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ОглавлениеKirchenzucht und Kirchenbuße
Pfarrer Ludwigs Bericht ist das einzige, wirklich authentische Dokument der Akte, da es selbstverfaßt ist. Doch es ist keineswegs ohne Intention und aus reiner Pflichterfüllung geschrieben. Ludwig ist noch vor Johann Michael und Anna Maria Ohnmaiß am 1. November vernommen worden. Es stellt sich also die Frage, wieso er sich bemüßigt fühlte, alles noch einmal schriftlich zu erklären, da seine Aussage bereits vom »Stattschreiber« Hellwag festgehalten wurde.
Pfarrer Ludwig hat die Ereignisse zwei Tage nach der Tat in einem Brief an das Oberamt geschildert, den er mit den Worten einleitete:
Meine Bestürzung war ehegestern zu groß, als daß ich meinen Bericht umständlich genug hätte abfaßen können, und da er doch theils zu meiner Legitimation, theils zu weiterer Aufklärung der so förchterlichen Geschichte nöthig seyn dörffte, so habe die Ehre [...] (33).
Präzise und ausführlich legt er sein Handeln dar. Dabei betont er auch, daß er »seinen« Schultheiß besuchte, »ohne daß mir eine Anzeige von einer Hebamme, oder Haußgenossen gemacht worden wäre« (34). Die exakte Schilderung seiner Unterredung mit Anna Maria Ohnmaiß, die Erörterung seiner weiteren Vorgehensweise entspringt nicht nur seinem Bemühen, sich als »Eines hochlöbl. gemeinschaftl. Oberamts gehorsamster diner« zu erweisen. Tatsächlich motiviert ihn auch die eigene »Legitimation«, denn die Untertanen waren dazu angehalten, »verdächtige Weibs=Personen« zu befragen und zu einem Geständnis zu bewegen, sie gegebenenfalls anzuzeigen und, wie es im Generalreskript von 1658 angeordnet wird, »durch die Hebammen, oder geschworne Weiber, solche gar besichtigen zu lassen« (35). Zu Pfarrer Ludwigs Zeit war dieses Reskript noch immer in Kraft. Die Novellierung erfolgte erst im Jahr 1800. Dort wurde offiziell verfügt, was inoffiziell im Fall der Anna Maria Ohnmaiß bereits geschehen sollte: Die Zwangsuntersuchung muß durch den AmtsPhysicus vorgenommen werden, da Hebammen vor allem im frühen Stadium einer Schwangerschaft »zu urtheilen ausser Stand seyn dürften« (36).
Daß Pfarrer Ludwig sich seiner Pflichten so bewußt war, daß er Anna Maria Ohnmaiß über die rechtlichen Konsequenzen einer heimlichen Geburt aufklären und ihr versprechen konnte, »die Sache stiller zu behandeln«, daß er seinen Verdacht dem Dekan meldete und seine Handlungsweise dem Oberamt so präzise schilderte, fußt in der besonderen Rolle, die der Kirche bei diesem Verbrechen zu eigen ist.
Das Delikt des Kindesmords kontrastierte nicht nur die merkantilistische Maxime des absolutistischen Staates, »que le nombre des peuples fait la richesse des Etats« (37), sondern implizierte auch einen Affront gegen die christliche Gemeinschaft. Eine Kindesmörderin verstieß ja nicht nur gegen das fünfte Gebot; indem sie die Taufe verhinderte, verschloß sie ihrem Kind auch die Seligkeit des Himmels. Herzog Eberhard hatte 1658 das erste württembergische Generalreskript, das sich mit diesem Verbrechen beschäftigte, »auß Lands=Väterlicher Vorsorg, und Christlichem Eyfer« (38) verfügt. In der Todesstrafe sah der Landesvater nicht nur ein adäquates Urteil, sie war erforderlich, »zumal GOttes gerechter Zorn dardurch von Uns: und Unseren Landen abgewendet werde« (39). Zwar findet sich die Überzeugung, daß durch die Exekution von Delinquenten eine Aussöhnung mit Gott erreicht werde, bei allen Kapitalverbrechen. Doch oblagen Unsittlichkeit und Unzucht der besonderen Aufmerksamkeit der Kirche, die den Wurzeln des Kindesmordes früh entgegenzusteuern suchte.
Initiiert von Johann Valentin Andreä und Caspar Lyser wurde durch den Synodalbeschluß von 1644 nach dem Vorbild des Genfer Sittengerichts der Kirchenkonvent in Württemberg eingerichtet. Dieses Gremium, dem der Pfarrer als Vorsitzender, der Schultheiß und drei Gerichtspersonen angehörten, tagte meist am Samstagnachmittag auf dem Rathaus (40). Obwohl dem Kirchenkonvent auch die Sorge für das örtliche Schulwesen, die Verwaltung gemeinsamer kirchlicher und bürgerlicher Angelegenheiten und der gesamte Komplex der Sozialfürsorge oblag, wurde dieses Organ von der Bevölkerung doch hauptsächlich als kirchliches Sittengericht wahrgenommen, als »Aufsichts und Straforgan von erheblicher Macht«(41), das die Kirchenzucht mit Sanktionen und Repressionen überwachte. Die Ahndungen betrafen alle Verstöße gegen die Zehn Gebote wie auch jene Laster, die schon in Herzog Christophs Gemeiner Landordnung von 1567 angelegt waren: Gotteslästerung, Kuppelei, Zu und Volltrinken, Ehebruch, Hurerei, Glücksspiel (42). Die eigentliche Aufgabe des Kirchenkonvents bestand darin, »die Gemeinde zu leiten, frühzeitig zu warnen und erst als ultima ratio zu strafen« (43), wobei in schweren Fällen das aus Dekan und Oberamtmann bestehende Gemeinschaftliche Oberamt die Verhandlungen weiterführte. Aber seit dem Ausbau des öffentlichen Ehrenstrafsystems ab dem 17. Jahrhundert und der damit verbundenen Einbeziehung öffentlicher Kirchenstrafen in das weltliche Strafsystem trat die ursprüngliche Intention, die Sünder durch öffentliche Buße mit Gott und der christlichen Gemeinde zu versöhnen, immer mehr zurück. Die öffentlichen Bekenntnisse und Bußen, die die Kirche in besonderen Fällen verlangte unter anderem bei Unzucht und Ehebruch , führten im Gegenteil dazu, daß diese Maßnahmen »den Charakter entehrender Strafsanktionen« (44) gewannen.
Obwohl der Pfarrer selbst keine Strafbefugnis hatte die Strafe verhängte und vollzog der Schultheiß , wirkte sich seine Verfügung über das Instrumentarium des Kirchenkonvents erheblich auf seine Machtposition aus. Schließlich hing es von seiner Persönlichkeit ab, wie streng oder milde Kirchenbußen und strafen gehandhabt wurden. Der Pfarrer hatte die Aufgabe, »den Missetäter durch seelsorgerische Mahnung zu bessern und einsichtig zu machen« (45) und das Recht, wenn dieses nichts nützte, auf das Strafmaß Einfluß zu nehmen. Um diese Einsicht zu erreichen, standen dem Pfarrer verschiedene Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung, die regional unterschiedlich waren. Die Mittel reichten von der Moralpredigt von der Kanzel über die unehrenhafte Trauung der sogenannten »frühen Beischläfer« mittwochs in der Betstunde (46) bis zu Geld oder ZuchthäusleStrafen für ledige Mütter und Ehepaare, bei denen sich der Nachwuchs zu früh angekündigt hatte (47).
Durch die öffentlichen Abkündigungen von der Kanzel verlor sich der Versöhnungscharakter. Die Vermischung von staatlichen und kirchlichen Angelegenheiten wurde noch verstärkt durch die Möglichkeit weltlicher Gerichte, Kirchenbußen aufzuerlegen. Auch bediente sich die Herzogliche Regierung der Kirchen, um Reskripte und Verordnungen publik zu machen. Dazu gehörte neben der Eheordnung auch die Verlesung der Reskripte, die die Verheimlichung von Schwangerschaften und den Kindesmord betrafen. Daher erklärt sich auch das Wissen von Pfarrer Ludwig, daß Anna Maria Ohnmaiß sich im Falle einer heimlichen Totgeburt einem peinlichen Prozeß würde unterziehen müssen. Der problematische polizeiliche Einschlag, den die Kirchenkonvente durch den Kirchenzuchtauftrag erhielten, erfuhr noch eine zusätzliche Ausprägung durch die Bestellung sogenannter »Deferenten«. Dabei handelte es sich um vereidigte Aufpasser, die den Kirchgang, die Einhaltung des Arbeitsverbotes am Sonntag und das züchtige Verhalten junger Menschen bei Tanzveranstaltungen und auf Märkten überwachten. Vergehen wurden dem Kirchenkonvent gemeldet und brachten dem Denunzianten einen Anteil an der verhängten Geldbuße.
Da die Kirche immer mehr zu einer Zuchtanstalt des Staates wurde, konnte es nicht ausbleiben, daß die entehrenden Kirchenstrafen von seiten der Aufklärer zunehmend heftiger kritisiert wurden. Sie sahen in der öffentlichen Bloßstellung ein wesentlichen Motiv für die Verheimlichung von Schwangerschaften und den Kindesmord, weil, wie Pestalozzi in seiner 1783 erschienenen Schrift »Über Gesetzgebung und Kindermord« (48) anführte,
tiefe und unauslöschlich entehrende Strafen der Unkeuschheitssünden genau das Mittel sind, aus unglücklichen Mädchen Schanddirnen zu machen; denn wenn je etwas in der Welt geeignet ist, den letzten Funken des Guten, der noch im Menschen ist, zu ersticken, so ist's das Gefühl der zum Hohn und Spott dahin geworfenen Schwäche und Armut (49).
Mit der Meinung, daß »die ganze alte Unzuchtgesetzgebung für unsern Zustand, für unsere Sitten und unsere Denkart gewiß nicht mehr« (50) passe, gingen die meisten Aufklärer konform (51). Auch auf gesetzgeberischer Ebene wurde der Zusammenhang zwischen Kirchenbußen und Unzuchtsstrafen einerseits und dem Kindesmord andererseits immer öfter erkannt. Die Konsequenz daraus zog Friedrich II. schon frühzeitig, indem er 1765 alle Hurenstrafen, »von welcher Gattung und Art sie seyn mögen« (52), völlig abschaffen ließ, weil es besser sei,
das Übel an der Wurzel zu fassen und so viele arme Kreaturen, die elendiglich umkommen, am Leben zu erhalten, indem man den Schimpf abschafft, der den Folgen einer unvorsichtigen und leichtfertigen Liebe anhaftet (53).
Bis diese aufklärerische Haltung auch Württemberg erreichte, dauerte es jedoch noch lange. Die Kirchen hielten die öffentlichen Kirchenbußen für unverzichtbar, und die Kirchenkonvente wurden in Württemberg erst 1891 offiziell abgeschafft. So stand der Kornwestheimer Pfarrer Philipp Matthäus Hahn wenige Monate nach dem Verbrechen der Anna Maria Ohnmaiß mit seinen Gedanken über den Kindesmord sicher nicht alleine. In seinem Tagebuch notierte er:
Die Schande einer unehelichen Schwangerschaft kan nicht weggenommen werden, l. weil sie nach den religiösen Prinzipii zu tief eingewurtzelt und Gott solche geprägt habe durch seine Religion, so das es fast sensus communis ist, 2. weil sonst die ordentlichen Ehen vermindert würden und die Bevölckerung und gute Ruferziehung der Kinder einen Stoß leide (54).
Nicht nur Anna Maria, sondern auch ihr Vater Johann Michael Ohnmaiß waren sich dieser Schande bewußt, haben sie gefürchtet und das ihre getan, um sie zu vermeiden.