarten ihren Zweck und bringen sie ans gewünschte Ziel. Vor dem Fenster bleibt Lucy stehen. Helle Streifen ziehen sich über den Horizont, die Morgendämmerung verspricht einen weiteren perfekten Spätsommertag.

Sie schenkt sich ein großes Glas Wasser ein, aber auch die kühle Flüssigkeit kann ihrer geschundenen Speiseröhre keine Linderung verschaffen. Gerade als sie das Milchpulver aus dem Schrank holt, knallt es im ersten Stock. Einmal, zweimal. Das dritte Mal erweckt den Eindruck, jemand wolle eine Wand zum Einsturz bringen. Lucy schreckt zusammen, wobei sie das Wasserglas mit dem Ärmel streift und von der Ablage wischt. Es schlägt auf den Boden, Scherben spritzen rund um ihre Füße. Die transparenten Splitter gehen konturlos in die Holzmaserung der Dielen über wie ein Chamäleon, das sich umgehend an seine neue Umgebung anpasst. Wie gerne würde Lucy diese Fähigkeit übernehmen und einfach von der Bildfläche verschwinden, das wäre die optimale Lösung für all ihre Probleme. Sie horcht auf. Etwas hat sich verändert. Es dauert ein paar Sekunden, bis die Antwort in ihrem Bewusstsein ankommt: Im Haus ist es still. Der Kühlschrank brummt für Lucys Empfinden lauter als ein Presslufthammer und stellt die einzig verbliebene Geräuschquelle dar. Die plötzliche Ruhe ist … nicht gut. Levi und Julian haben Hunger. Warum pochen sie nicht weiterhin lautstark auf ihr Recht? Wie in Trance stellt sie den Wasserkocher an. Während dessen Inhalt sich langsam erhitzt, geht sie die Stufen zurück nach oben. Ihr Herz treibt sie zum Rennen, aber der dazugehörige Körper bremst jeden weiteren Schritt gegen ihren Willen ab. Immer wenn Ben sich an ihr vergreift, hat sie Angst. Doch das ist rein gar nichts gegen das Gefühl, das sie nun überkommt. Das an ihren Grundfesten zerrt wie ein Sturm an einem fest verwurzelten Baum. Eine Vorahnung, die nicht Wirklichkeit werden darf, flackert vor Lucys innerem Auge auf. Sie wird schneller, hastet zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf, ohne Rücksicht auf ihre physischen Beeinträchtigungen. Zum Ausruhen ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Das Schreien setzt wieder ein. Levi! Dem Himmel sei Dank! Nur er ist in der Lage, von null auf hundert solche hohen Töne anzustimmen. Noch nie hat sein Gebrüll in Lucys Ohren so wunderschön und melodiös geklungen.

Die Kinderzimmertür weist schwere Dellen auf und ein langer Riss zieht sich quer über den weißen Lack. Lucy schiebt den Stuhl beiseite, der Ben offensichtlich als Rammbock gedient hat. Eines der Metallbeine ist grotesk verbogen, doch das könnte sie in diesem Moment nicht weniger interessieren. Ihr Fokus ist ganz auf die hilflosen Wesen gerichtet, die verzweifelt nach ihrer Anwesenheit verlangen. Langsam drückt sie die Klinke herunter. Abgeschlossen! Lucy atmet auf. Dann hat Ben keinen Zweitschlüssel zu dem Raum gehabt, sonst hätte er jetzt nicht versucht, die Tür aufzubrechen. Aber wie kann sie dann in der Nacht plötzlich offen gestanden haben? Ist Lucys Erleichterung darüber, ihre Kinder unversehrt zu sehen, so groß gewesen, dass sie die Tür selbst nicht richtig zugesperrt hat? Niemals wieder darf sie so nachlässig sein!

Haben die Bodendielen hinter ihr geknarrt? Ohne sich herumzudrehen, hält Lucy inne. Ihre Hand krallt sich so fest um den Schlüssel in ihrer Hosentasche, dass die Fingernägel sich gnadenlos in ihre Handfläche graben. Ein weiterer Knall lässt sie aufschreien. Dieses Mal ist es von unten gekommen. Sie läuft zum Treppenabgang und schaut über das Geländer in den Eingangsbereich hinab. Durch das milchige Glasfenster im oberen Teil der Haustür kann sie den von außen angebrachten Blütenkranz erkennen. Er schwingt gleichmäßig hin und her. Kein Zweifel: Diese Tür ist eben ins Schloss gefallen. Ben ist weg.

Drei Wünsche

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