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Was mir der Weg bedeutet

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Nach Würzburg sind es noch fünfundfünfzig Kilometer laut Wegweiser des Main-Werra-Radwegs, den ich jetzt befahre.

Immerhin versuche ich, mich nicht selbst anzutreiben, sondern gelassen zu bleiben. Das bedeutet, das Fahren zu genießen, mich an meiner Kraft zu freuen, mit der ich mich vorwärts bewege und tief und bewusst zu atmen. Dabei nehme ich die wunderbare Landschaft wahr und in mich auf, durch die mich mein Weg führt.

Ich fahre nicht mehr, ich überlasse mich dem Fahren und bin deshalb frei von jedem Druck, etwas erreichen zu müssen. Das ist schon ein angenehmer Zustand, den ich aber nur eine gewisse Zeit aufrechterhalten und genießen kann. Dann kommt unweigerlich der Moment, in dem ich das Verbunden-Sein durch die Ablenkungen wieder verliere, mit denen mich mein Verstand bombardiert:

„Bist du richtig? Frag doch lieber mal nach! Schau mal in die Karte! Wie weit wird es noch sein? Bist du rechtzeitig in Würzburg?“

„Ja, selbstverständlich bin ich rechtzeitig in Würzburg.“

Ich beginne zu verstehen, dass jede Zeit die rechte Zeit ist, wenn ich sie akzeptiere. Außerdem, heute ist erst Freitag und die Supermärkte haben bis zwanzig Uhr geöffnet, sodass ich sogar noch einkaufen kann. Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Durch das Internet habe ich bereits von dem kleinen Zeltplatz des Würzburger Kanu-Klubs erfahren. Da ich keinen Stadtplan habe, versuche ich, mich an Wegweisern und Übersichtstafeln zu orientieren. Auf dem Fahrradweg werde ich von einem gut bepackten Radwanderer mit Tochter überholt. Ich frage die beiden nach dem Zeltplatz und es stellt sich heraus, dass sie auch dahin wollen. Da hänge ich mich einfach dran und mein Problem ist gelöst. So einfach ist es, mit dem Strom des Lebens zu schwimmen.

Der Zeltplatz ist ein kleiner, aber feiner Platz direkt am Main. Ein Teil des Platzes ist für Dauercamper mit Wohnwagen reserviert. Auf der großen Wiese stehen schon einige Zelte. Ich suche mir einen Platz mit Blick auf den Main. Neben mir kampiert ein Vater mit seinen Kindern, ein Junge und ein Mädchen, sechs und zehn Jahre. Er ist sehr kommunikativ und wir kommen schnell ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass es ein verlassener Vater ist, der jetzt seine Kinder für ein paar Urlaubstage von der Mutter abgeholt hat. Er vertraut mir an, dass es ihn noch immer schmerzt, von ihnen getrennt leben zu müssen und wie sehr er das Zusammensein mit ihnen während dieser kurzen Urlaubstage genießt.

Ich stelle mein Zelt auf und zahle meine Übernachtungsgebühr beim Zeltplatzwart. Bei ihm kaufe ich auch noch ein Bier. Er bietet mir eine Abendmahlzeit an, die ich jedoch dankend ablehne. Es gibt einen Supermarkt, der nicht leicht zu finden ist und zu dem ich durch die halbe Stadt fahren muss. Dort kaufe ich ein paar Lebensmittel ein. Ich nehme auch eine Kinderluftmatratze mit, die aber bereits beim Auspacken ein Loch hat. Dummerweise habe ich keinen Kassenzettel mitgenommen. So werde ich also wieder nur auf meiner Schaumgummimatte schlafen.

Als Abendessen gibt es Kartoffeln und Quark mit frischen Kräutern von der Wiese. Eine Weile sitze ich noch draußen und schaue auf den ruhig dahinfließenden Main, schwatze noch ein bisschen mit dem Nachbarn. Ich fühle Zufriedenheit in mir. Es gibt nichts, was ich mir jetzt noch gewünscht hätte. Ich lobe mich dafür, den Daunenschlafsack mitgenommen zu haben, denn ich merke schon, dass auch heute die Nacht wieder ziemlich kalt wird. Die dreiundachtzig Kilometer in den Beinen lassen mich schnell müde werden. Bald nach dem Dunkelwerden krieche ich in mein Zelt, in dem ich wunderbar einschlafe.

Die Sonne steht am nächsten Morgen an einem makellos blauen Himmel. Als erstes nehme ich mir meine Beine vor, die ich mit einem Latschenkiefern-Gel kräftig durch massiere, um die Muskelverhärtungen zu lockern, was ziemlich schmerzt. Dabei komme ich mit Muskelpartien in den Oberschenkeln und sogar im Gesäß in Berührung, die mir sonst nie aufgefallen sind. Ich knete sie weidlich durch und kann spüren, wie sich die Verhärtungen lösen. Das sollte mir helfen, auch die heutige Tagesetappe ohne Konditionsprobleme zu bewältigen.

Nun nehme ich mir die Zeit, mit dem gepäckfreien Rad über den Main zu fahren und ein wenig von der altehrwürdigen Stadt zu sehen. Ich steuere erneut den Supermarkt an mit dem festen Vorsatz, mir endlich eine vernünftige Isomatte zu kaufen, die den noch vor mir liegenden, größten Teil meiner Reise überstehen soll. Die finde ich tatsächlich nach einigem Suchen in dem schwer überschaubaren Angebot dieses Riesenmarktes. Die selbstaufblasende Matte ist in der Länge zusammenlegbar, sodass ich das handlich leichte Paket unter dem Schlafsack in der hinteren Packtasche verstauen kann. Jetzt bin ich perfekt ausgerüstet und kann ziemlich spät am Vormittag meine Weiterreise antreten.

Sie führt zunächst nach Ochsenfurth. Es gibt so viele hübsche Städte mit gut erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtkernen, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte. Ochsenfurth ist so eine Stadt und ich freue mich, dass ich sie kennenlerne. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich bereits in Bayern bin, ist das jetzt unübersehbar. Die Menschen in Trachtenkleidung, das Weißbier auf den Tischen und die frischen Weißwürste im Angebot der kleinen Schänke, an der ich Halt mache, weisen mich darauf hin. Dem verlockenden Angebot kann ich nicht widerstehen und bestelle mir die Weißwürste mit einem Hefeweizen. Sie schmecken mit dem süßen Senf und der Brezel köstlich und das kalte Weißbier vollendet den Genuss. Ich blicke in fröhliche Gesichter in sonntäglicher Kleidung, freue mich über die bunten Trachten. Hier könnte ich durchaus noch eine Weile bleiben, doch ich ermahne mich zur Disziplin und radle durch den Stadtkern weiter in Richtung Aub.

Auch nach Aub führt ein Radweg, der „MTF8“. So jedenfalls steht es auf den Hinweisschildern und in meiner Karte. Ins Deutsche übersetzt bedeutet das: Main-Tauber-Fränkischer Rad-Achter. Da bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Bezeichnung fantasievoll oder sehr einfältig finden soll. Ich freue mich aber über die guten Orientierungsmöglichkeiten anhand der Beschilderung und bin alsbald in Aub, wo ich nochmal eine kleine Kaffeepause einlege. Die bietet mir die Gelegenheit, über mein heutiges Tagesziel nachzudenken.

Anhand meiner Übersichtskarte erkenne ich die Möglichkeit, bis Rothenburg ob der Tauber zu gelangen. „Ob“ bedeutet in dem Fall oberhalb, und ich muss schon von Weitem gemütlich an Rothenburg heranradeln, um diese Bezeichnung zu verstehen. Nach Creglingen gelange ich über den „ROSTR“, wieder so eine tolle Bezeichnung, diesmal für den Radweg Romantische Straße. Er führt mich durch das Tal der Tauber, von dem ich wahrhaft begeistert bin. Düfte von Gras und Flieder empfangen und begleiten mich. Ein lauer Frühlingswind bringt im Verein mit der milden Frühlingssonne mein Herz zum Singen. Der anschließende Liebliche Taubertal-Radweg, so heißt er wirklich und wird auch so beschildert, verdient seinen Namen in der Tat. Ich genieße die Fahrt durch das sich lang dahinstreckende Tal, ehe ich unversehens in Sichtweite des berühmten Ortes gelange und nun tatsächlich feststelle, dass er auf einem Felsenmassiv „ob“, also oberhalb der Tauber liegt.

Mir bietet sich ein eindrucksvoller Anblick, den zu erleben ich in tiefster DDR-Realität nicht zu hoffen gewagt hätte. Ich bin dankbar für die Wende, die mir heute, fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, dieses Erlebnis erlaubt.

Es ist kurz vor sechs Uhr, als ich mich dem Detwang-Camping nähere, das kurz vor Rothenburg liegt, um dort mein Zelt aufzustellen. Ich frage nach einem Supermarkt und erfahre, dass ein solcher in der Stadt noch bis zwanzig Uhr geöffnet hat. Dorthin fahre ich, so wenig Lust meine Beine auch darauf verspüren, aber ich muss unbedingt noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Im Abendessen sehe ich meine einzige Chance, Kalorien für den nächsten Tag in mir zu bevorraten, wobei mir bewusst wird, dass ich trotzdem von den körpereigenen Reserven zehre. Hoffentlich nehme ich nicht zu viel ab. Bei siebenundsechzig Kilogramm Ausgangsgewicht bliebe da nicht viel von mir übrig.

So besteht mein Abendmenü aus Kartoffelsalat mit Kasseler Koteletts, einem Radler und einem Viertel Riesling. Es schmeckt vorzüglich, ich bin mir schließlich selbst der beste Koch und ich werde ausreichend satt.

Mit Dunkelwerden krieche ich in meinen Schlafsack auf die neue Isomatte. Endlich habe ich gefunden, was ich wirklich brauche und bin begeistert. Von dem harten Grasboden des Platzes spüre ich nicht das Geringste. Diese Matte war ein guter Griff, sie ist handlich und im aufgeblasenen Zustand mit ihren drei Zentimetern Dicke eine geeignete Unterlage. Sie soll mich bis zum Ende meiner Pilgerreise begleiten.

Wie jeden Tag stehe ich auch heute, am Sonntag, zeitig auf, sodass ich gegen sechs Uhr schon mit meinem Frühstück in den Aufenthaltsraum des Campingplatzes gehen kann, in dem sich außer mir verständlicherweise niemand um diese Zeit aufhält. Das erlaubt mir, meinen Gaskocher in Betrieb zu nehmen, mit dem ich das Wasser für meinen Frühstücksbrei und den Tee zum Kochen bringe. Die bitteren Mandelkerne füge ich vorbeugend meinem Müsli bei, gegen ein mögliches Rezidiv meiner Prostata-Krebserkrankung.

Als weitere vorbeugende Maßnahme führe ich zehn Ampullen einer Thymuslösung mit, die ich mir intramuskulär spritze, zweimal die Woche, also über einen Zeitraum von fünf Wochen. Wenn ich wieder Zuhause sein werde, setze ich die ebenfalls vorbeugende Mistelbehandlung fort. Thymus und Mistel sind jeweils Präparate, die die natürliche Immunabwehr des Körpers gegen eine Ausbreitung der im Körper möglicherweise noch vorhandenen Krebszellen aktivieren und verstärken sollen. Ich hoffe, sie tun es.

„Diese Maßnahmen sind der weniger wichtige Teil der Veränderungen, die du als wesentlich erkannt hast, die Not deiner Krankheit zu wenden. Sie hatte für dich eine lebenswichtige Botschaft, die du nicht aus den Augen verlieren darfst.

Es ist wunderbar, all die Dinge zu erleben, die dir auf deiner Fahrradreise begegnen. Sie sollen dich aber etwas erkennen lassen, und zwar nicht nur mit den Augen und dem Verstand, sondern vor allem mit dem Herzen.

Dazu musst du in dir die Stille finden, aus der all das hervorgegangen ist, was du so wunderschön findest. Du musst selber diese Stille sein, um diese tiefere Begegnung zu ermöglichen, die nur auf der Ebene deines Herzens stattfinden kann. Für diese Augenblicke ist es wichtig, dein Tun und Wollen loszulassen, das Leben einfach sein lassen. Das ist dein Auftrag, du hast ihn schriftlich erhalten.“

„Danke für die Erinnerung. Ich versichere dir, ich bin bemüht, ihn umzusetzen. Die Botschaft hat eine große Bedeutung für mich. Aber jetzt ist die Absicherung der äußeren Aspekte meiner Reise wichtig, Essen, Trinken, die geeignete Übernachtung, das touristische Spektakel. Das hat auch seine Berechtigung. Doch ich stimme dir zu, dass sich meine Reise nicht darauf beschränken sollte und gebe dir recht, dass die inneren Aspekte meines Weges, meine Gegenwärtigkeit und das Fühlen meiner Verbundenheit auf diesem Pilgerweg eine Priorität besitzen.“

„Es ist hoffnungsvoll, dass du sehr sensibel und offen auf meine Impulse und Hinweise eingehst, wenn du sie denn erkennst und zulässt. Du weißt tief in dir, dass du mehr bist als dein Körper, mehr als deine Leidenschaften und mehr als deine Ängste. Aber dieses Wissen allein reicht nicht aus. Dein Wille ist erforderlich, diese Einsicht umzusetzen, um sie in dir zu erfahren. Erst deine tiefe Erfahrung wird dich zu dem verändern, der du wirklich bist, und dein Bemühen darum wird vom Universum, vom Heiligen Elterlichen Geist unterstützt. Dessen sei dir gewiss.“

Ich freue mich über den kurzen Dialog. Er erinnert mich an das tiefere Anliegen, das ich mit meiner Pilgerreise verbinde. Dankbarkeit durchströmt mich jetzt, das Gefühl von Geborgenheit und Gewissheit in dem Frieden, jetzt hier zu sein. Ich darf der sein, der ich bin, und es ist nicht erforderlich, dafür etwas zu tun.

Dieser wunderbaren Freiheit bin ich mir jetzt bewusst, fühle mich beschenkt und freue mich darüber. Das taunasse Zelt lasse ich erst mal stehen. Mit dem Rad ohne Gepäck kann ich leicht in die Stadt fahren, um mir wenigstens einen Eindruck von ihr zu verschaffen, schließlich ist sie eine der schönsten Städte in Deutschland und ich darf sie leibhaftig sehen.

Ich fahre langsam und ruhig den Berg hoch, der in Serpentinen bis an die äußere Stadtmauer führt. Durch das Würzburger Tor betrete ich die Stadt und sehe nach wenigen Schritten das innere Stadttor vor mir. Ich erkenne es wieder. Ein Bild davon, das jetzt sehr lebendig in mir aufsteigt, hing in der Wohnstube meiner Großeltern. Ich erinnere mich, meine Großmutter gefragt zu haben, was dieses Bild zeigt, und seit ihrer Antwort hat sich der Name Rothenburg ob der Tauber tief in meinem Gedächtnis eingegraben, als exotische Stadt, in weiter Ferne im Westen liegend, für mich unerreichbar weit.

Als kleiner Junge glaubte ich damals, der Zusatz „ob der Tauber“ müsse so etwas sein wie ein Adelstitel, der diese Stadt nach meinem kindlichen Empfinden vor allen anderen heraushob.

Jetzt ist alles ganz normal. Das Stadttor liegt in seiner einfachen Schönheit vor mir und ich kann es wahrhaftig durchschreiten. Ich dringe tiefer ein in die fast menschleere Stadt, jetzt, am frühen Morgen. Die Zeiger der Kirchturmuhr zeigen auf ein paar Minuten nach sieben Uhr. Die Jakobskirche, die mich als Pilger anzieht und von der ich mir einen Stempel in meinen Pilgerpass erhoffe, ist noch geschlossen. Es ist die einzige Kirche auf meiner Reise, die zwei Euro fünfzig Eintritt verlangt, wie ich aus dem Anschlag im Schaukasten neben der Pforte ersehen kann. Ich fahre langsam kreuz und quer durch Straßen und Gassen, bewundere die alten Fachwerkhäuser und den Fleiß und die Liebe, der diese Stadt ihr Bild verdankt. Durch das Klingentor fahre ich aus Rothenburg heraus und zum Zeltplatz zurück. Ich habe noch eine Stunde damit zu tun, das Zelt und die Taschen einzupacken und verlasse erst gegen halb zehn den Platz.

Nun quäle ich mich auf dem Fahrrad mit vollem Gepäck noch einmal hoch zur Stadt, fahre entlang der Außenmauer eine halbe Runde und entscheide mich, die Reise in Richtung Feuchtwangen fortzusetzen, über Diebach und Schillingsfürst. Weiter geht es über Wörnitz, kleine Landsträßchen über Zumhaus, Ungetsheim und Mosbach in direkter Richtung auf Dinkelsbühl zu.

Auf Höhe Mosbach erinnert mich ein aufsteigendes Hungergefühl daran, dass es schön und sinnvoll wäre, jetzt etwas zu essen. Ich frage im Ort einen Mann mit grünem Trachtenhut nach einem Gasthof und er verweist mich lachend auf den Gebäudekomplex, der etwas abgerückt an der linken Straßenseite steht und den ich glatt übersehen habe.

Mir drängt sich die Erinnerung auf, dass ich als kleiner Junge auch so einen Hut hatte, mit dem mich meine Mutter schmückte und den sie ganz toll fand. Es war der „Seppelhut“ und ich habe ihn noch lange als Erinnerungsstück aufbewahrt. Der Seppelhutmann versichert mir jetzt, dass ich ordentlich was auf die Rippen bräuchte. Dafür wäre dieser Gasthof genau richtig.

„Sehe ich wirklich so hungerleidend aus?“

Egal, ohne mir diese Frage zu beantworten, schwenke ich von der Straße ab und stelle mein Fahrrad an der Seite des Gasthofs an den Zaun. Danach erwartet mich wirklich eine Überraschung. Ich betrete einen großen Speisesaal, in dem an vielen Tischen wenigstens hundert Menschen zu Mittag essen. Ich werde an einen Zweiertisch eingewiesen, der mit einem halben Meter Abstand die Fortsetzung der Stirnseite eines Achtertischs bildet. Für die Größe des Saales ist es erstaunlich ruhig. Ich werde sogleich von einer hübschen jungen Maid im Dirndl nach meinen Wünschen gefragt und bestelle ein Wasser und ein Viertel Weißwein. Mein Instinkt signalisiert mir, dass es hier Spargel geben müsste, was sich als zutreffend erweist. Da ich die Weste ausgezogen und hinter mir auf den trachtenmäßig designten Stuhl gehangen habe, bin ich als Rom-Pilger erkennbar. Von meinem Nachbarn zur Rechten werde ich auch gleich darauf angesprochen, woraus sich ein intensiver Austausch über das Pilgern ergibt. Auf Grund meines unverkennbar sächsischen Dialekts wird auch die West-Ost-Frage erörtert. Ich freue mich, dass die Wartezeit bei diesem anregenden Gespräch so kurzweilig vergeht.

Unsere Unterhaltung wird unterbrochen durch den Riesenteller mit dampfenden Klößen und Sauerbraten, der meinem Gesprächspartner jetzt vorgesetzt wird. Das nötigt ihn, sich seinem Essen zuzuwenden. Lange muss ich auch nicht mehr auf meinen Spargel warten, der wunderbar frisch und zart zu mir kommt. Ich genieße ihn ausgiebig mit den neuen Kartoffeln, der Soße und dem Wein.

Ein Espresso sollte das Ganze abrunden. Er findet aber seinen Weg nicht mehr bis zu mir, sodass ich zahle und gut abgefüllt das Wirtshaus verlasse. Mir wird beim Anblick des vollen Parkplatzes klar, dass die Leute aus einem ziemlichen Umkreis hierher zum Mittagessen fahren und jetzt verstehe ich auch das Lachen und die Bemerkungen des Hutmannes.

Es geht weiter nach Larrieden, wo ich auf einen Radweg treffe, der geradewegs nach Dinkelsbühl führt. Mit einundfünfzig Kilometern habe ich heute nicht gerade eine Rekordstrecke zurückgelegt. Doch denke ich an die Hinweise meines „Höheren Selbst“ und begnüge mich mit der Feststellung, ohne sie weiter zu bewerten. Es gibt einen Zeltplatz „CCH“ am Rand der Stadt. Den suche ich auf und bekomme eine große Wiese oberhalb der wohlgeordneten Reihen von Wohnwagen und Wohnmobilen gezeigt, auf der ich mein Zelt als erstes und bisher einziges aufstelle.

Es ist Nachmittag und ich fahre noch einmal in die Stadt, besuche im Rathaus ein Museum und informiere mich dort über die Vergangenheit der Freien Reichsstadt Dinkelsbühl. Die Freisitzfläche eines kleinen Hotels am Marktplatz nimmt mich gegen Abend auf. Ich koche heut nicht selbst, sondern bestelle mir den angebotenen Obatzter und ein Weißbier. So lasse ich den Sonntag ruhig ausklingen. Zum Zeltplatz zurückgekehrt, treffe ich auf ein zweites kleines Bergzelt mit einem Fahrrad daneben. Es ist ein Holländer, der von Kroatien aus zurück in die Heimat fährt und sich über die Kälte beschwert, die ihn hier nach den warmen Tagen im Süden empfängt. Nach einem kurzen Schwatz mit ihm krieche ich in mein Zelt zur Nachtruhe.

Die Frühstückszeremonie beginnt heute, am achtzehnten Mai, etwas früher als gewöhnlich und nach dem Zusammenpacken kann ich bereits um viertel vor acht vom Zeltplatz starten. Mein Weg führt über Nördlingen. Dort nütze ich die am Weg liegende Poststelle, um überflüssige Gewichte wie Sandalen, Jeans, Campingtisch und den defekten Fahrradcomputer zurück in die Heimat zu schicken. Ich beschränke mich auf eine Hose und meine neuen Schuhe. Wie ich auf die Idee kommen konnte, einen Tisch mitzunehmen, ist mir schleierhaft.

Mit dem GPS-Gerät ist das so eine eigene Geschichte. Es ist gestern beim Einstellen der Wegpunkte „ausgestiegen“ und ließ sich nicht dazu bewegen, seine Aufgabe fortzusetzen. Es hatte sich „aufgehangen“, wie man so schön sagt. Der Bedienanleitung konnte ich keinen Hinweis für seine Wiederbelebung entnehmen. Deshalb habe ich resigniert das Ding nach Hause geschickt. Ich werde es reklamieren, wenn sich keine andere Lösung zur Behebung der Funktionsunfähigkeit findet.

„Hast du vielleicht darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn das Instrument ausfällt, mit dem du deine Tüchtigkeit dokumentieren willst? Der Ausfall ist kein Zufall. Ich erinnere dich an ein vergleichbares Ereignis.“

„Du hast mal wieder die Hand im Spiel. Ich hätte selbst drauf kommen müssen. Natürlich weiß ich, was du meinst. Zu Beginn meiner Pilgerreise nach Santiago habe ich noch auf dem Flughafen London-Stansted meinen elektronischen Schrittzähler verloren. Ich erinnere mich recht gut an deine Aufforderung zur Besinnung auf den Weg, der nicht Gegenstand einer sportlichen Höchstleistung werden sollte.

Na gut, ich hadere nicht. Hoffentlich gelingt es mir bald, die Dinge etwas entspannter zu sehen und loszulassen. Es ist, als ob ich das gleiche Thema immer wiederhole. Irgendwann und irgendwie muss ich es doch begreifen!“

„Lerne, über dich zu lachen, anstatt dich zu verurteilen. Nimm deine Schwäche an und umarme sie. Sie ist Teil von dir und begleitet dich schon lange Zeit. Bedanke dich für ihre Hilfe und entlasse sie in Frieden, damit sie wirklich gehen darf.“

„Das werde ich versuchen. Ich staune immer wieder über den unglaublichen Zusammenhang zwischen dem, was ich als die Stimme meiner Seele wahrnehme, und dem, was mir passiert. Kein Zufall!“

Ich habe bereits neununddreißig Kilometer zurückgelegt und eine Mittagspause verdient. In der Kirche St. Georg in Nördlingen halte ich nicht nur innere Einkehr, sondern bekomme auch einen schönen Pilgerstempel in meinen Pass. Der weitere Weg führt über Harburg an dem Flüsschen Wörnitz nach Donauwörth. Ordentliche neunundachtzig Kilometer bin ich gefahren und lande mal wieder in einem Kanu-Klub, auf dessen großer Wiese ich mein Zelt aufstellen kann. Die Sonne scheint noch sehr intensiv und ich suche mir ein schattiges Plätzchen unter dem weit ausladenden Dach, das die dichte Belaubung einer Weide bildet. Das Zelt aufzustellen ist mir inzwischen vertraut. Ich ordne meine Sachen und widme mich ausgiebig der Körperpflege in dem sauber glänzenden Waschraum des Vereins.

Es geht hier sehr familiär zu. Einige der Mitglieder des Klubs machen Urlaub und mit beginnender Dämmerung wird am Feuer gebrätelt. Ich bin bereits von meiner Abendmahlzeit gesättigt, setze mich aber noch für ein Bier dazu. Die zunehmende Kühle zeigt mir bald an, dass es Zeit für mich wird, in meinem Zelt zu verschwinden.

„Bloß nicht übertreiben mit dem Aufstehen!“, sage ich mir und blinzele noch gähnend in die Morgensonne.

Heute nehme ich mir etwas mehr Zeit und fahre erst dreiviertel nach neun Uhr los. Am Baumarkt um die Ecke halte ich kurz an, um nach einem kleinen Fahrrad-Tachometer zu fragen. Der ist ziemlich bedeutsam für die Orientierung hinsichtlich zurückgelegter Entfernungen. Ich erstehe tatsächlich einen solchen Computer. Er hat ein großes, gut lesbares Display. Das ist wichtig für mich, denn ich kann während des Fahrens nicht jedes Mal die Lesebrille aufsetzen, wenn ich nach dem Kilometerstand sehen will. Ich halte das in Folie eingeschweißte Teil in der Hand, beschließe aber nach kurzer Überlegung das Montieren auf morgen zu verschieben und fahre los.

Es fällt mir heute eigenartig schwer, den richtigen Weg zu finden. Ein paarmal bin ich schon falsch abgefahren. Entweder ist die Ausschilderung so schlecht oder ich habe keinen guten Tag. Zu oft muss ich fragen oder anhalten, um immer wieder in die Karte zu schauen.

„Ich spüre die Ungeduld aus einem Widerstand gegen das, was ist. Halte doch einfach mal an und fasse in die linke obere Tasche deiner Weste. Da steckt ein kleiner Zettel, der dich an die Aufgabe deines Wegs erinnert. Die Tatsache, dass auf deinem Hemd ‚Pilger‘ aufgedruckt ist, macht dich nicht automatisch zu einem solchen. Es gilt, eine innere Haltung zu finden und die drückt sich in deinem Sein aus, in deiner Art, wie du in der Welt oder auf dem Weg bist. Du bist heute selbst nicht zufrieden damit, stimmt’s?“

„Ja! Im Entdecken meiner Schwächen bist du einfach unübertroffen. Manchmal bin ich dir sogar dankbar dafür, zugegeben, nicht immer.“

Nun begreife ich auch die Schwierigkeiten mit dem Pilgerstempel in Augsburg. Ich war regelrecht versessen darauf, mir einen solchen für meinen Pilgerpass zu besorgen, nachdem ich mitbekommen hatte, dass hier ein Bischof sitzt. Nach Vorsprache im Sekretariat des Bischoffs werde ich mit diesem Anliegen vom Fronhof 3 zum Fronhof 4 geschickt, dann zur Dompropstei und lande schließlich erfolglos wieder im Sekretariat. Doch die Dame dort ist glashart und gibt mir keinen Stempel, nicht mal einen normalen Bürostempel, um den ich sie am Ende bitte. Der Pilgerstempel, in der Dompropstei sicher verwahrt, hinterlässt seinen Abdruck nur täglich von zehn bis zwölf Uhr in den Pässen etwaiger Pilger.

Das muss für die ankommenden Pilger die gängigste Zeit sein, sich einen Stempel zu holen. Pilger starten meist nachts gegen ein Uhr, um am Morgen rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen und vor allem den wichtigen Stempel in ihren Pass zu erhalten. Daran hätte ich denken müssen. Dann wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, zu einer so unchristlichen Zeit wie fünfzehn Uhr, kurz vor Feierabend, noch einen Pilgerstempel haben zu wollen. Eben Pech gehabt!

„Der Stempel ist nur eine Randglosse. Du aber gibst ihm eine Bedeutung, die dich von dem abbringt, was du üben und erfahren sollst: das Leben sein zu lassen. Anstatt zu akzeptieren, hast du einen enormen Widerstand aufgebaut, der sich in Ärger und Wut in dir zeigt. Du hast die bischöfliche Bürokratie zum Teufel gewünscht, anstatt ihr zu danken für die Gelegenheit, Gelassenheit üben zu dürfen.

Mit Zorn im Bauch hast du nun den falschen Weg gewählt. Im Zustand der Abwehr kannst du den gesuchten und dir bestimmten Weg nicht finden, darüber solltest du nachdenken. Du bist heute so etwas wie ein sturer Bock und um den in dir aufzuweichen, könnte etwas Regen nicht schaden.“

„Ich habe zwar Königsbrunn auf einigen Umwegen erreicht, aber den verdammten Radweg nicht gefunden. Was du mir da unterschiebst, kann ich im Moment nicht annehmen und dass es jetzt auch noch anfängt zu regnen, finde ich … beschissen! Jetzt lasse ich dich erst mal sein. Ich habe alle Hände voll zu tun, mein Fahrradcape festzuhalten und mich gegen den Wind und den Regen nach Bobingen hin zu kämpfen. Dort soll es einen Bahnhof geben und sicher auch eine Bahn, die mich weiterbringt.“

Meine Seele hat die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen erkannt und lässt mich stumm gewähren. Ich fahre trotzig die restlichen zwanzig Kilometer von Bobingen bis Landsberg mit dem Zug. Denen werde ich es zeigen, doch ich weiß nicht, wer „denen“ ist. Unterwegs im Zug rufe ich eine Pension an, die in meinem Pilgerführer verzeichnet ist. Ich habe Glück und bekomme ein Zimmer in Pitzling. Dorthin muss ich vom Bahnhof Landsberg aus bei strömendem Regen noch runde sechs Kilometer strampeln und komme ziemlich aufgeweicht an Leib und Seele dort an. Ein Lichtblick ist die Verheißung der Wirtin, dass es heute Abend Sauna geben wird, die ich nach dem Kochen eines Abendessens dann auch ausgiebig genieße. Damit kann ich wenigstens dem dringenden Bedürfnis abhelfen, alles auszuschwitzen, womit ich in mir im Hader bin.

Danach will ich mich für die heutigen Strapazen mit einem Bier belohnen, das mir ein Getränkeautomat anbietet. Aber statt eines Biers ziehe ich eine Flasche Wasser heraus.

„Ätsch, falsch gegriffen!“

Dumm ist nur, dass ich offenbar die Orientierung verloren habe und auch beim zweiten Versuch nur Wasser ziehe. Für einen dritten reicht mein Kleingeld nicht mehr. Gehe ich also mit Wasser ins Bett.

Vielleicht sollte ich endlich zur Klarheit meines Anliegens zurückfinden, deute ich im Bett liegend die Fehlkäufe, die jetzt auf meinem Nachttisch stehen. Offensichtlich bin ich bereits in einem vernebelten Zustand und brauche dazu kein Bier mehr. Diesen Hinweis meiner Seele versuche ich jetzt zu verstehen und zu akzeptieren.

Vor dem Einschlafen taucht eine Erinnerung an ein Erlebnis auf dem Jakobsweg in mir auf, das mich sehr beeindruckt hat. Ich sehe noch den roten Mohn vor mir, rieche den üppig blühenden gelben Ginster auf dem Weg über Estella nach Villamayor. Dort habe ich am Rotweinbrunnen der Bodega Irache eine Zwischenpause eingelegt, um mich zu stärken. Anschließend genehmigte ich mir einen Viertelliter des kostenlos abzufüllenden leichten Rotweins.

Bei meiner Ankunft an der Bodega musste ich warten, bis eine Schar von Touristen wieder in den Bus eingestiegen war. Sie hatten sich, nach meinem Gefühl unberechtigterweise, mit dem kostenlosen Wein ihre mitgebrachten Flaschen und Behälter gefüllt. Die dahinter zu vermutende Raffgier hat mich ziemlich geärgert.

Am Nachmittag bin ich in Villamayor angekommen und habe in einer Herberge Quartier gefunden, die von einer freikirchlichen Gemeinde aus den Niederlanden betrieben wurde. Ich glaube, dass mich weniger das Beten vor der Abendmahlzeit und die Meditation beeindruckten, sondern vielmehr ein kleines Heftchen, das mir in die Hand gedrückt wurde. Es war das Johannesevangelium und es verkündete mir auf der ersten Seite, dass das Licht alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.

„Du hast verstanden, dass das göttliche Licht gemeint war, und dieses Verstehen ging über deinen Verstand bis tief in dein Herz. An diesem Punkt deines Weges hatte sich für dich etwas verändert.“

„Ich kann das mit Worten nur unzureichend beschreiben. Es war eine tiefe Erkenntnis, sogar eine Gewissheit, dass auch ich für dieses Licht bestimmt bin, dass ich selbst Teil dieses Lichtes bin und dass es eigentlich nur darum geht, dies zu erkennen.“

„Das Erkennen ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist es, dieses Erkennen zu leben, das Licht in deinem Dasein sichtbar werden zu lassen. Fühle, ob dies die Bestimmung ist, zu der dich auch dieser Pilgerweg führen will.“

Ich weiß es, und ich fühle es jetzt sehr deutlich. Mit diesem Fühlen ist eine Gewissheit verbunden, die mich ruhig und sicher sein lässt. In diesem Frieden kann ich mich leicht in den Schlaf gleiten lassen.

Am Morgen wache ich erfrischt und gestärkt auf. Der Regen kann meinen unerschütterlichen Willen vorwärts zu kommen nicht aufhalten. Ich frühstücke in aller Ruhe und verabschiede mich von der Pension in der festen Absicht, heute Mittenwald zu erreichen. Das ist natürlich nicht mit dem Fahrrad möglich. Aber anstatt irgendwo herumzusitzen und zu warten, dass der Regen aufhört, kann ich auch die Bahn benutzen. Zudem habe ich über die Nachrichten im Fernsehen mitbekommen, dass auch am Alpenrand schwierige Wetterverhältnisse herrschen und der Straßenverkehr davon beeinträchtigt wird.

Da es beim Losfahren in Pitzling vorübergehend zu regnen aufgehört hat, bin ich guter Laune. Die verlässt mich auch nicht, als das Tropfen wieder einsetzt. Heute kenne ich mein Ziel. Ich muss allerdings anhalten, mir den knallgelben Regenponcho überstülpen und mich gegen den Wind, der sich boshaft in ihm verfängt, durch einen langgestreckten Park vorwärts kämpfen. Den Bahnhof erreiche ich nach einer halben Stunde, in der ich trotz Poncho ganz schön durchnässt bin. Es gibt einen Zug nach Mittenwald, den ich über München-Pasing erreiche. Mir wird jetzt bewusst, wie nah ich an München bin.

Auch die Fahrt nach Mittenwald dauert nicht lange. Kurz nach Mittag steige ich dort aus dem Zug. Jetzt regnet es nicht mehr, es gießt in Strömen. Da muss ich einfach eine Weile abwarten. Ein Kaffee wärmt mich auf, und der Regen lässt tatsächlich etwas nach. Nachdem ich mich nach dem Weg zur Jugendherberge erkundigt habe, strample ich die acht Kilometer bergauf. Dabei werde ich doppelt durchfeuchtet: unter dem Cape vom Schweiß, den mir die stattliche Steigung aus allen Poren treibt, und darüber vom Regen, der ununterbrochen auf mich niedergeht. Telefonisch hatte ich mich bereits vergewissert, dass ein Bett für mich frei ist. Beim Einchecken lege ich mich noch nicht fest, ob ich eine oder eventuell zwei Übernachtungen benötige. Die Wetteraussichten sind nicht sehr rosig, es ist außerdem lausig kalt geworden.

Am Abend sehe ich im Wetterbericht, dass der Brennerpass eingeschneit ist. Endlosstau durch die vielen Autos mit Sommerreifen. „Wer denkt schon Ende Mai an Schnee? Na, vielleicht bleibe ich doch zwei Tage hier.“

In der Jugendherberge frühstücke ich exzellent. Ein leckeres Buffet lädt mich zum Zulangen ein. In dem Bewusstsein, nicht gleich wieder etwas zu essen zu bekommen, zieht sich mein Frühstück hin.

Dabei versuche ich, mir Klarheit darüber zu verschaffen, was ich tun soll: Weiterfahren oder hierbleiben? Mein Bauch sagt mir weiterfahren, also wieder mit der Bahn.

Doch zuvor will ich mich von meinen durchgeweichten, in Auflösung begriffenen Sportschuhen verabschieden, die für Sonne und Wärme gedacht sind und den Dauerregen nicht aushalten. Ich kaufe mir in Mittenwald für teures Geld ein paar grundsolide leichte Berg-Halbschuhe. Damit fühle ich mich sofort wohler und überlasse dem Schuhgeschäft das Entsorgen der alten Turnschuhe. Sie haben ihren Dienst getan.

Meine eiskalten Finger am Lenker erinnern mich daran, dass ich bei der Alpenüberquerung noch ein paar hundert Meter höher hinaufkomme. Da ist die Luft nicht nur dünner, sondern auch kälter, vermutlich deutlich kälter als jetzt vor dem Bahnhof in Mittenwald. Ich mache mich auf die Suche nach Handschuhen. Was mir die einschlägigen Bergausrüster anbieten können, ist dürftig und teuer. Kein Mensch rechnet jetzt noch damit, dass Handschuhe gekauft werden.

Nur im Fahrrad-Spezialgeschäft ist man auf alle Eventualitäten vorbereitet. Ich erstehe dort zu einem ebenfalls sündhaften Preis ein paar gefütterte Handschuhe. Die Verkäuferin versichert mir, dass sie auch wasserdicht sind. Wie weise diese Ausgabe ist, soll ich allerdings erst am nächsten Tag erfahren.

„Du hast dich äußerlich den veränderten Bedingungen deines Weges gut angepasst. Wie sieht der innere Fortschritt aus? Fühlst du dich dem nahe, der diese Reise unternimmt? Oder bist du mehr auf die Form fixiert, auf die äußeren Bedingungen, die deine ganze Aufmerksamkeit binden?“

„Eine unangenehme Frage. Ich bin hier als Pilger ziemlich allein unterwegs. Da ist die Gefahr natürlich groß, dass ich mich mehr im Außen bewege. Als ich vor vier Jahren nach Santiago ging, war ich vom ersten oder zweiten Tag an in einem besonderen Energiefeld des Bewusstseins, das durch den Weg und die vielen Pilger erzeugt wurde.“

„Dennoch hast du selbst etwas Maßgebliches zum Gelingen dieses Weges beigetragen.“

„Weil ich den Weg nicht mit Franz fortgesetzt habe, mit dem ich die beiden ersten Tage zusammen war? Für den Start in Saint-Jean-Pied-de-Port und insbesondere für die Überquerung des Pyrenäenkamms war seine Begleitung hilfreich. Aber nach meiner zweiten Übernachtung in Larrasoaña war mir beim Erwachen schon klar, dass mein Weg von mir fordert, allein zu gehen. Ich hätte sonst weiter das Gefühl gehabt, auf einer touristischen Wanderung unterwegs zu sein, mit einem netten Schwatz und der unverbindlichen Freundlichkeit, die durch ein gemeinsames Ziel entsteht. Doch das wollte ich ja nicht. Mit mir allein und niemand anderem wollte ich verbindlich auf dem Weg sein. Ging es mir doch nahezu um das gleiche Anliegen, das mich auch diesmal auf den Weg gebracht hat.“

Das Leben sein lassen

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