Читать книгу Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber - Страница 11

Оглавление

6

Die Kreativgruppe würde am Nachmittag beginnen. Daher beschloss Mauritius Steinberger, gleich nach dem Frühstück mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Der Valznerweiher musste warten. Erst wollte er wissen, was seine ehemaligen Kollegen in Sachen Ewald von Arx unternahmen. Ab Frankenstraße könnte er in die U1 umsteigen und dann ganz bequem bis an den Jakobsplatz fahren, um das Präsidium zu besuchen. Das Mittagessen würde er in seinem alten böhmischen Stammlokal unterhalb der Burg einnehmen. Er wäre problemlos rechtzeitig zurück, um Isolde Hohoff beim Malen zu treffen. Er hatte sich vorgenommen, in einer nahe gelegenen Buchhandlung auch noch nach Bildbänden über Turner Ausschau zu halten. Alles ganz einfach.

Im Bus kam er sich seltsam vor; es dauerte mehrere Stationen, ehe nicht mehr alle Insassen grauhaarig waren und das Publikum sich wieder mischte. Als die ersten Mütter mit Kindern einstiegen, atmete er auf. Grüppchen arabischer Jugendlicher kamen dazu, afrikanische Familienväter, türkische Frauen mit schweren Einkaufstüten, dazwischen Geschäftsleute mit Rollköfferchen, die offenbar von der Messe kamen, Schüler aller Altersstufen, Menschen, Menschen. Gerade mal eine Woche, dachte der alte Kommissar, und schon bist du den Trubel nicht mehr gewohnt.

Im Präsidium angekommen atmete er auf; nicht alles war wie früher, aber die Atmosphäre war unverkennbar, die Nüchternheit, gegen die auch der pathetische Bundesadler über der Tür nicht ankam, das sachliche, verhaltene Grün und Beige. Büroatmosphäre ohne verniedlichende Dekorationen. Das war die Luft, die er zu atmen gewohnt war. Am Empfang legte er seinen alten Dienstausweis hin und nannte seinen Namen sehr laut. Es war kein unbekannter Name in diesen Kreisen, hier in Nürnberg zumal. Doch er rief nicht die Wirkung hervor, die Steinberger sich erhofft hatte.

»Der ist abgelaufen«, konstatierte der Beamte am Schalter und griff, ohne ihn anzusehen, zum Telefon. Ich hab das Lehrbuch geschrieben, mit dem du gelernt hast, wollte Steinberger schon kontern. Zumindest die Kapitel drei und sieben. Aber er ließ es, um das Gespräch verfolgen zu können. Es war kurz und endete damit, dass er warten sollte. Wie ein Tiger im Käfig pendelte Steinberger zwischen einem aktuellen Fahndungsplakat und einem Infoaushang mit Handreichungen für Seuchenfälle hin und her. Er wollte sich nicht setzen. Sich seine Unruhe anmerken lassen wollte er aber ebenso wenig. Der Mann, der ihm mit ausgestreckter Hand entgegenkam, war sein Amtsnachfolger, Aloysius Rohpol. Sie kannten sich von der Übergabe. Rohpol war aus der Landeshauptstadt gekommen; Nürnberg war der vorläufige Endpunkt seiner Karriere. Damals bei der Amtsübergabezeremonie, als er in der ersten Stuhlreihe saß, zwischen Männern in ungewohnten Anzügen und Buchsbäumen in Töpfen, hatte Steinberger der Antrittsrede von Rohpol gelauscht, bayerisch-zackig und knapp. Und er hatte gedacht, dass der Mann es versäumt hatte, den sanften Pol seiner Persönlichkeit zu entwickeln, jenen, welchen man brauchte, um Zeugen auf seine Seite zu bringen und Verdächtige im Verhör glauben zu lassen, man sei auf ihrer Seite. Rohpol hatte eine Seite, die war gut sichtbar, ein Pfeil, der nach oben zeigte, immer in Richtung Chefsessel. Steinberger hatte den Mann nie gemocht, jetzt war er froh, ihn zu sehen. Immerhin, man hatte keinen Lakaien geschickt.

Mit festem Handschlag und ebensolcher Stimme wurde er begrüßt und in ein leeres Büro dirigiert. Austausch von Erinnerungen, dann ein Moment der Stille. Allzu leicht würde man es ihm nicht machen. »Wegen des Toten im Stift gestern«, begann er. »Am Tiergarten«, fügte er hinzu.

»Richtig, richtig, Sie wohnen da, nicht wahr?« Sein Nachfolger klopfte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf Papier.

Steinberger nickte. »Es ist sozusagen in meinem Vor­garten passiert.«

»Und man weiß gern, was im eigenen Garten vorgeht.« Der andere hörte auf zu klopfen und setzte sich mit einer energischen Geste zurecht. »Es gab keine Hinweise auf ein Fremdverschulden.« Auch er schaute Steinberger nicht an. »Keine Abwehrverletzungen, keine verdächtigen Traumata, dafür ein fortgeschrittenes Karzinom. Wir gehen von einem Suizid aus.«

Sie springen manchmal. Steinberger hatte Dorotheas Stimme noch gut im Ohr.

»Keine Fingerabdrücke im Zimmer oder auf dem Balkon, die dort nicht hingehören?«, wollte er wissen.

»Außer Ihren, meinen Sie?« Steinbergers Gegenüber sah ihn jetzt voll an. Sein Grinsen enthüllte alle Zähne.

Steinberger erwiderte es mit makelloser Prothese. Dann ließ er seine Gesichtsmuskeln ruckartig erschlaffen. Der Effekt hatte schon vielen Menschen Furcht eingeflößt. Diesem hier nicht. Er neigte sich lediglich vor, um sich eine Fluse vom Hosenbein zu zupfen. »Hatten Sie einen besonderen Grund, sich im Zimmer des Verstorbenen umzusehen?«

»Nachbarschaftshilfe«, blaffte Steinberger. »Habt ihr denn überhaupt Fingerabdrücke genommen?«

Der andere fasste ihn genauer ins Auge: »Was für welche hätten wir denn finden sollen?«, erkundigte er sich. »Welche vom Personal? Von der Familie? Von Nachbarn?« Er ließ nach jeder Frage eine kleine Pause und suchte Steinbergers Gesicht nach einer Reaktion ab, die ihm die Richtung verriet, in die Steinbergers Gedanken gingen. Für einen Moment war seine aufgesetzte Jovialität verschwunden.

Steinberger versuchte, nicht das Mindeste preiszugeben.

Sein Gegenüber beendete die ergebnislose Inspektion und seufzte. »Gibt es denn irgendwelche Gerüchte?«, wollte er wissen.

»Gerüchte?«, konterte Steinberger. Er war nicht hierher gekommen, um zu erzählen. Er war gekommen, um etwas zu erfahren.

»Sie wissen schon, wie bei dem Fall kürzlich in Unterfranken. Angebliche Sterbehilfe der unerwünschten Art auf der Pflegestation und so. Die Presse stürzt sich auf solche Fälle. In dem besagten Fall war es am Ende nur leeres Gerede, eine entlassene Hilfskraft, die sich rächen wollte.« Er gab sich mitfühlend. »Hatte tragische Folgen.«

Argwöhnisch überlegte Steinberger: Was sollte ihm da mitgeteilt werden? Hielten die ihn für ein Klatschmaul? Für einen senilen Idioten, der seine Mitmenschen nicht einschätzen konnte? Für einen potenziellen Unheilstifter? Oder, fuhr es ihm alarmiert durch den Kopf: Wussten sie bereits, dass Quent dort lebte? Vermutlich hatten sie von seiner Fehde mit dem Mann gehört. Steinberger war damals nur knapp an der Anzeige wegen Rufmordes vorbeigeschrammt. Wie viele echte und falsche Mitleidsbekundungen hatte er sich anhören müssen nach seiner Versetzung. Argwöhnisch musterte er das Gesicht seines Gegenübers. Aber das, glatt rasiert bis auf den Schnurrbart, tief liegende dunkle Augen, loses Wangenfleisch, gab nichts preis. Steinberger wartete.

Der andere setzte sich abrupt auf. Er schlug sich auf die Schenkel und lachte jetzt wieder. »Wissen, wann man abtreten muss, was? Wir dachten alle schon, Sie würden es nie packen. Und jetzt: Stiftsherr, mein Respekt.«

Die Audienz war offensichtlich beendet. Steinberger presste die Lippen zusammen.

»Zugegeben, Sie sind Besseres gewohnt. Es ist nicht Dubai, schätze ich.«

»Brunei«, verbesserte Steinberger automatisch.

»Stimmt es, dass sie da Kronleuchter aus massivem Gold haben? Die sie sich in die Zelte hängen?«

Steinberger ersparte sich die Antwort, die auch nicht erwartet wurde. Er stand auf.

Der andere war schon auf den Beinen. Er geleitete ihn mit Gesten zur Tür. »Draußen warten ein paar von den Jüngeren, die gern ein Autogramm in ihre Lehrbücher hätten, glaub ich. Sie sind ja eine Legende.«

Und Steinberger begriff, was Legenden vor allem ausmachte: Sie handelten von Toten. Von lange schon Toten.

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook)

Подняться наверх