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Оглавление»Mein Verdacht übrigens wegen einer Schwangerschafft verlohr sich zimmlich« Der Pfarrer M. Ludwig
In den frühen Abendstunden des 31. Oktobers 1784 erhält das Cannstatter Oberamt diesen Brief:
Hochlöbl. gemeinschaftliches Oberamt! Schrökliche Geschichte! Meines Schultheißen Tochter hat ein Kind geboren und erwürgt, ich zeige dieses in gröster Eil an, damit ein hochlöbl. Oberamt die nöthige Verfügung treffen kann, ich bin außer Stand noch etwas ganzes zu berichten, biß Morgen das nähere (29).
Unterzeichnet hat diese kurze Meldung M. Ludwig, der im Dorf Uhlbach die Pfarrstelle innehat. Was war geschehen?
Seit einiger Zeit hält sich im Dorf hartnäckig das Gerücht, die ledige Anna Maria, Tochter des Schultheißen Johann Michael Ohnmaiß, erwarte ein Kind. Ganz sicher ist sich niemand, aber seit der Verdacht aufgekommen ist, steht die junge Frau unter der verschärften Kontrolle der Dorfbewohner, und ihr Körper ist in den Mittelpunkt des dörflichen Interesses gerückt. Es wird gemunkelt, spekuliert, aber auch genau beobachtet. Anfang Oktober platzt die Magd des Pfarrers in seiner Wohnstube heraus, »daß die Sage wegen einer Schwangerschafft der Anna Maria Ohnmeißen eben doch richtig seyn solle, und daß sie immer diker werde« (30).
Es soll »eben doch« wahr sein nicht nur unverhohlene Neugierde und Sensationsgier beinhaltet diese Formulierung: Zum einen dokumentiert sie ein individuelles Rechthaben der Magd, die als Angehörige der Unterschicht intellektuell zwar nicht mit dem Pfarrer (oder anderen Mitgliedern der Oberschicht) konkurrieren kann, die aber durch ihre Geschlechtszugehörigkeit die Zeichen einer Schwangerschaft deuten kann. Zum anderen sie ist auch Indiz für die Front, die sich zwischen der SchultheißenFamilie und ihren loyalen Anhängern auf der einen und den schadenfrohen, vielleicht gar feindseligen Dorfbewohnern auf der anderen Seite gebildet hat und die in dem »eben doch« an eine Wette gemahnt.
Pfarrer Ludwig gehört zu den Loyalen. Er spricht von »meinem« Schultheiß, ein PossesivPronomen, das in diesem Fall wohl nicht nur Wortschatz des kirchlichen Hirten ist, der von einem Schaf seiner Herde spricht, sondern auch auf seine enge Verbundenheit zur Familie Ohnmaiß verweist. Sie wisse, sagt er später zu Anna Maria, daß er »ein guter Freund zu ihrem Vater und Hauß« sei. Diese freundschaftliche Beziehung findet ihren Ausdruck nicht nur in der Bestürzung, die den Pastor nach der Tat ergreift, sondern auch in seinem Verhalten Anna Maria gegenüber.
Auf die Erzählung der Magd hin begibt sich Pfarrer Ludwig am Sonntag in das Ohnmaißsche Haus. Seit die Mutter Agnes Catharina im April 1782 verstarb, kümmert sich die fünfundzwanzigjährige Anna Maria um den Vater, den fünf Jahre jüngeren Bruder Christian Fridrich und die vierzehnjährige Schwester Christina Catharina. Die ältesten Brüder, der 1745 geborene Johann Michael und der 1753 geborene Georg Gottlieb, haben im Dorf eine eigene Familie gegründet. Die ältere Schwester lebt mit ihrem Ehemann, dem Schuhmacher Kinzelbach, in Stuttgart.
Als Pfarrer Ludwig »seinen« Schultheißen besucht, ist auch diese »älteste Tochter« anwesend. Anna Maria läßt sich nicht blicken. Vielleicht ahnt sie, weshalb der Pastor ins Haus gekommen ist, und belauscht mit klopfendem Herzen, wie Pfarrer Ludwig ihrem Vater die »Sage« von ihrer Schwangerschaft vorhält. Der Schultheiß leugnet nicht, daß auch ihm diese Gerüchte zu Ohren gekommen seien. Er beteuert jedoch, »daß es deme unmöglich seyn könne und werde« und führt als Begründung an: »weil nicht nur er sondern auch seine andern Kinder so ernstlich mit Bitten und drohen in diese Tochter gedrungen, daß sie es gewiß würde gestanden haben, wann es dann so wäre«, und »daß es eben eine Congestio Sanguinis menstrui seye, durch welchen Umstand sie mehrmalen schon in ihrer Gesundheit gelitten« (31).
Die anwesende älteste Tochter mischt sich in das Gespräch ein. Auch sie verteidigt Anna Maria, doch ihr Beitrag zum Thema ist kurz und prägnant und läßt auf eine gewisse Feindseligkeit gegen den Pfarrer schließen. Sie »äußerte sogar«, berichtet Ludwig,
daß es nur eine natürliche Stärke seyn könne, ihre Schwester hätte gut zu essen und zu trinken, und keine weitere Sorge, wobey es sich leicht stärker werden ließe.
Im Bericht des Pfarrers Ludwig folgt dieser Aussage ein langer Gedankenstrich. Nutzen wir diese DenkPause, dieses vielleicht unbewußt gesetzte Zeichen: Anna Maria Ohnmaiß befindet sich zu dieser Zeit im neunten Monat ihrer Schwangerschaft. Daß ihr Zustand, wenn schon nicht auf Gravidität, so doch auf eine Krankheit verweist, ist auch der älteren Schwester klar; es muß ihr um so klarer sein, da die ganze Ohnmaißsche Familie, ja sogar das gesamte Dorf vom Ausbleiben ihrer Menstruation weiß.
Wenn die älteste Schwester sogar über den vom Vater angestellten Erklärungsversuch einer pathologischen Erscheinung hinweggeht und statt dessen vom guten Essen und Trinken als Ursache einer »natürlichen Stärke« spricht, weist sie damit die Wißbegierde des Pfarrers rigoros, wenn auch freilich erfolglos, in ihre Schranken. In ihrer Aussage, äquivalent der Äußerung der Magd des Pfarrers, manifestiert sich, daß Schwangerschaft und Frauenkrankheiten, also die Kenntnis des weiblichen Körpers, explizit einer Frauendomäne zugerechnet werden, die Männer ausgrenzt. Während der Vater dem Pastorenfreund willig Rede und Antwort steht und ihm anbietet, er möchte seine Tochter »selbst darüber hören«, verteidigt die älteste Schwester Anna Maria Ohnmaiß. Offensichtlich möchte sie sie vor der Qual einer solch intimen Befragung durch den Pfarrer schützen, die in ihren Augen höchst überflüssig ist, da sie ihm als Mann jede Urteilsfähigkeit abspricht.
Pfarrer Ludwig berichtet weiter, daß er »jedoch« der Aufforderung des Vaters folgte. Er nimmt Anna Maria Ohnmaiß »in ein besonderes Zimmer«. Daß sie im Familienkreis nichts gestehen wird, nicht durch Bitten noch durch Drohungen, hat er der Erzählung des Vaters entnommen. Pfarrer Ludwig schafft also eine abgeschirmte Atmosphäre. Er betont zunächst seine freundschaftlichen Beziehungen zum Haus und bietet konkrete Hilfe an: Sie solle gestehen, und er
wollte nicht nur suchen, die Sache bey ihrem Vater gut zu machen, sondern auch so stiller zu behandeln, daß es keinen so großen Lerm im Ort seyen solle.
Anna Maria macht den Mund nicht auf. Der »Lerm im Ort« existiert schließlich jetzt schon, da sie noch nicht einmal geboren hat. Sie ist aufgewachsen in diesem Dorf. Sie kennt seine Spielregeln. Daß der Lärm noch größer wird, sollte sie ein nichteheliches Kind bekommen, ist ihr ebenso klar wie die Tatsache, daß es nicht in der Macht des Pfarrers liegt, etwas daran zu ändern. Auch sein Versprechen, die Sache »stiller zu behandeln«, wird sie vor dem Gespött, dem Hohn und den Anfeindungen nicht schützen.
Als Ludwig merkt, daß er so nicht weiterkommt, ändert er seine Taktik. Er verweist sie auf ihren dicken Leib, er verwarnt sie »vor einer nun unzeitigen Schamhaftigkeit« und legt ihr die Folgen einer heimlichen Geburt dar: Sollte das Kind tot und ohne Zeugen zur Welt kommen, so hätte sie einen peinlichen Prozeß auszustehen, »wann sie auch keinen bösen Gedanken gehabt«. Anna Maria reagiert auf diese Vorhaltung mit einer »Verwirrung«, leugnet aber weiterhin eine Schwangerschaft. Der Pfarrer verlegt sich aufs Bitten. Er appelliert an ihr Seelenheil, ihr christliches Empfinden. Den lieben Gott, den Vater, die Freunde bringt er ins Spiel: Sie solle doch in sich gehen,
sie müßte nothwendig ein Kind fühlen, wann sie schwanger seye, sie möchte hierüber die Wahrheit bekennen.
Aber Anna Maria Ohnmaiß bekennt nichts. Mit welchen Argumenten sie sich bisher gegen die eindringlichen Fragen des Pfarrers gewehrt hat, wissen wir nicht. Vielleicht hat sie die Anschuldigungen einsilbig mit einem schlichten »Nein« zurückgewiesen. Ihre Antwort auf Ludwigs Vorhalt, daß sie das Kind spüren müsse, hat er in seinem Bericht festgehalten:
H.H. Pfarrer, ich weiß überall von keiner Mannsperson nichts, fühle auch nichts in mir, welches doch seyn müßte, wann es denn so wäre, ich kann nicht gestehen.
Daß Anna Maria Ohnmaiß »überall von keiner Mannsperson nichts« weiß, ist natürlich gelogen. Im Bereich des Möglichen liegt aber, daß sie ihr Kind tatsächlich nicht gespürt hat. Es ist eine so häufige Behauptung von Kindsmörderinnen, daß der Gedanke, es handle sich hierbei um eine enorme Verdrängungsleistung, nicht abwegig ist (32). Eine Aussage jedenfalls ist wahr: »Ich kann nicht gestehen«, sagt sie und bedeutet dem Pfarrer, er könne nun »nicht weiter in sie dringen«. Sie verläßt mit dieser Feststellung ihre defensive Haltung und beendet aktiv das ihr aufoktroyierte Verhör.
Anna Maria hat ihre Entscheidung getroffen. Ihre Bauchdecke ist die unverrückbare Mauer zwischen ihr und der Außenwelt: Niemand kann dort eindringen, und nichts kann heraus. Dem Pfarrer Ludwig bleibt nur, Gott als Zeugen anzurufen, daß er sie »ernstlich untersucht« habe. Im übrigen muß Anna Maria Ohnmaiß mit Bestimmtheit geantwortet haben, denn der Pastor läßt sich anscheinend überzeugen. Im anschließenden Gespräch mit dem Vater meint er, es sei fast eher zu wünschen,
seine Tochter möchte schwanger seyn, als nicht, dann wann das letztere wäre, so könnte sie so krank werden, daß es ihr das Leben kosten kann.
Er rät dringend zu einem Arztbesuch und mahnt Johann Michael Ohnmaiß, er »möchte es ja nicht anstehen lassen«. Der Schultheiß nimmt seine Vaterpflichten sicher ernst, doch es ist Oktober, und die Trauben reifen. Wie fast alle Einwohner des Dorfes Uhlbach hat auch der Schultheiß Weinberge. Zwei seiner Söhne ernähren sich als Weingärtner. Es gibt Arbeit, auch Anna Maria wird helfen müssen. Aber gleich nach dem Herbsten will der Schultheiß mit seiner Tochter einen Medicus aufsuchen, das verspricht er seinem Freund. Sehr krank wird dem Vater die Tochter ohnehin nicht scheinen, da sie ja trotz ihres dicken Bauches wohlauf ist und wie gewohnt klaglos ihre Arbeit verrichtet. Sie macht keineswegs den Eindruck, als könne es ihr Leben kosten, noch weniger hat sie jemals in dieser Zeit nach einem Arzt verlangt.
Pfarrer Ludwig hat, wie er dem Oberamt nach der Tat versichert, die Verdachtsmomente ausgeräumt und keine weiteren Maßnahmen ergriffen. Das ändert sich ein paar Tage später, als die Familie Ohnmaiß ihre Traubenernte eingebracht hat. Wie es im Dorf üblich ist, erhält der Pfarrer seinen Anteil. So wird Anna Maria beauftragt, Hochwürden mit Trauben zu beehren. Über diese ihr zufallende Aufgabe ist sie sicherlich nicht beglückt gewesen. Das ungute Gefühl, mit dem sie sich auf den Weg gemacht haben wird, hat sie auch nicht getrogen, wie wir Ludwigs weiterer Darstellung entnehmen können. Er berichtet dem Oberamt, sein Verdacht wegen einer Schwangerschaft habe sich »zimmlich verlohren«,
bis auf vorige Woche, da mich Ohnmeißin mit etwas Trauben beehrte, und mir in ihren Werktagskleidern zu Gesicht kam.
Anna Maria Ohnmaiß steht wenige Tage vor ihrer Niederkunft. Ihr Zustand ist auch für ein ungeübtes Auge nicht mehr zu übersehen. Wiflingrock und Schürze können den dicken Bauch nicht mehr verbergen. Was auch immer Pfarrer Ludwigs Handlungsweise bisher bestimmte, ob er nun wirklich an eine Krankheit glaubte oder seinem Schultheiß nicht zu nahe treten wollte, jetzt muß er nach dem Gesetz handeln und seine Pflicht tun. Am 28. Oktober beschließt er, seinen Dekan schriftlich um Rat zu fragen. Er erhält die Anweisung, sie »ad Protocollum zu vernehmen« und »zu weiterer Verfügung« dem »Hochlöblichen Oberamt zuzusenden«. Die »Ohnmeißin« soll dort vom Amtsphysicus untersucht werden, denn der in Uhlbach ansässigen alten Hebamme wird die Visitation »wegen nicht genugsamer Tüchtigkeit« nicht zugetraut. Mit dieser Verfügung wird der Körper der Anna Maria Ohnmaiß zum offiziellen Untersuchungsgegenstand, der der Obrigkeit »zugesandt« und über den »verfügt« werden kann.
Doch dann nehmen die Ereignisse eine bestürzende Wende. Pfarrer Ludwig ist ein vielbeschäftigter Mann. Obwohl er die Antwort des Dekans schon am Donnerstag erhält, findet er erst am Sonntag die »erste mir mögl: Muse«, den Auftrag auszuführen. Er schickt seinen Provisor ins Ohnmaißsche Haus und läßt seinen Schultheiß »cum filia Mittags nach der Kinderlehr vorbescheiden«. Johann Michael Ohnmaiß läßt bestellen, er hätte ohnehin kommen müssen. Er erscheint auch wirklich, aber ohne seine Tochter, und
statt mich nur ein Wort anzuhören, brach er in ein verzweiflends Geschrey aus O ich elender Mann! ach meine Tochter hat ihr Kind erwürgt, muthwillig erwürgt!
Vor »Bestürzung« stellt Ludwig nicht einmal Fragen. Es hat ihm die Sprache verschlagen, und so sitzen die beiden Männer da, bis der Schultheiß »nach einiger Faßung« die Vorkommnisse schildert.