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Julias Geschichte

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Der Ton, der zwischen mir und meinem Sohn herrschte, machte mir zu schaffen. Trotzdem schrie ich ihn schon wieder an: »Nein, du musst rausgehen und nachschauen, ob du das Garagentor wirklich abgeschlossen hast, nachdem du dein Fahrrad abgestellt hast!« Warum schrie ich meinen 13-jährigen Sohn wegen etwas so Unwichtigem an? Hatte er nicht schon genug durchgemacht? Zuerst hatte ich mich von seinem Vater scheiden lassen, dann, ein paar Jahre später, war ich mit ihm bei meinem neuen Freund eingezogen. Und jetzt litt derselbe Freund – in dem mein Sohn zu diesem Zeitpunkt fast schon so etwas wie einen Stiefvater sah – an einer unheilbaren Lungenerkrankung und lag im Sterben. Dennoch verlangte ich von meinem freundlichen und gewissenhaften Jungen, dass er nochmals nachsah, ob er das Garagentor abgeschlossen hatte, nachdem er sein Fahrrad nach der Heimfahrt von der Schule dort abgestellt hatte, und zwar jetzt!

Ich bin meinem Freund dankbar, dass er zwischen den flachen Atemzügen, die er aus seinem Sauerstoffinhalator nahm, eingriff und mir mit sanften Worten Folgendes erklärte: Wenn mir so viel daran läge zu wissen, ob das Garagentor abgeschlossen sei, könne ich ja auch selbst nachschauen. Daraufhin sahen mich beide an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, und so marschierte ich eben selbst zur Garage hinaus. Zufrieden, dass das Garagentor verschlossen war, aber immer noch verärgert, ging ins Haus zurück. Auf dem Rückweg sah ich es: Der Stromzähler brannte. Da waren kein Geruch und kein Geräusch, nur ein sich langsam ausbreitendes Feuer. Auf der anderen Seite der Wand, gegenüber dem Zähler und dem Feuer, stand der Sauerstofftank, an den der Inhalator meines Freundes angeschlossen war.

Ohne zu zögern, rannte ich ins Haus, schaltete den Hauptstrom ab, rief die Feuerwehr an und erzählte, was los war. Offenbar hatte ich das Garagentor nicht wegen der Gefahr, dass jemand in die Garage einbrach, so unbedingt überprüfen wollen, sondern weil ich das Feuer sehen und es aufhalten musste. Es war, als hätte mich die Zukunft an die Hand genommen, sanft nach vorn gezogen und mir gezeigt, was zu tun war. Schon wieder.

Ich sage »schon wieder«, weil dies nur eines von vielen Malen war, dass die Zukunft auf die ein oder andere Weise meinem gegenwärtigen Bewusstsein eine Information übermittelte. Manchmal fühle ich mich gezwungen, etwas zu tun, kann später aber nur herumraten, warum das getan werden musste. Und dann frage ich mich, ob ich nicht Verbindungen erkenne, wo es in Wahrheit gar keine gibt. Manchmal sehe ich ein Ereignis – in einem Traum oder in einer Art blitzartigem »Erkennen« – und fühle den starken Drang, etwas zu tun, um (wenn es sich um ein negatives Ereignis handelt) das Ergebnis zu ändern oder (wenn das Ereignis positiv ist) um sicherzustellen, dass es auch wirklich eintritt. Wenn ich dann in der Lage bin, etwas zu unternehmen, um das vorausgeahnte Ereignis zu verhindern oder, im Gegenteil, dafür zu sorgen, dass es eintritt, scheint dies manchmal einen Unterschied zu bewirken. Gelegentlich aber scheint es auch keine Rolle zu spielen. Außerdem, und das kommt am häufigsten vor, habe ich mein ganzes Leben hindurch immer wieder alltägliche Informationen gekannt, bevor ich das hätte tun dürfen. Eines meiner Lieblingsspiele in der Schule etwa bestand darin, zu erraten, anhand welcher Zahlen mein Mathelehrer ein neues Konzept demonstrieren würde, oder darin, die in einem Vokabeltest abgefragten Wörter vorab zu erraten. Ich lag zwar nicht immer richtig, aber doch so oft, dass ich das Spiel weiterspielte.

Möglicherweise war ich gerade wegen dieser Fähigkeiten eine so ausgezeichnete Studentin, bekam lauter Einsen und schloss das College mit höchsten Auszeichnungen im Hauptfach Neurowissenschaften und im Nebenfach Informatik ab. Obwohl ich am College wenig Alkohol trank, fand ich irgendwann heraus, dass ich, wenn ich nach einer ausschweifenden Nacht einen Kater hatte, Tests noch besser als sonst voraussagen konnte. Manchmal war ich, glaube ich, sogar besser, je weniger ich mich auf den Test konzentrierte und je heftiger mein Kater oder je benebelter ich war. Irgendwie so, als könnte dann mein Unterbewusstsein die Kontrolle übernehmen und die richtigen Informationen abrufen, ohne dabei ständig von meinem übermäßig analytischen bewussten Verstand unterbrochen zu werden.

Später, als ich an der Universität Neurowissenschaften studierte, konzentrierte ich mich darauf, die menschliche Erfahrung durch den Blick darauf zu verstehen, wie das Gehirn Schmerzen und Stress verarbeitet. Was geht in den Köpfen der Menschen vor, wenn sie leiden? Das war die Frage, die ich beantworten wollte. Als ich dann meinen Doktor in Psychoakustik machte, ein Feld, das sich mit der Psychologie des Klangs befasst, schlug mich die Frage nach dem Timing in den Bann. Wie finden wir die Reihenfolge der Töne heraus, obwohl es bei einigen Tönen länger dauert, bis wir sie verarbeitet haben? Wie schaffen es Schlagzeuger, Zeitunterschiede von bis zu 1/1000 Sekunden zu entschlüsseln, während die meisten Menschen diese Art von subtilen Zeitunterschieden noch nicht einmal hören können?

Zu diesem Zeitpunkt benutzte ich meine Vorahnungen lediglich wie ein Alltagswerkzeug, dachte aber nicht wissenschaftlich darüber nach. Zumindest nicht bewusst. Sicher, ab und zu träumte ich von den Folien, die einer meiner Professoren am nächsten Tag im Unterricht verwenden würde. Oder ich erkannte, dass die Daten, die ich in meinen Experimenten aufnahm, der Kurve einer Gleichung folgten, von der ich ein Jahr zuvor geträumt hatte. Aber ich dachte, das wäre nur meine eigenartige Art, Dinge zu tun – eben meine gewohnt gute Intuition, also etwas, das nichts mit meinen Forschungsinteressen oder meinem Lebenswerk zu tun hatte.

Was war noch mal mein Lebenswerk? Ich hatte mir diese Frage sehr oft gestellt. Und immer mal wieder, wenn ich innerlich ganz ruhig war, konnte ich eine rätselhafte Antwort vernehmen: über die Zeit lehren und lernen.

Im Laufe der Jahre bemerkte ich, dass ich mich nach meiner Promotion hauptsächlich mit der Frage befasste, wie das Timing der Ereignisse beim Hören und später beim Sehen funktionierte. Ich hielt am College sogar Seminare über diese Themen ab. Mehr noch, ich hatte mich um ein Forschungsstipendium beworben und es auch erhalten, um der Frage nachzugehen, ob der Körper zukünftige Ereignisse auf irgendeine nichtsensorische oder außersensorische Art und Weise vorhersagt.

Dennoch, die Antwort, »über die Zeit zu lehren und zu lernen«, störte mich, denn ich habe seit jeher den Drang verspürt, Menschen zu helfen, sich besser zu fühlen, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie das Lehren und Lernen über die Zeit Menschen dahingehend helfen konnte. Am Ende ließ ich diese Spannung einfach über einige Jahre hinweg bestehen, auch wenn die Sache von Zeit zu Zeit an mir nagte.

Als ich ein paar Jahre später meine Forschungen darüber abschloss, wie zukünftige Ereignisse von unserem Körper vorhergesagt werden können, drängte alles in mir, damit weiterzumachen. Meine anderen Experimente bezogen sich auf das Timing, jedoch nicht auf die Präkognition an sich, und so drohte diese Forschungsarbeit aus meinem Fokus zu geraten. Ich dachte: Hier ist der Beweis – statistisch validiert und wissenschaftlich kontrolliert –, dass die Art und Weise, wie die meisten Menschen über die Zeit denken, falsch ist.

Und wer weiß, vielleicht war es ja auch ein Beweis dafür, dass die Art und Weise, wie wir über das denken, was in der physischen Welt vor sich geht, ebenfalls falsch ist. Ich war fasziniert – mein Leben mit präkognitiven Erfahrungen könnte nicht nur eine lange Reihe von Zufällen und Wunschdenken sein. Es könnte eine Bedeutung geben, irgendeine Art und Weise, wie die Zukunft uns – nicht hypothetisch, sondern ganz real – vorwärtszieht.

Es kostete mich weitere zehn Jahre der Recherche, der Forschung, des Denkens und des Träumens, bis ich erkannte, wie der Kampf mit den Mysterien der Zeit Menschen dazu bringt, ihr Leben zum Besseren zu verändern und mehr Liebe und Mitgefühl für sich selbst und untereinander zu erfahren. Inzwischen aber glaube ich, es zu verstehen. Wenn mich heute jemand fragt, worin ich meine Berufung sehe, dann antworte ich: »Über die Zeit und die Liebe lehren und lernen.« Warum Liebe, werden Sie sich jetzt fragen. Weil die meisten Menschen die Verbindung zwischen Liebe und Zeit nicht herstellen – das habe ich ein geschlagenes Jahrzehnt lang auch nicht getan. Also habe ich beschlossen, den Aspekt »Liebe« explizit und für alle offensichtlich zu machen.

Die Verbindung ist folgende: Wenn Sie erkennen, wie verbunden Sie mit Ihrer Zukunft und Ihrem vergangenen Selbst sind, kann die Antwort nur lauten: Liebe. Liebe zu Ihnen selbst – für all die Dinge, die Sie getan haben, obwohl Sie nicht verstanden haben, warum. Obwohl Sie erst später den Zweck dieser Schritte und all dieser Ereignisse entdeckten, die in der Zukunft geschehen werden, wenn Sie sich auf das zubewegen, was Sie unvermeidlich zu sich ruft. Und dazu gehört auch die Liebe zu anderen Menschen, da Sie deren Worte und Taten in Bezug auf ihre jeweiligen Lebenswege sehen, zu denen sie aus ihrer eigenen Zukunft gerufen werden – Worte und Taten, die nichts mit Ihnen oder Ihrem Wert als Mensch zu tun haben.

Sobald ich diese Verbindung erkannt hatte, wollte ich der Welt erzählen, wie wir unser vergangenes und zukünftiges Selbst integrieren und wie wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten können. Aber als Forschungswissenschaftlerin wusste ich, dass mein üblicher Weg, meine Erkenntnisse in Form von akademischen Büchern und Artikeln zu publizieren, hier nicht funktionieren würde. Kein Wunder also, dass ich laut auflachte, als Theresa mich eines Tages anrief und mir eröffnete, dass sie, ohne mich zu fragen, das Manuskript für The Premonition Code bereits an ihre Verleger geschickt hatte und die davon angetan gewesen waren. Ich kann keine der Erfahrungen, die ich gemacht habe, als »echte« Vorahnungen beweisen, und auch niemand sonst kann das. Aber ich habe es mir inzwischen angewöhnt, meinem zukünftigen Selbst dafür zu danken, dass es mich auf meinem Weg immer weiter voranzieht.

Der Zukunftscode

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