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Der fragende Träumer

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Wie schön war die Zeit, die ich mit meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern, Bruder und Schwester, in diesem idyllischen kleinen Dorf verbrachte, inmitten eines lang sich hinziehenden Tals, umgeben von markanten Bergen. Ich muss wohl immer etwas nachdenklicher gewesen sein als andere, denn oft ertappte mich meine Mutter, wie ich „weggetreten“ auf einer Wiese lag und auf den höchsten Berg starrte, der nördlich von unserem Dorf in den Himmel ragte. Eigentlich interessierte ich mich nicht sehr für das Dorfleben. Ich blieb oft für mich allein und dachte nach. Ich machte mir über alles Gedanken - über den Sinn des Lebens und warum alles so ist, wie es ist, was gut ist und was böse: Warum, warum, warum?

Ich habe einmal gelesen, dass ein Philosoph ein Mensch ist, der es nicht verlernt hat, sich immer wieder aufs Neue über das Leben zu wundern, und der sich nie so richtig an das Leben gewöhnt hat, da es ihm fortwährend neue Rätsel aufgibt. Ich beobachte die Menschen, wie sie sich in ihrem immer gleich anmutenden Alltag verlieren, sich an alles gewöhnen, was geschieht, und keine darüber hinaus gehenden Gedanken mehr entwickeln können. Ich finde dies ziemlich trostlos. Bin ich deswegen schon ein Philosoph? Wohl kaum, da Philosophen bekanntlich ja auch Antworten finden. Ich hingegen bin nur ein Suchender, der bis jetzt noch nichts Greifbares entdecken konnte.

Damals jedenfalls war ein Wirrwarr von Gefühlen in mir, die mich auseinanderzureißen drohten. Da ich viele Fragen hatte und sich die Erwachsenen oft durch mich genervt fühlten, musste etwas geschehen. Doch was? Ich starrte auf den Berg, der sich stolz und würdevoll über das Tal erhob. Ganz oben verlor sich der dichte Wald und gab den Blick frei auf einen offenen, lichten Platz, von dem man sicherlich alles rundum überblicken konnte. Dort oben muss man dem Himmel und somit den großen Wahrheiten ganz schön nahe sein, dachte ich und schaute erwartungsvoll in die Höhe. Der Berg hatte mich schon immer angezogen, und ich wusste eigentlich nicht, warum. Ich war noch nie bis zu der kahlen Stelle auf dem Gipfel gekommen. Kein Weg führte direkt dorthin, und meine Geschwister lachten mich aus und meinten: „Da oben war noch kein Mensch. Es gibt dort bestimmt Berggeister.“ Eines wusste ich, und ich spürte es ganz deutlich, während mein Herz wild in mir pochte. Irgendwann werde ich ganz allein da oben sein und in das Tal mit all seinen Menschen hinabblicken. Dann werde ich alles von einer höheren Warte aus betrachten können. Vielleicht werde ich auf dem Berg die Antworten auf meine vielen Fragen bekommen.

An einem heißen Spätnachmittag im Sommer war es dann soweit. Ich lag auf der Wiese, meine Eltern und meine Geschwister waren weg und würden erst am späten Abend zurückkehren. Ich war also allein. Ich starrte auf den Berg, aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, dass er mich auch anschaute. Ich wusste nun, dass ich nach oben musste. Der Zeitpunkt war gekommen. Jetzt, sofort! Ich stand wie elektrisiert auf und begann, das Tal zu durchschreiten.

Ich nahm die Menschen, denen ich begegnete, kaum noch wahr und ließ nach etwa fünfzehn Minuten das Dorf hinter mir.

Vor mir schlängelte sich ein schmaler Pfad durch eine Blumenwiese an einem Bach entlang. Zunächst ging es etwas bergab, bis ich nach einigen Minuten vor einem dichten, dunklen Wald stand, in den ein breiter, nun ansteigender Weg führte. Es war der Einstieg zum Berg, der sich jetzt in seiner ganzen vollendeten Pracht vor mir ausbreitete.

Zuerst ging es gemächlich bergauf. Der dichte Wald verschluckte einen großen Teil des Tageslichtes, und ich spürte eine angenehme Kühle auf meiner Haut. Nach einer Biegung wurde der Weg plötzlich enger und fester und führte jetzt steil nach oben.

Nichts konnte mich mehr an meinem Vorhaben hindern.

Immer dichter und üppiger schien der Wald zu werden, und ich war schon ziemlich außer Puste, als es weit vorn etwas heller wurde. Es musste eine Lichtung sein. Nach einigen Minuten erreichte ich die Stelle, und zu meinen Erstaunen stellte ich fest, dass nun der Weg zu Ende war. Er verlor sich in einem kleinen Wiesenstück, von dem man einen Blick in ein anderes Tal werfen konnte, aber auf dem Gipfel war ich noch lange nicht.

Oberhalb der Wiese wuchs dichter Wald den Berg empor.

Um an meine von unten fixierte Stelle zu kommen, musste ich jetzt durch den pfadlosen Wald steil nach oben steigen. Ein Dickicht von Zweigen verursachte eine ziemliche Missstimmung in mir. Aber ich kämpfte gegen meine negativen Gefühle an und zwängte mich durch das dichte, unübersichtliche Gestrüpp. Ich nahm es in Kauf, feine und auch größere Äste in meinem Gesicht zu spüren, gelegentlich abzurutschen und mit den Knien auf dem felsigen Boden aufzuschlagen. Nein, ich würde nicht nachgeben. Ich würde mich überwinden und weiter kämpfen, wenn auch inzwischen etwas orientierungslos.

Der Wald ließ gerade noch so viel Tageslicht durch, dass ich mir meinen Weg nach oben bahnen konnte. Wegen der vielen Hindernisse ging es nun aber nur noch langsam voran. Ich versuchte mir vorzustellen, in welcher Richtung die von mir anvisierte Stelle sein konnte, doch mein Vorhaben gestaltete sich schwierig.

Nach einiger Zeit war ich oben angelangt. Es ging nicht mehr höher, aber ich war eingekesselt von dichtem Wald, und von der lichten Stelle auf dem Gipfel fehlte noch immer jede Spur.

Ich musste mich nun für eine Richtung entscheiden. Also weiter nach links, wieder durch Gestrüpp, an dichtem Baumwuchs vorbei. Mittlerweile war ich mit einigen Schrammen versehen und versuchte verbissen, mein Unbehagen nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Endlich schien sich meine Tortur ihrem Ende zu nähern. Vor mir rechts wurde es heller. Ich steuerte dorthin und wurde nicht enttäuscht. Ich hatte es geschafft! Vor mir lag ein baumloser, teilweise felsiger und mit Gras bewachsener Platz. Das war die Stelle, die ich immer von unten gesehen hatte. Nun war ich da – oben auf dem Berg.

Ich betrat die Lichtung und hatte die schönste Aussicht, die man sich vorstellen kann. Die Häuser unten im Dorf wirkten wie Miniaturhäuser auf einer Spielwiese. Der Himmel war zum Greifen nahe, aber war ich damit auch den Wahrheiten näher, die ich suchte?

Ich fühlte Erleichterung darüber, den Aufstieg geschafft zu haben und das Tal in seiner vollständigen Länge von oben erblicken zu können. Dennoch war mir nicht ganz wohl in meiner Haut. Der Aufstieg hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich ursprünglich geplant hatte, und es fing schon an zu dämmern. Ich wollte mich hier oben noch ein wenig besinnen, aber wenn ich dann den Abmarsch ins Tal beginnen würde, wäre es bereits dunkel.

Was tun? Bei dem Gedanken, in der Dämmerung oder gar in der Dunkelheit den Wald zu durchqueren, erfasste mich ein Schauder. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als die Nacht auf dem Berg zu verbringen.

Ich dachte an meine Eltern, die sich sicher große Sorgen um mich machen würden. Die Dämmerung verstärkte sich, und vom Tal kam der Klang der Kirchturmglocke empor, die den Abend in unserem Dorf einläutete.

Dann war nur noch Stille.

Am Himmel leuchteten die ersten Sterne. Eine schwere Müdigkeit stieg in mir hoch, der ich mich ergeben musste. Neben einem kleinen Felsen dicht am Abgrund legte ich mich in eine mit Gras bewachsene Mulde. Hier verspürte ich eine behagliche Ruhe und genoss die angenehme Wärme des Abends und die abgeschiedene Schönheit dieses von der Sonne verwöhnten Fleckchens Erde. Kein Mensch würde mich hier oben stören. Ich war allein, dem Himmel mit seinen vielen Lichtern nahe, die sich vervielfachten, je dunkler die Nacht hereinbrach.

Ich schloss meine Augen und spürte noch einen leichten Luftzug – dann nichts mehr. Der Schlaf hatte mich eingeholt.

Warum bin ich hier?

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