Читать книгу Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber - Страница 10
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Jetzt hatte Mauritius Steinberger schon zwei Rätsel zu lösen: Zum einen, wie er mit Quents Anwesenheit im Stift umgehen sollte, und zum anderen, warum diese junge Frau so schnell durchschaut hatte, dass er sich für Isolde Hohoff interessierte. Sicher, er hatte sich beim Service erkundigt, ob er an ihren Tisch umgesetzt werden könnte. Und er kannte ihre Spazierwege gut genug, um ihr an den unterschiedlichsten Stellen des Parks wie zufällig über den Weg zu laufen. Umgesetzt hatte er das aber erst zweimal, und beide Male hatten sie über das Wetter gesprochen. Er wusste außerdem, dass Montag ihr Pediküretag war, und hatte sich den Folgetermin reservieren lassen. Aber woher zum Teufel wusste diese kleine Dorothea das? Auge des Künstlers? Ein angeborener Sinn fürs Kriminalistische? Oder war er so durchschaubar geworden?
Sie lachte nur, wann immer er sie danach fragte. Ohne Zweifel war ihr ein wenig langweilig gewesen in ihrem Dasein zwischen Kunstakademie und Altenstift. Die große Frage war: Konnten alle anderen das Gleiche sehen? War er mit seinen Gefühlen ein offenes Buch für seine Umwelt? Auf dem Gebiet des Kriminalistischen fühlte Steinberger sich sicher. Er wusste, wer das Wild war und wer der Jäger. Auf amourösen Pfaden hingegen fühlte er sich hilflos. Hätte Dorothea mit ihren Anspielungen ihn nicht mit der Nase darauf gestoßen, er wäre sich nicht einmal ganz klar darüber gewesen, dass er überhaupt auf einer Art Freiersfüßen wandelte. Und diese Unklarheit über die eigenen Empfindungen hätte er im Übrigen liebend gern noch eine Weile beibehalten.
Trotzdem blieb seine größere Sorge Quent. Er hatte eine Nacht und einen Tag damit vergeudet, sich einzureden, dass Quents Anwesenheit im Stift nichts bedeutete. Der Fall war abgeschlossen, Quent offiziell ein unbescholtener Bürger und freier Mann. Steinberger hatte es vor über fünfundzwanzig Jahren schriftlich von einem seiner Vorgesetzten bekommen, dass er ein Sturkopf sei, der sich verrannt habe. Sein Beharren auf Quents Schuld hatte ihm damals den einzigen Knick in seiner Karriere beschert, ein Umweg von ein, zwei Jahren, nicht mehr, ehe es für ihn wieder bergauf ging und er seine ansonsten makellose Karriere zum guten Schluss noch mit dem Wechsel zur Bundesbehörde krönen konnte.
Steinberger seufzte beim Nachdenken. Er sollte die guten Ratschläge von damals beherzigen: es hinter sich lassen. Aber nach nunmehr vierundzwanzig Stunden, in denen er diese Sätze mantraartig wiederholt hatte, war ihm klar geworden, dass das nicht funktionieren würde. Spätestens, als er gestern gesehen hatte, wie Isolde Hohoff beim Tanztee von diesem Menschen aufgefordert wurde und er daran hatte denken müssen, dass dieselben Hände, die gerade die Ärztin über die Tanzfläche schoben, einen anderen Menschen das Leben gekostet hatten. Dass sie Waffen gehalten und Unschuldige bedroht hatten, ohne Gewissensbisse. Was, wenn er Isolde verletzte? Das würde Steinberger sich nie verzeihen.
Dann war da die seltsame Sörgel mit ihren Geschichten von Leichen. Sie war irre, klarer Fall. Aber ihre Erzählungen mussten doch irgendeinen wahren Kern haben, so weit kannte er sich mit Irren aus. Er hatte sich von ihr zu diesem Asternbeet zerren lassen, und ihm war schnell klar geworden, dass sie zumindest in einem recht hatte: Hier hatte ein Mensch gelegen. Der Gedanke an einen flüchtigen Räuber, der von einem Balkon gesprungen war, war sofort in ihm aufgeblitzt und gleichzeitig mit diesem Gedanken der Name: Peter Quent. Er war ein Räuber, Dieb und Betrüger, ein sehr geschickter zudem. Die Liste der Verbrechen, die möglicherweise auf seine Rechnung gingen, war lang. Dass er nie zur Verantwortung gezogen wurde, zeigte nur, wie gerissen er vorging. Und dass es dabei nur einmal einen Toten gegeben hatte – nur einmal, von dem sie wussten – hieß nicht, dass es nicht wieder geschehen konnte. Quent kannte keine Grenzen, wenn es um seine Interessen ging.
Seit er wusste, dass Peter Quent hier lebte, sah Steinberger das Stift mit anderen Augen: Hier war viel Geld zu Hause. Und es war in den Händen von alten, kranken und schutzlosen Menschen, die leicht zu betrügen und leicht zu überwältigen waren. Das Altenstift war für einen gewieften Einbrecher oder Betrüger ein reich gedecktes Buffet. Die hysterische Reaktion der Verwaltungsdame hatte ihn in diesem Verdacht nur bestätigt. Quent unter diesen Alten, das war ein Fuchs im Kaninchenbau, ein Wolf im Haus der sieben Geißlein. Quent hier, nicht den Armen der Gerechtigkeit zugeführt, das war schlicht unerträglich.
Mauritius Steinberger war sich immer sicherer, dass er aufgerufen war, etwas dagegen zu unternehmen, zum Wohle der Allgemeinheit. Allerdings würde er mehr tun müssen, als einen Vortrag über sicheres Wohnen zu halten. Er hatte die Lage am Asternbeet noch einmal in Augenschein genommen und war zu dem Schluss gekommen, dass der Einbrecher, so er existierte und so es sich um Quent handelte, der auch nicht mehr der Jüngste war, maximal aus dem Fenster im ersten Stock hätte springen können. Dort lebte, seinen Recherchen zufolge, ein Paul Schwebel. Es wäre einfach, dem Mann einen Besuch abzustatten und sich bei ihm umzusehen. Ihn kennenzulernen. Zu hören, ob er Dinge von Wert besaß – worauf Steinberger hätte wetten mögen. Zu hören, ob er Dinge von Wert vermisste.
Trotzdem saß Steinberger auf seinem Balkon und zögerte. Sein Eifer gegen Peter Quent hatte ihn schon einmal zu weit geführt. Seinerzeit hatte er sich wieder aus der Sackgasse herausgearbeitet, hatte die auferlegte Therapie absolviert, den Karriereknick durch harte Arbeit wieder ausgebügelt, sich verlorenes Vertrauen zurückerobert. Er hatte den Platz in der Gemeinschaft wieder eingenommen, den er um ein Haar verloren hätte, aber damals war er noch jünger, härter, ein Macher. Jetzt war er, bei allem Respekt vor sich selbst: ein Greis. Was konnte er tun?
Da hörte er den Schrei. Er war nicht durchdringend, nicht besonders alarmierend. Und nur gerade laut genug, dass Steinberger den Kopf in die Richtung wandte und aus dem Fenster schaute. Im nächsten Moment sah er den Körper. Er fiel die Fassade hinunter und schlug auf dem Grün auf. Das Auge sah es und glaubte es nicht. Wie alle, die Zeuge der Szene geworden waren, starrte Mauritius Steinberger einige Momente auf die reglose Gestalt, von der keine Details zu erkennen waren, obwohl die Fantasie sich das Schlimmste ausmalte; es mussten mindestens sieben, acht Stockwerke gewesen sein. Da war kein Raum für Hoffnung. Und doch starrte man.
Bis endlich der professionelle Ruck durch ihn ging und er den Blick hob. Es dauerte einen Moment, bis er das offene Fenster im neunten Stockwerk gegenüber fand, den wehenden Vorhang. Und dahinter: War das eine Bewegung gewesen? Für einen kurzen Augenblick war er sich sicher: Er hatte Quents triumphierendes Gesicht gesehen. Waren seine Befürchtungen so schnell wahr geworden? Oder litt er unter Halluzinationen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Steinberger machte sich auf den langen Weg nach unten.
Er ging so schnell er konnte durch die Passage, sah durch die Glasscheiben die Schaulustigen, die draußen zusammenhinkten und -rollten. Er winkte ab, als der Besitzer des Seniorenladens ihn ansprechen wollte, und erreichte ganz außer Atem das gegenüberliegende Wohngebäude, als draußen bereits in die Smartphones gesprochen wurde. Die Polizei und die Feuerwehr würden nicht lange auf sich warten lassen. Er lauschte einen Moment ins Treppenhaus, ob er flüchtende Schritte hörte, doch es blieb still. Daher entschied er sich für den Aufzug. Vielleicht bekam er eine Chance, das Appartement zu inspizieren, ehe die Kollegen auftauchten. Als er in den Gang des neunten Stockes trat, öffnete sich eine Tür und Irina Staufert trat heraus, auf dem Arm einen Stapel Handtücher.
»Was machen Sie hier?«, fragte Steinberger die Etagenbetreuerin barsch.
»Arbeiten?« Sie schaute ihn verständnislos an. »Brauchen Sie etwas?«
Ohne weiteren Kommentar nahm er sie am Arm und zog sie zu der Tür, die er nach seiner Analyse der Architektur für die richtige hielt. »Machen Sie auf«, befahl er.
»Unfug.« Sie entzog sich seinem Griff und richtete sich entschlossen zu voller Größe auf. »Das ist das Zimmer von Herrn von Arx. Der ist meistens zu Hause. Warum klopfen Sie nicht einfach? Was wollen Sie denn von dem Herrn von Arx?«, fügte sie dann misstrauisch hinzu.
Steinberger entschied sich für die Schocktherapie. »Ihr Herr von Arx ist eben aus dem Fenster gesprungen und liegt tot auf dem Rasen.«
»Jessas.« Die Etagenbetreuerin wurde mit einem Schlag blass. Ihre Hand zitterte, als sie nach ihrem Generalschlüssel kramte. »Jessas Maria«, wiederholte sie wieder und wieder.
Dabei war ihr ganzes Suchen völlig unnötig, wie Steinberger merkte, als er ungeduldig um sie herum und nach der Klinke griff. Es war gar nicht abgesperrt. Was, fuhr es ihm kurz durch den Kopf, wenn der Mörder so dumm war, drinnen auf sie zu warten? Er verfluchte sich, nicht an den Totschläger gedacht zu haben, den er als Souvenir von einem Kleingangster erhalten und lange Jahre bei sich getragen hatte. Ersatzweise griff er sich aus dem Schirmständer gleich hinter der Tür einen Gehstock mit Metallgriff.
Hintereinander stürmten sie in das Appartement, das ein spiegelverkehrtes Abbild seines eigenen war, allerdings üppig mit schweren Eichenmöbeln eingerichtet. Steinberger zweifelte keinen Augenblick daran, dass jedes der wuchtigen Möbelstücke eine Antiquität war, das Blattgold auf den Bilderrahmen echt, die vielen herumstehenden Reiseandenken von künstlerischem Wert und die geschnitzten chinesischen Statuetten vermutlich aus Elfenbein. Das Fenster stand offen, der Vorhang, den er schon von drüben gesehen hatte, wehte im Wind. Die Tür zum Balkon dagegen war geschlossen. Steinberger inspizierte ihn trotzdem und fand ihn menschenleer und ohne Spuren. Nein, der Tote musste aus dem Fenster gestürzt sein.
Schnell registrierte Steinberger, dass es im Zimmer keine offensichtlichen Hinweise auf einen Kampf oder die Anwesenheit einer fremden Person gab: keine umgestürzten Möbel, keine zerbrochenen Vasen. Überall schien die Ordnung ungestört. Er entdeckte auch keine staubfreien Lücken auf den Möbeln, von denen kürzlich etwas entfernt worden wäre, keine leeren Stellen an den Wänden. Ein schneller, verstohlener Blick in die Schreibtischschublade zeigte ihm ein mit Scheinen prall gefülltes Portemonnaie, eine Schatulle mit Krawattennadeln, Manschettenknöpfen und einigen Krügerrand, die er mitgenommen hätte, wäre er in der Einbrecherbranche gewesen. Ebenso wie die Zigarren in der intarsiengeschmückten Box. Aber das war sein persönlicher Geschmack. Dennoch: Alles schien unverdächtig. Und leer.
»Was machen Sie da?« Die Stimme der Etagenbetreuerin war scharf vor Misstrauen.
Steinberger schloss die Lade rasch und stellte den Stock zurück. Eine Antwort sparte er sich. Stattdessen trat er an das Fenster. Mit der Hand hielt er den unruhig zuckenden Vorhang zurück. Er konnte die Menschen sehen, die auf den Balkonen gegenüber standen. Aber es war zu weit weg, um auch nur einen von ihnen mit Sicherheit zu erkennen. Schlagartig wurde es ihm klar: Er konnte Peter Quent nicht hier am Fenster gesehen haben. Er blinzelte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er musste auf sich aufpassen.
Als er sich umdrehte, stand Irina Staufert mitten im Zimmer. Ihre runde Gestalt versperrte ihm den Weg zur Tür. Sie wirkte völlig desolat; noch immer hielt sie den Stapel Handtücher auf dem Arm, mit dem er sie auf dem Flur angetroffen hatte.
»Wir müssen die Polizei alarmieren.« Als er an ihr vorbei wollte, fielen ihr die Handtücher runter, und sie bückte sich, um sie umständlich aufzuheben. Er wollte helfen, sie wehrte ihn mit einer Geste ab. Ihre Hände zitterten noch immer. Irina Staufert stapelte ihre Handtücher neu und tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Wie konnte er das nur tun?«, fragte sie kopfschüttelnd.
»Sie meinen, es war Selbstmord?«, wollte Steinberger wissen. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich weiß nicht.« Mit feuchten Augen, schaute sie ihn an. »Muss doch einsam gewesen sein.«
»Einsam?«, wiederholte Steinberger. »Wer erbt denn das alles?«
»Was?«, murmelte die Etagenbetreuerin in ein frisch gezücktes Taschentuch. »Wieso erben?«
»Na, wenn er allein war, wie Sie sagen, und keine Familie hatte«, half Steinberger ihr nach. »Da fragt man sich doch, wer das erbt.«
»Sie stellen seltsame Fragen.« Irina Staufert musterte ihn voller Abneigung. »Das sollten Sie nicht tun.«
Er hob die leeren Hände in einer halb entschuldigenden, halb abwehrenden Geste. »Alte Polizistengewohnheit.«
»Wir müssen gehen«, murmelte sie. »Ich muss der Heimleitung Bescheid sagen.« Sie erinnerte sich ihrer Aufgaben. »Und Sie gehen jetzt auch.«
Steinberger trat nonchalant an die Wand mit den vielen goldenen Rahmen heran und stupste einen davon, eine kleine Landschaft im Abendlicht, mit dem Finger an, ehe er der Aufforderung nachgab. »Das Bild hing schief«, erklärte er. Dann räumte er das Feld.
Als sie auf den Flur traten, während die Etagenbetreuerin die Tür gewissenhaft abschloss und Steinberger noch dachte, dass das den Tatortbefund verfälschen würde, fiel sein Blick auf die Tür gegenüber. Statt des Normklingelschildes, wie es an den anderen Türen und auch seiner eigenen üblich war, hing dort ein poliertes Messingschild, ein kleiner metallener Schnörkel im Renaissancestil, auf dem eingraviert war: Peter Quent.