Читать книгу Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber - Страница 9
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»Ich glaube, ich verliere den Verstand. Oder aber die Welt wird verrückt. Neulich sagte der Kaminkehrer aus heiterem Himmel zu mir: ›Zieh dich aus.‹ Ich habe mit dem Gehstock ausgeholt und ihn erschlagen. Es war Notwehr. Was gedenken Sie zu unternehmen?«
Die Pressereferentin des Stifts, Martina Hinterbauer, schaute die zarte alte Frau mit dem goldenen Perückenhelm an, die ihr auf ihren Rollator gestützt diesen Vortrag hielt, und seufzte. Es war wirklich an der Zeit, dass sie für Frau Sörgel einen Platz im Demenzbereich des Stiftes fanden. Sie hatten schon genug mit dem Tod zu tun, auch ohne dass dauernd jemand Leichen dazuerfand. Sie hatte mit diesen Themen im Grunde gar nichts zu tun. Das hier war ein Fall für ihre Kollegen von der Pflege. Noch dazu mitten in der Ladenpassage, wo jeder es hören konnte. Aber sie durfte sich vor den möglichen Zuhörern unter den Passanten keine Blöße geben.
»Meine Liebe«, versuchte sie es, da die Dame nun einmal vor ihr stand, »in den Stifts-Appartements verkehren keine Kaminkehrer. Allerdings gibt es einen Etagenbetreuer, Mikael, Sie kennen ihn«, sagte sie mit mildem Tadel in der Stimme. »Mikael hat ein blaues Auge und eine Aufschürfung an der Schläfe und ist sehr traurig, dass Sie sich nicht von ihm den Blutdruck messen lassen wollten.« Was die Referentin nicht sagte, war, dass Mikael aus Eritrea kam. Rassismus war kein Problem, das es in ihrem Stift gab.
Sie redete weiter, doch es gelang ihr nicht, Frau Sörgel zu beruhigen, das konnte sie an deren Gesicht sehen. Dort zeichneten sich andere Gedanken ab, in ihrem verwirrten Hirn entstand schon eine neue, abwegige Geschichte, vielleicht: Neulich zeigte ich einen Mord bei der Polizei an. Die Kommissarin glaubte mir nicht. Sie sagte nur, es gebe keine Mafia, und lächelte auf eine besondere Weise, die mir klarmachte, dass ich die Nächste wäre. Deshalb musste ich sie leider töten.
Die Hand der alten Dame kratzte und rupfte am Rollatorgriff. Das Zittern wanderte ihren Arm hinauf. Die Referentin griff nach dem Notfallsendegerät in ihrer Tasche, dessen Existenz sie stets leugnen würde.
»Was machen Sie da?«, krähte Frau Sörgel alarmiert. »Was ist da in Ihrer Tasche?«
»Nichts«, erwiderte Frau Hinterbauer und lächelte.
Als zwei Pfleger gekommen und Frau Sörgel mit freundlich ablenkenden Worten in ihr Zimmer zurückgeführt hatten, trat sie an eines der Panoramafenster. Was für eine schöne Anlage, was für ein schönes Haus. Alles war friedlich, alles kultiviert. Es gab Konzerte, Ausstellungen, Tanzabende, Vorträge. Tote Kaminkehrer hingegen nicht. Gestorben wurde zwar genug, vor allem in der stationären Abteilung. Aber das war erwartbar in einem Altenstift und sie gingen professionell damit um. Leise, hygienisch und mit Pietät. Es dauerte keinen Tag, dann war das Zimmer geleert; sie erledigten das unauffällig während der Spätschicht. Niemand, der nicht wollte, brauchte etwas von dem Sterben ringsum mitzubekommen. Für die, die wollten, wurden kleine Gesprächsrunden angeboten, mit Kerzen und Tüchern auf dem Tisch und einer Pastorin, die über Trauer sprach, doch sie waren schlecht besucht. Jeder konzentrierte sich lieber auf das Leben, das ihm selbst noch blieb. Die Pressereferentin wandte sich vom tröstlichen Anblick des Gartens ab. Nein, sie brauchten wirklich keine zusätzlichen Leichen. Sie ging zurück an ihren Tisch und machte sich eine Notiz, dass ihre Kollegin von der Pflege mit Frau Sörgels Ärztin über eine neue Medikation sprechen sollte.
»Entschuldigen Sie, meine Dame.«
Sie betrachtete den Nähertretenden mit höflich kaschiertem Misstrauen, bis sie den Neuzugang erkannte: »Herr Steinberger, wie nett. Haben Sie sich denn schon eingelebt?«
Der alte Herr ihr gegenüber zeigte nur leichte Anzeichen von Schmerzen. Die Knie, diagnostizierte sie in Gedanken, vermutlich ein künstliches Hüftgelenk. Trotzdem noch immer eine imponierende Gestalt. Sie hatte irgendwo gehört, er habe einen schwarzen Gurt. Sein grauer Raubvogelblick war wach, das zerklüftete Gesicht mit den tiefen, fast stehenden Falten von der Nase zu den Mundwinkeln wirkte asketisch. Ohne wie ein Naturbursche auszusehen, hatte er doch die geerdete, ein wenig rohe Ausstrahlung von jemandem, der in seinem Leben viel draußen unterwegs gewesen war. »Haben Sie sich denn schon mit unserem Kulturangebot vertraut gemacht?«
»Ich spreche Sie wegen der Dame an, die Sie eben aufgesucht hat.«
Die Pressereferentin hob die Brauen. »Frau Sörgel? Richtig, sie wohnt auf Ihrem Gang. Sie hat Sie doch nicht belästigt? Frau Sörgel braucht im Moment unser aller Nachsicht und Geduld.«
Der Kommissar beruhigte sie. »Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man ihre Aussagen nicht völlig abtun darf. Gestern beispielsweise erklärte sie mir, dass in dem Blumenbeet unter ihrem Fenster eine Leiche gelegen habe. Ich habe mir daraufhin erlaubt, das besagte Beet in Augenschein zu nehmen.«
»Es tut mir wirklich leid«, fiel die Pressereferentin ihm ins Wort. »Frau Sörgel ist leider bekannt dafür, ein wenig beeinträchtigt zu sein. Wir alle kennen sie schon sehr lange und tragen ihre Launen mit Geduld. Aber es wird in der Tat Zeit, nach adäquateren Betreuungsmöglichkeiten für sie Ausschau zu halten.« Als sie seinen unbewegten Gesichtsausdruck sah, fuhr sie fort: »Ich möchte Ihnen versichern, dass es in unserem Stift natürlich noch nie eine Leiche im Blumenbeet gegeben hat und …« Sie verstummte gequält. Waren denn heute alle Irren verschworen, ihr über den Weg zu laufen? Ihr schweifender Blick fiel auf einen Mann mit Krücke und Rucksack, so prallvoll gepackt, dass er schon fast wie eine Karikatur wirkte. Frau Hinterbauer fühlte sich müde.
»Ich war Polizeibeamter«, erinnerte Steinberger sie, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Du bist alt, dachte sie prompt und sagte schnell, ehe er ihr auch diesen Gedanken vom Gesicht ablas: »Wildschweine. Wir hatten schon ein paarmal Probleme mit Wildschweinen auf dem Gelände. Sie kommen aus dem Reichswald und machen sich über die Grünanlagen her. Das ist schwer zu verhindern.«
Er hatte den Kopf schräg geneigt und fragte, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Hatten Sie viele Diebstahlsfälle in der letzten Zeit?«
»Diebstahl?«, entgegnete sie entrüstet. »In unserem Stift gab es seit Jahren keinen solchen Fall.« Sie fächerte sich Luft zu. »Wie kommen Sie nur darauf?«
»Kein verschwundener Schmuck? Kein vermisstes Bargeld? Ich könnte mir denken, dass es sehr geschickt angestellt wurde. Von einer Persönlichkeit, die sich darauf versteht, vertrauensselige Menschen auszunutzen.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fuhr sie auf. Sein Blick ließ sie wieder ein wenig kleiner werden.
»Schon möglich«, sagte sie in sehr distanziertem Ton, »dass die eine oder andere Bewohnerin so etwas behauptet hat. Das kommt immer wieder vor. Aber wir gehen jedem Vorwurf nach. Und es hat sich noch jedes Mal erwiesen, dass das fragliche Objekt nur verlegt worden war. Unser Personal ist handverlesen und ...« Sie hielt inne. »Machen Sie sich keine Sorgen«, fügte sie an. »Im Übrigen gäbe es für diesen Fall ja Ihre kompetenten jungen Kollegen, die uns sicher gerne helfen würden. Sie können sich da ganz getrost entspannen, Herr Steinberger.« Sie lächelte ihn so lange an, bis sie das Gefühl hatte, die Botschaft sei bei ihm angekommen. »Natürlich werden wir uns jederzeit an Sie wenden, wenn wir glauben, von Ihrer reichen Erfahrung profitieren zu können. Guten Tag.«
Der Kommissar schaute ihr nachdenklich nach, als jemand an ihn herantrat. »Sie hat recht, was die Wildschweine angeht, wissen Sie?« Es war Dorothea Kranz, die junge Kunststudentin.
Er schüttelte sich. »Wildschweine wühlen. Und sie hinterlassen charakteristische Fährten, junge Frau. Keine Fußabdrücke.«
»Spannend!« Ihre Augen leuchteten auf. »Und wohin führen die Abdrücke?«
Der Kommissar überlegte kurz.
»Ach, kommen Sie schon. Hier passiert sonst selten etwas Aufregenderes als ein verrutschtes Tutu beim Kinderballett.«
»Na gut, ich zeige es Ihnen.« Gemeinsam gingen sie an der kleinen Edeka-Filiale vorbei, an der Bank und dem Friseur. Vor dem Laden mit Seniorenbedarf blieb der Kommissar einen Moment stehen. Er tippte dem Inhaber auf die Schulter. »Passen Sie auf den Mann mit dem gelben Spazierstock auf«, sagte er. »Der klaut Schuheinlagen.« Er ließ den verblüfften Geschäftsmann ohne weiteren Kommentar zurück.
»Sie sind witzig.« Dorothea musste lachen. »Das hätte ich bei unserer ersten Begegnung gar nicht gedacht.«
»Es war keineswegs witzig gemeint. Der Mann hat sich in der Woche, die ich hier wohne, schon zum dritten Mal bei den desodorierten Einlagen bedient.«
»Ich schätze, Ihre Kinder haben Sie gehasst«, meinte Dorothea. »Man konnte wohl nichts vor Ihnen verbergen, oder? Oh, Entschuldigung«, fügte sie hinzu, als sie sein Gesicht sah. »Sie verstehen sich wohl nicht gut mit Ihren Kindern?«
»Mein Sohn ist tot«, sagte er. »Ein Sportunfall.«
»Oh.« Eine Weile wagte sie es nicht, ein neues Thema anzuschlagen. Endlich standen sie vor dem Beet. Es lag näher beim hinteren der beiden Wohngebäude, um diese Zeit im Schatten.
Dorothea folgte dem Blick des Kommissars und sah, was er ihr zeigte: den runden Umriss am Boden, wo etwas Schweres gelegen haben musste, die schmale Schneise durch die aufrecht stehen gebliebenen Astern ringsum, den Teilabdruck von etwas, das ein Absatz sein mochte. Jedenfalls war es keine Schweinepfote.
»Und die Spur führt hinaus«, erläuterte Steinberger. »Nicht hinein. Was immer da lag, muss quasi vom Himmel gefallen sein.«
Unwillkürlich ging ihrer beider Blick die Häuserfassade hinauf, wo sich Stockwerk an Stockwerk die Balkone reihten.
»Manchmal«, sagte Dorothea zögernd, »springen sie. Meistens aus den oberen Stockwerken. Wir reden hier nicht viel darüber.«
»Wer hier gesprungen ist, der wurde nicht auf einer Bahre weggetragen.« Steinberger musterte das Bauwerk. »Er ist auf dem Hintern gelandet, aber auf seinen heilen zwei Beinen weggelaufen. Und er hat mit niemandem hier über sein Abenteuer gesprochen.«
»Ein Einbrecher, jetzt verstehe ich, wie Sie darauf kommen.« Dorothea überlegte. »Es könnte aber auch ein Romeo gewesen sein, meinen Sie nicht? Eine missglückte Balkonszene oder der geglückte Versuch, vor einem überraschend heimkehrenden Gatten zu flüchten.« Als sie seinen Blick sah, fügte sie hinzu: »Wir haben einige Paare hier im Stift. In den Zweizimmerappartements ist das keine Seltenheit.«
Steinberger grunzte.
»Oder ein Betrunkener«, rätselte Dorothea weiter. »Dem es nachher peinlich war. Falls er überhaupt etwas davon mitbekommen hat.«
Steinberger stand da wie eine Statue.
»Wieso«, fragte Dorothea, »sind Sie so sicher, dass es ein Einbruch war? Sie brüten da doch an etwas herum.«
Jetzt wandte er sich zu ihr um, schwieg jedoch.
»Mir können Sie es doch sagen«, drängte sie.
Er hielt ihren Blick fest. »Genau da bin ich mir nicht sicher.«
Sie blinzelte nicht. »Was haben Sie zu verlieren?« Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich habe ein bisschen Talent zum Detektiv. Ich könnte Ihnen wertvolle Tipps geben.«
Jetzt lächelte der Kommissar, ein wenig gönnerhaft, einen Tick überheblich.
Bis sie sagte: »Ich könnte Ihnen zum Beispiel den Tipp geben, dass die Frau Hohoff jeden Mittwoch bei mir in der Kreativgruppe sitzt. Sie aquarelliert gerne und nicht mal ohne Talent. Ihr Lieblingsmaler, nur zur Information, ist William Turner.« Sie blinzelte. »Der Herr Quent ist übrigens nicht dabei.«