Читать книгу Antigone von Sophokles: Reclam Lektüreschlüssel XL - Theodor Pelster - Страница 4

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Antigone, die thebanische Königstocher, ist eine der berühmtesten Frauenfiguren der europäischen Theatergeschichte. Ihr Leitspruch »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da«, aus der Mitte des Dramentextes entnommen, hat immer wieder Beifall gefunden und gehört zum Zitatenschatz der europäischen Kulturgeschichte.1

Die ThematikTragödie des Sophokles, in deren Mittelpunkt Antigone steht, handelt von einer Staatskrise, in der sich Antigone, die Tochter des verbannten Königs Ödipus, entgegen den Anordnungen des neuen Königs für die Bestattung des Bruders einsetzt und sich dabei auf ein höheres göttliches Recht beruft, das den vom Staat erlassenen Anordnungen überlegen sei. Es geht also um Macht und Recht, um eingeforderten Gehorsam und das Recht auf Widerstand gegen herrscherliche Willkür.

Antigone und ihre Geschwister Ismene, Polyneikes und Eteokles sind Gestalten aus der griechischen Der thebanische SagenkreisSagenwelt. Theben, die Hauptstadt Böotiens, einst Mittelpunkt eines Königreichs, heute ein kleines bescheidenes Landstädtchen, ist ihre Heimat. Ihre Eltern sind Ödipus, der aus Theben vertriebene Tyrann, und dessen Gattin Iokaste, die sich selbst das Leben nahm, als die Untaten ihres Mannes bekannt wurden. Die ganze Familiengeschichte gehört zum sogenannten thebanischen Sagenkreis.

Diese Sagen aus geschichtlicher Vorzeit waren die Hauptstoffquelle für die Dramatiker in Athens Blütezeit. Wichtigster Schauplatz für ihre Dramen war Athens Das Dionysostheater in AthenDionysostheater. Hier erfuhren die meisten der uns überlieferten Tragödien ihre erste Aufführung. Die Athener feierten in der zweiten Hälfte des Monats März drei Tage lang ihr wichtigstes Fest: die großen Dionysien. An jedem dieser Tage wurden drei Tragödien und, daran anschließend, ein Satyrspiel aufgeführt. Die Aufführungen begannen am frühen Morgen und zogen sich über den Tag hin.

Drei Tragödiendichter fanden schon in der Antike höchste Anerkennung und gelten auch heute noch als Klassiker: Aischylos, Sophokles und Euripides. Der Tragödiendichter SophoklesSophokles, der mittlere, der nach eigenen Aussagen von Aischylos lernte und später in Euripides einen Konkurrenten erhielt, wurde 497 oder 496 v. Chr. in Athen geboren und starb in seiner Heimatstadt im Jahr 406 oder 405 v. Chr. Insgesamt schrieb er 123 Dramen. Davon sind sieben Tragödien vollständig erhalten. Sie waren schon in der Antike zu einer besonders anerkannten Auswahl zusammengefasst. Die Tragödie Antigone gehört ebenso wie König Ödipus und Ödipus auf Kolonos, weitere Werke des Dichters Sophokles, stofflich zum thebanischen Sagenkreis, der Bedeutung nach zum klassischen Repertoire altgriechischer Tragödiendichtung – und damit zum literarischen Weltkulturerbe.

Aktuell oder antiquiert?Trotzdem ist die Frage berechtigt, ob eine Tragödie, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahre 442 v. Chr. im alten Griechenland aufgeführt wurde und einen Stoff behandelt, der damals schon uralt war, das Interesse von Zuschauern und Lesern des 21. Jahrhunderts beanspruchen kann. Zugespitzt lautet die Frage, ob das, was in diesen Stücken geboten wird, noch in irgendeiner Weise aktuell oder längst antiquiert ist.

Die Personen, die in der Tragödie Antigone aufeinandertreffen, sind Bürger einer Stadt beziehungsweise eines Stadtstaates. Sie leben in einer Krisenzeit und haben alle ihre eigenen Konflikte zu lösen. In problematischen Situationen haben sie Entscheidungen zu treffen, für die sie Begründungen suchen und die sie vor anderen rechtfertigen müssen. Als führende Politiker auf der einen Seite und als gelenkte Bürger auf der andern stehen sie vor den konkreten Grundfragen der PolitikFragen: Was darf der Staat von dem einzelnen Bürger verlangen? Welche Pflichten haben die Bürger gegenüber dem Staat? Wo sind die Grenzen der Selbstbestimmung des Einzelnen, und wo sind die Grenzen der Verfügungsgewalt des Staates? Jede einzelne Frau – hier vor allem: Antigone und Ismene – und jeder einzelne Mann – hier vor allem Kreon, der Herrscher, und Haimon, sein Sohn – haben zu fragen: Was soll ich tun? Und: Was ist die Grundlage meines Tuns?

Diese Fragen werden in dem Drama gestellt, jedoch nicht endgültig beantwortet. Die Konflikte lösen sich nicht wohlgefällig auf; die auf die Bühne gebrachte Geschichte endet tragisch: Kein Grund zur Resignation, sondern Aufforderung zur produktiven Auseinandersetzung!

Eine Entscheidung kann das Theater- und Lesepublikum erst treffen, wenn es sich gründlich mit dem Werk auseinandergesetzt hat. Dabei hat es der Betrachter im Theater sicherlich leichter, da ihm das Stück für gewöhnlich in einer Inszenierung nahegebracht wird, die Wert darauf legt, Interesse zu wecken. Vom Leser werden größere Anstrengungen erwartet.

Ein wichtiger Grund, sich mit dem übersetzten Text einer klassischen griechischen Tragödie zu beschäftigen, ist sicherlich auch darin zu sehen, dass das griechische Theater die gesamte Die Tradition des europäischen TheatersTradition des europäischen Theaters begründet. Wer die Geschichte dramatischer Dichtung kennenlernen will, muss bei den Ursprüngen in der Antike beginnen. Nur so wird er das jeweils Neue und Moderne angemessen einschätzen können.

Bei einer historisierenden Betrachtung darf es jedoch nicht bleiben, wenn man dem Vorwurf entgehen will, einen insgesamt überflüssigen Museumsbesuch in einem Antikensaal mit zufällig erhaltenen Marmorfiguren absolviert zu haben. Es gilt vielmehr, die Herausforderung zur Diskussion anzunehmen, die in den Texten angelegt ist und die sich über Jahrhunderte erhalten hat: »Irgend etwas muss schon dran sein an dem, was geblieben ist … hundert Jahre … tausend Jahre. Etwas, woraus sich wohl doch lernen lässt.«2

Antigone von Sophokles: Reclam Lektüreschlüssel XL

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