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EINLEITUNG WENN GLAUBE FEUER FÄNGT

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Berlin, Februar 2012. Tim humpelt die großen Stufen der aufgeheizten Straßenbahn hinauf. Es ist ein kalter und rauer Freitagmorgen. Draußen wird es allmählich heller. Die Umrisse der eintönigen Stadtgebäude, die vor Kurzem noch in schwarze Dunkelheit gehüllt waren, nehmen langsam wieder Gestalt an. Berlin erwacht zum Leben.

Die rote Lampe über der geöffneten Straßenbahntür rechts neben mir beginnt zu blinken. Ein nervtötendes Warnsignal erklingt. Die automatisch gesteuerten Türen schließen sich. Ich sitze im hinteren Teil der überfüllten Straßenbahn. Wie jeden Morgen, wenn es zur Schule geht. Vielleicht ist das Ambiente nicht das schönste, dennoch verspüre ich in diesem gelb lackierten Ding ein gewisses Gefühl von Gemütlichkeit. Jeden Morgen neu. Ich weiß auch nicht so genau.

Vorsichtig nehme ich einen Schluck aus meinem warmen Thermobecher. Schwarzer Tee. Ich spüre, wie die heiße Flüssigkeit langsam durch mein Innerstes strömt. Eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Oberkörper aus. Ich schaue durch das zerkratzte Fenster und erkenne auf der anderen Straßenseite frierende Passanten, die offenbar auf eine andere Linie der viel befahrenen Haltestelle warten. Ich fröstele innerlich beim Anblick dieser in der rauen Kälte stehenden Leute und nehme einen zweiten Schluck von meinem heißen Getränk.

Plötzlich geht ein spürbarer Ruck durch die Straßenbahn. Es scheint weiterzugehen. Von meinem Sitzplatz aus entdecke ich Tim, der in den vorderen Teil der Bahn eingestiegen ist. Er hat gravierende Schwierigkeiten zu laufen. Der enge Gang, der durch die stehenden Fahrgäste fast komplett blockiert ist, macht es ihm doppelt schwer. Unsere Blicke treffen aufeinander. Er versucht, sich zu mir durchzukämpfen. Jeder seiner Schritte scheint ihm einen dumpfen Schmerz durch den Körper zu jagen. Was hat er nur gemacht?, überlege ich.

„Ich bin gestern beim Basketballtraining umgeknickt. Und weil ich es nicht lassen konnte, habe ich weitergespielt und bin ein zweites Mal blöd auf meinem Fuß aufgekommen“, erklärt er mir etwas erschöpft, nachdem er sich mühsam durch die Straßenbahn gekämpft hat. „O Mann, das tut mir echt leid“, sage ich. „Du kannst es offenbar echt nicht lassen.“ „Du kennst mich“, gibt Tim mit einem kleinen Lächeln zurück. Tatsächlich kenne ich ihn. Er ist einer meiner Mitschüler im Abitur. Und was für einer!

Wenn ich ehrlich bin, konnte ich Tim lange Zeit überhaupt nicht leiden. Als er eines Tages von meinem christlichen Glauben erfuhr, wurde ich zur Zielscheibe seiner hitzigen Angriffe. Er liebte es einfach, sich mit anderen anzulegen – und offenbar am liebsten mit mir. Keine Ahnung, warum. Mein Glaube erschien ihm so unsinnig, dass er sich mit einer unberechenbaren Leidenschaft gegen mich stellte. Er hatte Spaß daran, sich über mich lustig zu machen, mich auszulachen und in öffentlichen Diskussionen bloßzustellen.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie Tim mir im Biologieunterricht beim Thema Evolution unterschwellig klarzumachen versuchte, dass mein biblischer Glaube völlig überholt sei. Er schaute mich spöttisch an, stichelte mit seinen abfälligen Kommentaren und konnte kaum den triumphalen Moment abwarten, in dem ich das Handtuch schmeißen würde. Das schien sein höchstes Ziel zu sein. Auf dem Schulhof wiederholte sich das Spiel. O Mann, das war schon echt ein Ding.

Obwohl ich jeden Grund gehabt hätte, Tim den Rücken zu kehren, sagte eine innere Stimme zu mir, dass ich an ihm dranbleiben sollte. Ich fing an, für ihn zu beten, ihn zu segnen und an das Unmögliche zu glauben. Es war verrückt. Je mehr ich für Tim betete, desto größer wurde meine Leidenschaft dafür, ihm von Jesus und seiner heftigen Botschaft zu erzählen. Ich glaube, es war Gottes übernatürliche Liebe, die mich dazu bewegte, Tim nicht abzuschreiben.

Damals wohnte ich noch zu Hause bei meinen Eltern und Geschwistern am südöstlichen Stadtrand von Berlin. Wir hatten ein gemütliches Einfamilienhaus, in dem ich meine gesamte Kindheit verbrachte. Vor Kurzem hatte ich die Leidenschaft für mich entdeckt, mein kleines Zimmer in eine epische Konzerthalle zu verwandeln. Warum auch nicht, oder? Ich stellte mir auf YouTube meine eigene Worship-Playlist zusammen, drehte die Lautstärke voll auf und feierte vor meinem Bildschirm stehend Jesus. Ich liebte es, Gott auf diese Weise großzumachen und für die Menschen in meiner Umgebung zu beten.

Mit meinen „Sessions“ beschallte ich beinahe das gesamte Haus. Meine Mama war zu Recht etwas besorgt um unsere Oma, die ein Stockwerk unter uns wohnte. Die dumpfen Bässe der Worship-Songs schienen wohl das größte Problem zu sein. Obwohl ich an meine Zimmertür einen Zettel mit der Aufschrift „Bitte nicht stören“ befestigt hatte, kam es öfter vor, dass meine Mama anklopfte und sagte, ich solle leiser machen.

Haha, heute kann ich darüber echt lachen: Ich wollte nicht gestört werden und störte dabei jeden anderen. Durchaus rücksichtsvoll, würde ich sagen … Doch in diesen Augenblicken gab es für mich eben nur eins. Ich war begeistert von Jesus, von seiner Kraft und seiner alles übersteigenden Liebe. Genau aus diesem Grund wollte ich auch, dass Tim diesem einen Gott ganz persönlich begegnete. Ich spürte, dass etwas in der Luft lag und die Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben war. Also betete ich in voller Lautstärke und Leidenschaft in meinen „Sessions“ für Tim.

Gleichzeitig versuchte ich, in der Schule sensibler mit ihm zu reden, ihm zuzuhören und Chancen zu erkennen. Und tatsächlich bewegte sich etwas in unserem Kontakt. Die Gespräche wurden ehrlicher und tiefgründiger. Tim öffnete sich und wurde neugierig für das, woran ich glaubte. Immer mehr durfte ich verstehen, dass seine krasse Abneigung gegen meinen Glauben eine viel tiefere Wurzel hatte, als ich zuerst angenommen hatte. Völlig verzweifelt suchte Tim nach einem tieferen Sinn im Leben. Er war frustriert, enttäuscht und unzufrieden mit dem, was er tat.

Er konnte es einfach nicht fassen, dass jemand, der einem scheinbar so unsinnigen Glauben nachjagte, so positiv und glücklich sein konnte. Wie war das möglich? Und weil er mein Glück nicht ertragen konnte, sah er seine einzige Möglichkeit darin, mir den Glauben auszureden und mich fertigzumachen. Später erfuhr ich, dass ich nicht der erste Kandidat war, bei dem er das versuchte. Doch vielleicht sollte ich der letzte gewesen sein …

Ich erinnere mich besonders an einen Abend, an dem wir über Facebook ewig hin- und herschrieben. Zum ersten Mal hatte ich die Chance, ihm das Evangelium zu erklären. Es war elektrisierend. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass wir beide einmal so einen Deep-Talk führen würden. Wahrscheinlich wäre es in der Schule auch nicht dazu gekommen, doch in diesem Moment passierte es online. Ich blendete alles andere aus, fokussierte mich ausschließlich auf den Chat. Unbemerkt verging die Zeit.

Ein tiefes Gefühl von Begeisterung entfachte mein Herz. Gott war gerade dabei, meine Gebete zu erhören! Tim stellte Fragen über Fragen, suchte Antworten, war plötzlich interessiert, aufgeschlossen und tief angesprochen von dem, was ich ihm über meinen Gott aus der Bibel erzählte. Ich schickte ihm ein bekanntes Lied von Planetshakers, um ihm ein Bild davon zu geben, wie sehr der Glaube an Jesus mein Leben bestimmte. Das Lied hieß „Like a Fire“. Bis heute verbinde ich mit diesem Song eine unfassbar tiefe Leidenschaft. Tim wollte kaum glauben, wie modern Kirche heute sein kann. Es berührte ihn, die vielen Menschen zu sehen, die mit so einer großen Begeisterung zu diesem einen Jesus sangen.

Am Abend schickte ich ihm noch weitere Videos, die das Evangelium gut auf den Punkt brachten. Schon erstaunlich, oder? Ich benutzte Clips, um die Gute Botschaft zu erklären. Tja, herzlich willkommen im 21. Jahrhundert! Tim bedankte sich für den intensiven Chat und schrieb, dass er sich auf weitere Gespräche freuen würde.

Als wir uns verabschiedet hatten, sank ich erleichtert in meinen Schreibtischstuhl zurück. Heftig! Ich konnte kaum glauben, was gerade passiert war. Langsam griff ich mit der Hand nach der Computermaus und drückte erneut auf PLAY. Like a Fire. Andächtig lauschte ich der Musik. Der melodische Sound erfüllte nach und nach jede Ecke meines Zimmers. Ich stand auf. Innerlich bewegt, aufgewühlt, den Tränen nah. „Jesus I’m desperate for You. Jesus I’m hungry for You. Jesus I’m longing for You. Lord You are all I want.“ Es fühlte sich an, als ob ich für einen kurzen Moment Gottes ungefilterte Liebe spüren konnte. Es war einfach unbeschreiblich. Gott war gerade dabei, denjenigen, der mich am meisten für meinen Glauben auslachte, in seine offenen Arme zu führen. Er war tatsächlich dabei, das Unmögliche zu tun. Und er gebrauchte mich dazu. Er gebrauchte mich, um Tim zu zeigen, wie sehr er ihn liebte. Wahnsinn. Voller Leidenschaft drehte ich die Musik lauter. Ich konnte nicht anders. Oma schlief sicher schon ganz fest …

„Ja, ich glaube, ich kenne dich wirklich ein bisschen“, antworte ich augenzwinkernd, während Tim sich am Gestänge der Straßenbahn festhält. „Ich hoffe, du wirst schnell wieder fit!“, ergänze ich voller Zuversicht. „Das hoffe ich auch. Wir haben morgen ein Basketballspiel“, erwidert Tim etwas betrübt. „Du willst doch nicht ernsthaft da mitspielen!?“, gebe ich überrascht zurück. „Na ja, in dem Zustand macht das wohl tatsächlich keinen Sinn.“

Ich kann Tims Enttäuschung gut verstehen. Schließlich ist er eine der größten Sportskanonen, die ich kenne. Für ihn gibt es keine halben Sachen. Entweder ganz oder gar nicht. Und nun steht er da und kann sein Team nicht unterstützen. „Na ja, wird schon“, meint Tim, aber ich höre die Resignation in seiner Stimme.

Ein Sitzplatz wird frei. Tim setzt sich erleichtert und atmet durch. Die Atmosphäre zwischen uns ist wirklich besser geworden nach unseren letzten Gesprächen über den Glauben, denke ich. Der intensive Chat liegt nur wenige Wochen zurück. Während ich erneut aus dem zerkratzten Fenster gucke, spüre ich plötzlich einen starken Eindruck in meinem Herzen. Bete für ihn. Ich möchte ihn heilen. Regungslos und etwas perplex schaue ich unverändert aus dem Fenster. Als hätte mich jemand angesprochen und ich würde so tun, als hätte ich ihn nicht gehört. Was soll ich machen? – Bete für ihn. Ich möchte ihn heilen, flüstert es zum zweiten Mal in meinem Inneren.

Die Worte sind so klar, als hätte sie mir mein Sitznachbar gerade ins Ohr gesagt. Dann wiederholt sich der eindringliche Impuls zum dritten Mal. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass Gott persönlich zu mir redet. Meine Gedanken überschlagen sich. Fragen rasen an mir vorbei wie die eintönigen Gebäude vor dem Straßenbahnfenster. Warum ich? Hier in der Bahn? Wie soll ich das machen? Hat Gott wirklich zu mir geredet oder rede ich mir das alles nur ein? Doch der Eindruck bleibt. Ein tiefes Gefühl von Unsicherheit und Beklemmung überwältigt mich.

Ich konnte zu diesem Zeitpunkt an einer Hand abzählen, wie oft ich jemandem meine Hand aufgelegt hatte, um konkret für übernatürliche Heilung zu beten. Meine Familie kam aus einem christlichen Hintergrund, der ziemlich konservativ eingestellt war und diesen spontanen Wundern nur bedingt Glauben schenkte. Natürlich konnte Gott Krankheiten heilen, doch er würde es heute nicht mehr so tun, wie er es damals durch die ersten Christen getan hatte. So war jedenfalls unser Denken.

Ich möchte an dieser Stelle nicht abwertend über diese Glaubenseinstellung reden. Auch sie hat ihre Geschichte und ihre Argumente. Es wäre falsch, sie als kleingläubig abzustempeln. Es stehen nur andere Dinge im Mittelpunkt. Als ich noch ein Kind war, entschlossen sich meine Eltern, zusammen mit ein paar anderen Leuten einen neuen Schritt zu wagen. Sie verließen die bekannten Kreise und steckten ihre Energie in Gemeindegründungsprojekte in Berlin. Allerdings kam auch dort eine Vielzahl der Besucher aus ziemlich konservativen Gemeinden, wodurch das Erleben von spontanen Heilungen und Wundern nicht gerade im Fokus stand. So hatte ich nur wenig bis gar keine Berührung mit diesen Erfahrungen. Trotzdem lebte ich meinen Glauben mit voller Leidenschaft.

Rückblickend würde ich sagen, dass mir manchmal einfach der Horizont fehlte, um zu begreifen, was Gott heute alles noch tun konnte. Daran änderte unter anderem die Jesus Culture Konferenz im Oktober 2011 in Berlin etwas. Sie erweiterte meinen Radius tatsächlich auf eine besondere Weise. Selten zuvor habe ich erfahren, was es bedeutet, Gott ganz konkret einzuladen, übernatürlich zu wirken. Und das erlebte ich dort. Menschen wurden durch Gebet geheilt, an anderen Stellen wurde prophetisch in das Leben einzelner Teilnehmer gesprochen. Es war wirklich krass.

Gleichzeitig hörte ich auf der Konferenz bewegende Geschichten von gewöhnlichen jungen Leuten, die mit Gebet und Glauben ihre Schule positiv veränderten. Das war einfach abgefahren. All die Geschichten entfachten in mir ein stärkeres Feuer für Jesus. Ich verstand, dass da mehr ist. Mehr von Gott. Mehr zu erleben.

Am Samstagabend, den 1. Oktober 2017, spielten Jesus Culture in ihrem Konzert das Lied „Come Away“, in dem es heißt: „Come away with me. I have a plan for you. It’s gonna be wild.“ Während ich da in der Masse von Leuten stand, traf ich für mich die Entscheidung: „Ja, Gott, hier bin ich. Ich möchte deinem Plan folgen. Gebrauche mich und rock mein Leben.“ Auch wenn ich nichts dabei spürte oder sonst irgendetwas passierte, wusste ich tief in meinem Herzen, dass ich einen entscheidenden Entschluss gefasst hatte. Einen Entschluss, der mich ein Leben lang begleiten würde.

Auf der Konferenz traf ich außerdem einen flüchtigen Bekannten, für den diese übernatürlichen Geschichten ganz natürlich waren. Er hieß Simon und war nur ein paar Jahre älter als ich. Wir beschlossen, uns nach der Konferenz zu treffen, um uns über diese Dinge auszutauschen. Und das taten wir auch. Im Rückblick kann ich sagen, dass diese neu gewonnene Freundschaft wirklich ein göttliches Timing hatte. Durch Simon lernte ich ganz neu, was es heißt, Gott mehr Raum in seinem Alltag zu geben. Simon war es auch, der mich auf die Idee brachte, in meinem Zimmer Worship zu machen. Das hatte ich zuvor überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt. Und so wurden aus einem Treffen mehrere Treffen und aus einem flüchtigen Kontakt eine Freundschaft. Eine Freundschaft, die mich auf den Moment in der Straßenbahn vorbereitete.

Da sitze ich also fünf Monate nach dieser besonderen Konferenz und Gott gibt mir den Eindruck, für Tim zu beten. Ich erinnere mich an die großartigen Geschichten, die ich dort gehört hatte. Vielleicht ist jetzt der Moment, in dem Gott auch mich gebrauchen möchte, um ein Wunder zu tun, denke ich.

Ich stehe von meinem Sitz auf, trete entschlossen auf Tim zu und frage ihn, ob ich für seinen Fuß beten kann. Tim nickt verdutzt. Während alle Menschen um uns herum zugucken, gehe ich im Gang auf die Knie und berühre seinen verknacksten Fuß. Ich bete laut mit Glauben. Dann frage ich, ob es besser geworden ist …

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