Читать книгу Touch the Core. Die Tiefe berühren. - Thomas Andresen - Страница 12
ОглавлениеWer bin ich?
Das individuelle, uns von anderen unterscheidbar machende Denken, Handeln, Fühlen, Wahrnehmen ist das, was ich unter dem Begriff Persönlichkeit verstehe. Die Wortherkunft vom lateinischen Wort Persona (ursprünglich: Maske, Rolle) versucht erst gar nicht zu verstecken, dass die Persönlichkeit nur eine Oberfläche ist, und nicht Dein Kern. Indirekt scheint dieser zwar durch, doch wird sein Glanz verzerrt und gemindert durch das Ego. Das Ego ist nicht Dein wahres Ich, sondern Dein Selbstbild. Dieses ist der Ausdruck der Prägung Deiner Wertvorstellungen und der Konditionierung Deines Denkens und Deiner Wahrnehmung durch Dein soziokulturelles Umfeld. Das Ego ist nicht zur Selbstreflexion befähigt; es fragt nicht; „Wer bin ich?“, sondern nur: „Wie möchte ich gesehen werden?“ Es bestimmt die Richtung und Geschwindigkeit der Persönlichkeits- entwicklung, die zum Ziel hat, Dich im gesellschaftlichen Ansehen steigen zu lassen. Dein Ego ist die Maske, die Du aufsetzt, um vermeintlich schöner, größer, besser, geliebter zu sein. Es wird genährt von Eitelkeit und geht einher mit dem Irrglauben, aus einem persönlichen Verdienst heraus besonders zu sein. Doch für die SelbstEntfaltung, das Sichtbarwerden des Kerns, hat das Ego eine bremsende Funktion.
Die Persönlichkeit ist die Bühne für das Wechselspiel der Kräfte von Ego und wahrem Selbst, dem Kern. Sie ist kein feststehendes Konstrukt, sondern ändert und entwickelt sich im Laufe des Lebens. Wir sind aufgerufen, jeden Tag dem ICH mehr Raum zu geben als dem Ego. Was aber ist dieses Ich, der Kern? Körper? Seele? Geist? Köpergeist? Körperseele? Seelengeist?
Der Blick zurück auf die Anfänge unserer Existenz gibt uns einen ersten Zugang für die Erforschung dieser Frage. Vom Zeitpunkt der Befruchtung an bis ins zweite Lebensjahr hinein leben wir in einem Zustand der Non-Dualität. Wir sind verbunden mit den Empfindungen unserer nächsten Bezugspersonen. In einer subtilen Weise sind wir mit den kulturellen Übereinkünften des sozialen Umfelds synchronisiert. Alle Sinneswahrnehmungen sind für einen Embryo, einen Fötus und ein junges Baby zu einer einzigen Wahrnehmung verschmolzen. In der Non-Dualität gibt es noch keine Ego-Struktur. Selbst wenn ein Baby sprechen könnte, wäre es nicht fähig, „ich“ zu sagen oder sprachlich seinen eigenen Willen zu artikulieren. Alles ist eins. Dies entspricht der Wahrnehmung, in der Gebärmutter, umspült von Fruchtwasser, schwerelos umherzutreiben. Im Christentum entspricht dieser Zustand der Metapher des Gartens Eden, wo wir innig mit Gott verbunden sind.
Es gibt keinen Zeitpunkt in unserem Leben, in dem wir nicht ganz sind. Es geht immer nur um die Frage, ob sich ein Mensch ganz zeigen und leben kann.
Doch der Fall aus dem Paradies kommt unweigerlich. Im Laufe des zweiten bis vierten Lebensjahres verliert sich die Non-Dualität zunehmend und geht in den Modus einer dualen Wahrnehmung über. Das kleine Kind lernt, zwischen sich selbst und der Umgebung zu unterscheiden. Denn beginnend mit dem Verlassen der Gebärmutter, bekommt es über seine Sinnesorgane eine Unmenge zusätzlicher Informationen. Es unterscheidet angenehme und unangenehme Gefühlszustände und Situationen. Durch das Spüren von Berührung lernt es seine eigenen Körpergrenzen kennen. Die Schwerkraft zeigt ihm ebenfalls deutlich die Grenzen des eigenen Körpers und seines Bewegungsspielraums auf. Durch die noch nicht ausreichend entwickelte Sprachkompetenz erfährt es eine weitere Einschränkung seines Handlungs- und Gestaltungsspielraums. Da es seine Bedürfnisse sprachlich noch nicht zum Ausdruck bringen kann, ist es abhängig davon, wie gut die engen Bezugspersonen auf es eingestimmt sind. Niemals ist die Einstimmung so umfassend, dass alle Bedürfnisse des Babys permanent befriedigt werden.
Durch die Spiegelung seiner engen Bezugspersonen lernt das Kind, dass bestimmte Verhaltensweisen gern gesehen werden und zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hilfreich sind. Andere Verhaltensweisen hingegen bekommen weniger positive Resonanz, führen nicht zur Befriedigung seines Bedürfnisses oder rufen Stressreaktionen bei den Eltern hervor. Indem es Verhaltensweisen vermeidet, die sein Umfeld destabilisieren und so zu einer Stressreaktion für es selbst führen, schützt sich das Kind. Doch der Preis ist hoch.
Um dem Umfeld zu gefallen, hielten wir als Kinder Verhaltensweisen und Gefühle zurück, verdrängten sie oder spalteten sie gar ab. In Summe führt dieses Verhalten über die Zeit dazu, dass wir uns als ein von unserer Umwelt getrenntes Wesen wahrnehmen.
Die Stressfaktoren, die zu diesem Gefühl des Getrenntseins führen, wirken in erster Linie auf der körperlichen Ebene. Daher verbinden wir dieses frühe Ich-Erleben vorrangig mit unserem Körper. Die sich in Folge entwickelnde Struktur ist das Ego. Es lässt uns in unserem Sein abgetrennt von unserer Körperlichkeit wahrnehmen. Mit dieser dualen Wahrnehmung ist gleichzeitig die Grundlage für Bewertung angelegt – fortan etikettieren wir jede Erfahrung als angenehm, positiv oder unangenehm, negativ.
Auch später, wenn das Kind erwachsen geworden und der Schutz eigentlich nicht mehr notwendig ist, bleiben die erlernten Verhaltensmuster erhalten. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, den Kontakt zum eigenen Kern wiederherzustellen, kontinuierlich zu wahren und offen zu halten. Und meist geht mit der Distanz zu sich selbst auch die Bewusstheit verloren, einzigartiger Teil eines Ganzen zu sein. Stattdessen resultiert oft eine Selbstwahrnehmung, die davon ausgeht, lediglich einen Körper zu haben, anstatt sich in einer belebten und beseelten Körperlichkeit wahrzunehmen.
Auf dem Weg von der non-dualen zur dualen Wahrnehmung wird der Zugang zu einem großen Teil Deines Kerns verschüttet. Auch wenn es für den Moment so scheint, als ob der Verlust der Non-Dualität das einzige Unglück sei, so ist letztlich das Gefühl des Getrenntseins nicht zu bedauern. Denn die Bildung der Ego-Struktur ist zwingende Voraussetzung, um im Laufe der Entwicklung und Entfaltung zunehmend fähig zu werden, sich selbst zu reflektieren und auf dieser Basis Bewusstsein zu entwickeln. Denn das vorgeburtliche Gefühl der Verbundenheit hat eine gewisse Undifferenziertheit, da eben die Ich-Struktur noch nicht ausgebildet ist. Erst die selbst-bewusste Wahrnehmung von Verbundenheit lässt Dich die eigene Seins-Qualität erkennen.
Aus der Perspektive Deines Selbst-Bewusst-Seins eröffnet sich der Raum, Deine Individualität mit all ihren Teilen, Deinen Kern mit all seinen Facetten zu erkennen.
Einen leicht zu greifenden und gleichzeitig dennoch komplexen Zugang zu unserer menschlichen Wesenhaftigkeit bekommt man durch die Betrachtung der Vorgänge, die ab der Empfängnis bis zur Geburt im Mutterleib stattfinden. Dazu müssen wir aber unser Schulwissen für einen Moment zur Seite stellen. Denn unsere Kultur ist geprägt von einem analytischen, deduktiven Denken. Wir neigen dazu, alles in Einzelteile zerlegen zu wollen, hinab bis in die Ebenen der Teilchenphysik und der Elektronenrastermikroskopie, in der Hoffnung, die Ursache allen Seins dort zu entdecken und das Geheimnis der Schöpfung zu verstehen. Wissenschaft ist notwendig und sinnvoll. Doch sie bietet nicht die einzige Perspektive, aus der die Welt betrachtet werden kann. Zwar kennt jeder die auf Aristoteles zurückgehende Erkenntnis, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile. Doch unsere naturwissenschaftlich geprägten Denkmuster führen dazu, dass wir beständig versuchen, simple Ursache-Wirkungs-Ketten zu erkennen. Die folgenden Ausführungen zu den Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenerleben, die durch die vorgeburtliche Zeit hindurch bis ins Erwachsenenalter stattfinden, sind durch die Arbeit von und mit Jaap van der Wal und Terence Dowling inspiriert. Sie geben sowohl Zugang zu unserer wesenhaften Gleichheit als auch zur Prägung und Entwicklung unserer individuellen Persönlichkeit.
Die Befruchtung der Eizelle findet in der Regel im Eileiter statt. Anders als gerne glauben gemacht, ist es kein Wettrennen der Spermien, wer als erstes „drin“ ist. Im Gegenteil: Die Eizelle ist von eigenen Nährzellen wie von einem Strahlenkranz, der Corona radiata, umringt. Durch Abgabe bestimmter Substanzen treten die Spermien mit diesem Nährzellen in eine Wechselwirkung. Es findet eine Öffnung der Eizelle statt, eine Öffnung von innen nach außen. Erst dadurch entstehen Bedingungen, die die Fusion beider miteinander zu einer neuen Einheit ermöglichen. Weder dringt ein Spermium ein, noch wird es gnädig eingelassen. Es ist ein Stunden andauernder Prozess des sich gegenseitig immer mehr aufeinander Einlassens, quasi eine Art Paarungstanz, der zur Verschmelzung führt.
Neues Leben ist entstanden. In der befruchteten Eizelle sind bereits alle Informationen für das Wachstum dieses Menschen vorhanden, es kommt nichts mehr hinzu. Es findet nur eine Vermehrung, Spezifizierung und Differenzierung von Zellen statt. Die Zeit bis zur Geburt, die Pränatalzeit, gliedert sich in drei Zeiträume: Die Zeit nach der Befruchtung bis etwa zur Einnistung in die Gebärmutter, von der Einnistung bis zum Abschluss der Organbildung und die Zeit des fötalen Wachstums.
Während die befruchtete Eizelle vom Eileiter langsam in die Gebärmutter treibt, finden schon Zellteilungen statt. Ohne dass sich die Größe des Gesamtorganismus ändert, entstehen identische Zellkopien. Ab dem vierten Tag entwickelt sich der kugelförmige, 32-zellige Organismus (Morula) zur sogenannten Blastozyste weiter. Bis zu diesem Zeitpunkt wird weder etwas entfernt oder zurückgelassen, noch kommt etwas von außen hinzu. Die Frucht bleibt immer Eins. Doch nun passiert etwas Einschneidendes: Die Zellen der Peripherie teilen sich schneller und werden später zum Trophoblasten, der Grundlage des Mutterkuchens. Die inneren, sich langsamer teilenden Zellen werden zum Embryoblasten, aus ihm entsteht der Mensch an sich.
Dies ist der erste Moment des Entstehens einer Dualität: Sowohl der spätere Mutterkuchen (außen), als auch der Embryo (innen) sind ein Produkt der befruchteten Eizelle. Dies lässt sich wunderbar im Bild von einem Baum und seinem Wurzelwerk darstellen. Der Baum nimmt seine Nahrung über seine Wurzeln auf, über den Stamm strömt sie in die sich ausbildende, dem Himmel entgegenreckende Krone. So ist es auch beim Embryo. Der Mutterkuchen verwurzelt sich in der Gebärmutter. Dort nimmt er seine Nährstoffe auf. Die Nährstoffe kommen nicht von ihm, aber durch ihn. Der Mutterkuchen und die Qualität der Versorgung durch ihn ist die erste prägende Erfahrung von Beziehung. Es findet ein Austausch, ein Dialog zwischen dem Embryo und seiner Plazenta statt.
Von der Einheit zur Dualität
„Was bekomme ich von Dir, was gebe ich Dir von mir?“ Der Embryo kann durch sein Bewegen die Versorgung beeinflussen, denn eine erhöhte körperliche Aktivität des Embryos erhöht den Blutrückstrom zum Mutterkuchen. Und da es sich um einen Kreislauf handelt, bekommt der kleine Mensch dadurch auch mehr Blut von der Plazenta zurück. Umgekehrt wurde bei Ultraschalluntersuchungen festgestellt, dass Feten den Fluss der Nährstoffe durch die Nabelschnur auch reduzieren können, indem sie sie mit der Hand zusammendrücken.
Das im Mutterkuchen angereicherte Blut trägt neben Nährstoffen auch Antikörper mit sich, die die Immunabwehr des Embryos übernehmen. Ebenso sind mütterliche Hormone und andere Botenstoffe im Blut gelöst. Aber auch Giftstoffe gehen aus dem Organismus der Mutter auf das Kind über. Der Embryo und Fötus ist dadurch unmittelbar mit der Mutter und ihrem Empfinden, mittelbar mit ihrem Umfeld synchronisiert. Sofern man überhaupt schon von einem Bewusstseinszustand sprechen kann, ist noch keine Differenzierung der verschiedenen Qualitäten möglich. Das kindliche System kann nicht unterscheiden, welche Informationen dem eigenen Organismus entspringen, und welche ihm über den Blutweg oder durch das Fruchtwasser zugespült werden. Doch egal, von wo diese Informationen kommen, bereits auf diesem Weg finden Lernen und Prägung statt. Es stellt sich hier keine Frage nach Bewertung.
Ich unterscheide pränatales Erleben von pränatalem Erfahren:
• Alle unmittelbaren, direkt auf das Körperliche einwirkenden Einflüsse sind pränatales Erleben. Durch den Reiz kommt es als Antwort zu einer Veränderung der Steuerung des kindlichen Organismus. Beispiele sind die Ernährung der Mutter, aber auch Diagnostik, Komplikationen oder Eingriffe während der Schwangerschaft.
• Pränatale Erfahrungen entstehen aus den mittelbaren Einflüssen auf das Baby, vor allem dem emotionalen Erleben der Mutter. Sie lösen nur unmerkliche oder keine direkten körperlichen Reaktionen aus. Sehr wohl haben sie aber einen emotionalen Einfluss und prägen mitunter Verhaltensweisen und Glaubenssätze im späteren Leben dieses heranwachsenden Menschen. Eltern, die sich am wachsenden Bauch freuen, oder die Angst der Eltern vor der wachsenden Verantwortung sind solche Erfahrungen.
So bringt das Kind schon mit seiner Geburt eine Unmenge an Erfahrungen und Erlebnissen mit. Ein besonders prägendes Moment ist dann das Geburtserlebnis selbst. Geboren werden ist ein tiefgreifender Übergang von einem Zustand in einen anderen. Es ist der unvermeidbare Weg ins Unbekannte. Er führt durch die Enge und durch die Schwärze. Es gibt kein Zurück, keinen Kompromiss, keine Alternative. Hatte das Kind bis zu diesem Zeitpunkt im Bauch noch einen Rest an Bewegungs- und somit Handlungsmöglichkeit, so muss es nun die Kontrolle aufgeben, sich dem Prozess und seinem Mechanismus anvertrauen. Im Vorgang der Geburt wird etwas ins Leben gebracht, anderes zurückgelassen.
Der Fötus muss den Mutterkuchen zurücklassen, um geboren zu werden. Doch der Mutterkuchen war ein Teil der Ganzheit der befruchteten Eizelle. Ganzheitlich betrachtet ist dieser Verlust eine der Grundlagen für das menschliche Gefühl, allein, nicht verwurzelt, heimatlos zu sein.
Hier ist anteilig die älteste menschliche Frage „Wer bin ich?“ beheimatet. Die Geburt ist Ursprung für ein mangelndes Bewusstsein bzw. Gefühl von Verbundenheit, denn mit ihr wird der Übergang zum bewussten Erleben von Dualität eingeleitet. Aus diesem Moment rührt auch die Sehnsucht nach einem Gefühl des Zuhause-Seins her, die uns antreibt, Verbundenheit zu suchen. Für mich ist diese Suche nach einer Ganzheit auch die treibende Kraft, die zunehmend Begegnungsräume – bald mehr virtuell als in der Realität – entstehen lässt, in denen wir hoffen, wieder anzukommen, wieder ganz, wieder eins zu werden.
Meine Geburt hat für mich dieses Moment der Trennung. Sie war geprägt von einem unbändigen, kraftvollen Bestreben, in die Welt zu treten. Der Wunsch meiner Mutter war, mich aus der natürlichen Hockhaltung zu gebären. Doch sie wurde in die Rückenlage gezwungen. So wurde ich entbunden, nicht geboren. In dieser Position bereiteten ihr die Wehen solche Schmerzen, dass ihr Kreislauf kollabierte. Ob sie darüber hinaus noch eine damals nicht unübliche sogenannte Durchtrittsnarkose bekam, ist nicht sicher. Für mein Gefühl war meine Mama „weg“. Meine Blutversorgung brach kurzfristig zusammen – es war dies ein Erleben des Sturzes in die bodenlose, unendliche Tiefe, das Nichts, die Verlorenheit, verbunden mit tiefer Angst. So kam ich mehr tot als lebendig zur Welt.
Bis in die späte Kindheit hinein begleitete mich im Schlaf die Verarbeitung mittels eines wiederkehrenden Alptraums, in dem ich aus dem Fenster stürzte. Dennoch bin ich dankbar dafür, wie es war. Denn durch mein Erlebnis habe ich mir die Erinnerung bewahrt, dass nicht alles, was sich nach Sterben anfühlt, mit dem Tod einhergeht. Und es war meine Liebe und die Liebe meiner Eltern, die mich im Leben hielt.
Das kraftvolle, etwas zu schnelle, forcierte Voranstürmen wurde zu einem Muster, das manche Beule und manchen Schmerz brauchte, um mich von ihm zu befreien. Und bis heute begegnet mir von Zeit zu Zeit noch das Gefühl, allein und verloren zu sein. Gleichzeitig ist dies eine treibende Kraft, die meine Sehnsucht nach Verbundenheit speist, wissend, dass es nur Liebe ist, die diese kreiert.
Nach der Geburt ist der sofortige Kontakt des Kindes zu seiner Mutter von zentraler Bedeutung. Das Kind kennt seine Bezugsperson zwar inwendig, muss nun aber auch mit dem, was von seiner Mama im Äußeren wahrnehmbar ist, vertraut werden. Die Stimme hört sich anders an, die Geruchswahrnehmung ist an der Luft eine andere. Ganz neu ist für das Baby ihre Körpersprache, insbesondere die Mimik. Zuerst lernt es, das Gesicht seiner Mama zu erkennen. Dies ist die Grundlage für die Kind-Mutter-Bindung. In dieser ersten Phase ist viel Kontakt zur Mutter oder einer anderen klaren Bezugsperson von zentraler Bedeutung. Das Baby lernt sich selbst unter den neuen Umgebungsbedingungen kennen, die Grundlage für die später duale Wahrnehmung wird gelegt. Je weniger verschiedene Gesichter das Neugeborene sieht, umso leichter tut es sich, eine gespiegelte Wahrnehmung seiner selbst zu entwickeln. Diese Spiegelung ist aber immer nur eine verzerrte Wahrnehmung des Kerns. Oft sind die Neugeborenen in dieser Phase noch sehr verschlafen und introvertiert.
Erst ab etwa der 6. Woche sind die Babys richtig angekommen und es gibt eine Art Aufwachen in dieser Welt.
Idealerweise hat das Kind zu diesem Zeitpunkt des Erwachens eine erste Orientierung zu sich bekommen und angefangen, eine Bindung zu entwickeln. Den stetigen Wechsel von Entwicklung nach innen und Entwicklung nach außen hat das Kind schon die gesamte Embryonalzeit hindurch vollzogen. Nun beginnen gegenüber dem Außen das Erkennen und Spiegeln der Gesichtsausdrücke der Bezugsperson. Seine Mimik bleibt für lange Zeit nur die Summe der Gesichtsausdrücke der Eltern oder sonstigen frühen Bezugspersonen. Mit etwa einem halben Jahr kommt wieder eine Phase der Introversion, das Baby beginnt, auch nach innen zu spüren und seine Gefühle wahrzunehmen. Es spiegelt nunmehr nicht nur die Mimik, sondern auch die Emotionen. Und das Kind hat gelernt, wie es sein muss, wie es „funktionieren“ muss, um an Liebe, Nahrung, Aufmerksamkeit und Ansprache zu bekommen, was es braucht. Die ersten neun Lebensmonate sind eigentlich eine Fortsetzung der Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutterhöhle. Erst dann hat der Säugling die Reife, die jedes andere Säugetier schon von Geburt an hat. Lediglich bei Kängurus findet diese zweite Phase im Beutel seiner Mutter statt. Im Vergleich dazu sind Menschenbabys in dieser zweiten Hälfte schon vielfältigen Eindrücken und Einflüssen ausgesetzt.
Die Unreife zum Zeitpunkt der Geburt ist die Grundlage dafür, dass das menschliche Gehirn so lernfähig und programmierbar ist – viel mehr als bei jedem anderen Lebewesen. Man bezeichnet dies als Neuroplastizität. Neben dem Geburtserlebnis liegt in dieser Mischung aus Hilflosigkeit und Formbarkeit auch die Frage nach der eigenen Identität und die Ursache und Bedeutung des Bedürfnisses des Babys – und von uns Menschen generell – nach Nähe, Umhüllung, Geborgenheit und Verbundenheit.
Mit neun Monaten findet dann eine Art zweite Geburt statt, das Baby wird extrovertierter, es dezentriert sich. Es schaut nicht mehr in erster Linie nach seiner Mama, sondern beginnt sich für das zu interessieren, was sie interessiert.
So ist es ein fortlaufender Prozess, in dem das Kind Reize aus seinem Umfeld und seiner Umwelt absorbiert. Das Selbst wird bekleidet mit den Masken der Persönlichkeit und verhüllt durch den Schleier der Illusion.
Wenn Du Vater oder Mutter bist oder wirst, aber auch wenn Du sonst in Kontakt mit jungem Leben bist, so bringt der wachsende Embryo und Fötus, das Baby, Kleinkind und Kind Dich in Resonanz, berührt Erinnerung in Dir an Dein Erleben in den entsprechenden Zeiträumen. Und es weckt in Dir Bewusstheit für Deinen Kern und Dein Potential. Denn Kinder sind viel näher an einem Zustand der Non-Dualität dran und bringen uns dadurch mit dieser wieder in Kontakt.
Ein schönes Bild ist das eines Updates. Es ist, als ob jeder von uns mit der Auslieferung schon eine Update-Berechtigung für das vorinstallierte Betriebssystem mitbringt. Die Elternschaft ist manchmal das auslösende Moment, den Download des nächsthöheren Betriebssystems zu beginnen. Denn die Kinder werden schon mit der übernächsten Version ausgeliefert. So erzeugt das Zusammenleben und Begleiten von Kindern einen permanenten Entwicklungssog und manchmal auch -druck. Kinder in Deinem Umfeld laden Dich ein, fordern Dich heraus, Deinen Blick auf das Leben zu verändern und Dich zu erinnern, wer Du eigentlich bist.
Für mich war der bestimmbarste Wendepunkt in meinem Leben meine Vaterschaft. Bis dahin war ich fast immer der strahlende Sunnyboy. Aber es war kein freies, echtes Strahlen, sondern lediglich meine Maske. Wenn mir jemand traurige oder tragische Nachrichten überbrachte, verzog es meinen Mund unfreiwillig zu einem grimassenartigen Grinsen. Mein künstlich permanentes Strahlen war ein Teil meines Überlebensmusters. Der unstillbare Hunger meines Egos nach Liebe, Zuwendung und Anerkennung und mein auseinanderbröckelndes Elternhaus schufen die Notwendigkeit dieses Musters, um mein Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit bestmöglich zu befriedigen.
Schon mit der Schwangerschaft meiner Frau fing die Stabilität dieser Muster an zu wanken. Plötzlich gab es Tage von Dunkelheit und Traurigkeit, Wut, Überforderung und Verzweiflung. Genau all die Gefühle, die ich jahrelang bestmöglich unterdrückt und weggesperrt hatte, kamen von Zeit zu Zeit hoch. Meine Kinder wissen so gut, wo die Stellen sind, die in mir weh taten und tun! Und sie in ihrem Alltag zu begleiten, lässt manch eigene Erinnerung wieder aufleben. So manche Tiefe habe ich durchwandert und mich damit gleichzeitig noch tiefer im Leben verwurzelt. Die Liebe meiner Eltern und treue Wegbegleiter sind wertvolle Unterstützung. Das Glück, das das Miterleben der Entfaltung meiner Töchter mit sich bringt, und die Bedingungslosigkeit der Liebe meiner Frau mir gegenüber sind die wichtigsten Zugänge zu meiner eigenen Liebe und Dankbarkeit.
Die andere Herausforderung der Elternschaft ist, Kindern einen Rahmen, eine Struktur, eine Sicherheit zu geben, in der sie reifen können. Gleichzeitig sollen sie aber die Freiheit bekommen, sich in ihrem Rhythmus zu entfalten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir nie dahin kommen können, wo sie hingehen. So ist die Eltern-Kind-Beziehung ein Austausch: Die Kinder lernen von uns, sich in einer von Natur aus chaotischen Welt zu orientieren. Wir lernen von ihnen, wie Entfaltung geht. Sehr schön drückt es Khalil Gibran in seinem bekannten Text Von den Kindern aus.
Ein letzter, aber wichtiger Aspekt in der Frage nach dem, wer oder was wir sind, ist die Wahrnehmung. Wie die Wortherkunft verdeutlicht, wird unsere Wahrnehmung nie eine Objektivität erreichen. Die Informationen, die unsere Sinnesorgane dem Thalamus zuleiten, sind nur elektrische Impulse. Der Thalamus ist das größte Kerngebiet des Zwischenhirns und gilt als Tor zum Unterbewusstsein. Von hier aus werden die hereinlaufenden Informationen umgeschaltet und den verschiedenen Arealen des Gehirns zugeleitet. Bereits dadurch findet aber eine erste individuelle Einfärbung statt. Vor dem Hintergrund unserer Lebenserfahrungen wird der ankommende elektrische Reiz eingeordnet und interpretiert. So wird aus einer blauen Fläche mit weißen Flecken erst durch diesen Abgleich die Wahrnehmung eines Himmels mit Wolken. Die Bewertung führt dann beispielsweise dazu, voller Vorfreude in den Tag zu starten, da die Bewölkung Deinem Vorhaben einer Radtour entgegenkommt. Oder Du bist verärgert, weil Du den Tag in der Sonne am Baggersee verbringen wolltest und es dafür nun zu kühl ist.
Unsere Wahrnehmung ist subjektiv. Bevor wir nicht einen gewissen Grad an Bewusstheit erlangt haben, ist es uns nicht möglich, dieser Subjektivität gewahr zu werden.
Bis zu einem gewissen Zeitpunkt leben wir in der Illusion unserer Wahrnehmung und halten einzig und allein unsere Wahrnehmung für die Wirklichkeit. Das zunehmende Ankommen bei Dir selbst ermöglicht Dir, Deinen Standort zu bestimmen. Nur so kannst Du Deinen Bezugsraum mehr und mehr wahrnehmen. All das, was Du im Laufe Deiner frühen Kindheit in Dein Ego-Muster integriert hast, verursacht eine Verzerrung des Bezugsraumes und eine Filterung der Wahrnehmung – wie eine getönte Brille. Je bewusster Du wirst, umso mehr erkennst Du sowohl die kulturellen Übereinkünfte und Wertvorstellungen als auch die biographischen Einflüsse, die diesen Verzerrungen zu Grunde liegen. Und hast Du erst damit angefangen, den Bezugsraum wahrzunehmen, so verändern sich dieser und das damit verbundene Konzept unaufhörlich weiter. Dies kann eine Erweiterung der Perspektive oder eine Erhöhung der Tiefenschärfe beziehungsweise der Auflösung sein. Und denkt man dies weiter, so wird es irgendwann kein Konzept mehr geben. Je höher die Auflösung auf mikroskopischer Ebene wird, und je weiter man ins All blicken kann, umso mehr ähneln sich die Bilder und Muster, die man erhält. Wenn man den Schleier der Illusion hebt, wird klar, dass das Ich nur eine Spiegelung des Wir ist.
Alles ist eins.
Im Lüften der Schleier der Illusion erkennst Du, dass das sogenannte ICH nur eine Spiegelung des WIR ist.