Читать книгу Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing: Reclam Lektüreschlüssel XL - Theodor Pelster - Страница 4

1. Schnelleinstieg

Оглавление

»Was soll ich Eine Grundfrage der Ethiktun!«, ruft Emilia Galotti, die Haupt- und Titelfigur aus Lessings Trauerspiel, an einem Höhepunkt der dramatischen Handlung und ziemlich genau in der Mitte dieses Stückes (III,5). Der Form nach ist diese Äußerung eine Frage; die Umstände machen sie zu einem Ausruf, der keine Antwort erwartet. Ein Ausrufezeichen schließt den Satz und eine Regiebemerkung empfiehlt der Schauspielerin, die schwierige Lage durch Gestik zu verdeutlichen: »Die Hände ringend«.

Damit steht die Grundfrage der Ethik – »Was sollen wir tun?« – der Form nach und auch inhaltlich im Mittelpunkt von Lessings Drama. Sie wird zugleich aufgenommen, zugespitzt und mit deutlichem Zweifel versehen, ob sie zufriedenstellend beantwortet werden könne. Emilia ahnt, dass sie in eine kritische, wenn nicht aussichtslose Lage geraten ist. Sie ist getrennt von den Instanzen, die ihr bisher beigestanden und geraten haben – so ihr Vater und ihre Mutter –, und sie muss nun aus eigener Kraft handeln und weiß nicht, wie.

Die Ethik leitet an, von der Grundfrage »Was soll ich tun?« ausgehend, die jeweilige Situation, in der ein Mensch handeln muss, genau einzuschätzen und dann nach moralisch vertretbaren Lösungen zu suchen, die zu einem erstrebten Ziele menschlichen HandelnsZiel hinführen. Dabei zeigt sich, dass weder die Ziele noch die Wege der einzelnen Menschen eindeutig zu bestimmen sind. Aristoteles (384–322 v. Chr.) schreibt zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik: »[…] jede Handlung und jeder Entschluss scheinen ein Gut vor Augen zu haben. Daher hat man sehr richtig das Gute als das hingestellt, wonach alles strebt. Doch es scheint einen Unterschied in den Zielen zu geben.«1

Emilia ist nicht die einzige Figur in Lessings Drama, die sich vor die Frage nach dem angemessenen Handeln gestellt sieht. Der Prinz, ihr Gegenspieler, fragt seinen Kammerdiener: »Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?« (I,6). Und am Ende des Trauerspiels ruft Odoardo, der Vater, der seine Tochter erdolcht hat, aus: »Gott, was hab ich getan?« (V,7). Nicht auf alle Fragen werden Antworten gegeben. Und wo Antworten gegeben werden, müssen sie nicht einmal angemessen und akzeptabel sein.

Eng verknüpft mit der Frage »Was soll ich tun?« sind zwei weitere Fragen: »Was will ich tun?« und »Was darf ich tun?«. Dass Wollen und Dürfen häufig in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, erfährt jeder Mensch an sich selbst. Dabei steht der nach- und vordenkende, also der gewissenhafte Mensch vor einer weiteren Frage, nämlich: »Wer bestimmt und entscheidet, was ich darf?« Auch diese Frage stellen und beantworten einzelne Figuren des Dramas für sich.

Was will, darf und soll ein junger Prinz, der ein Fürstentum regiert? Das ist nicht nur eine Frage der Ethik und PolitikEthik, sondern auch der Politik. Ist es wirklich so, wie eine der Hauptfiguren erfahren zu haben glaubt, dass ein Fürst »alles darf, was er will« (V,4)? Welche Möglichkeiten bleiben dann den Menschen im Staat, den sogenannten »Untertanen«, ihr Leben zu gestalten und ihre Ziele zu verwirklichen?

Das Drama gilt als »die konkreteste Form der Darstellung menschlichen Verhaltens und zwischenmenschlicher Beziehungen«2. Es ist des Weiteren die »konkreteste Art, in welcher wir über die Lage des Menschen in der Welt denken können«.3 Lessings Drama wurde 17 Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution uraufgeführt. Es wurde vom Autor, dem großen Repräsentanten der Aufklärung, als »Trauerspiel« angekündigt. Die Literaturwissenschaft etikettiert es genauer als »Ein »bürgerliches Trauerspiel«bürgerliches Trauerspiel«. Damit ist nicht nur etwas über die Bauart und den Ausgang des Stückes gesagt; vielmehr wird deutlich, dass es darin auch um die Werte und die Perspektive des bürgerlichen Standes geht, der sich zur Entstehungszeit des Dramas neu positionierte. Die gestellten Fragen sind jedoch nicht an eine bestimmte Zeit und nicht an eine bestimmte Staats- und Regierungsform gebunden. Sie stellen sich überall, wo Menschen als soziale Wesen nach einem Lebensziel suchen und nach Wegen, dorthin zu gelangen.

Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing: Reclam Lektüreschlüssel XL

Подняться наверх