Читать книгу Touch the Core. Die Tiefe berühren. - Thomas Andresen - Страница 13
ОглавлениеLeben und Tod
Lebendigkeit ist eine der zentralen Qualitäten des Kerns. Lebendigkeit drückt sich aus in Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit, Stabilität und Integrität, Klarheit und Kraft, Charisma und Freude. Je deutlicher diese Aspekte ausgeprägt sind, umso näher bist Du einem Zustand von Gesundheit. Lebendigkeit und Gesundheit sind diesem Verständnis nach ein- und dasselbe.
Es gibt aber auch andere Definitionen für Gesundheit.
• Die Weltgesundheitsorganisation bestimmt Gesundheit als einen Zustand „vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ und nicht nur als Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Daraus dürfen wir nicht folgern, dass alle dieser Definition nicht entsprechenden Zustände mit Krankheit gleichzusetzen sind. Denn dann würde allein das Aufschlagen der Zeitung verhindern, gesund zu sein. Vielmehr gibt diese Beschreibung wie ein Kompass eine Orientierung darüber, welcher Weg zum eigenen Kern führt.
• Für Christian Scharfetter ist der Mensch gesund, „dem unter Umständen trotz des Leidensdruckes einer Körperkrankheit […] sein Leben gelingt (Selbstverwirklichung), der den Forderungen seines Wesens (Echtheit/Authentizität) und der Welt entsprechen und ihre Aufgaben bestehen kann […] – einer, der sich im Leben bewährt.“ Hier ist der Begriff Gesundheit weniger auf das Ziel ausgerichtet, sondern eher gleichbedeutend damit, auf dem Weg zum eigenen Kern zu sein. Wo Du ankommst, was Dein Ziel ist, wird nicht gefragt. Eher interessieren die Fragen, wie weit Du es noch hast oder wie weit Du schon gegangen bist.
• Eine weitere Orientierung gibt das von Aaron Antonovsky beschriebene Modell der Salutogenese. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit der Frage nach Entwicklung und Erhaltung eines Zustandes von Glück, Gesundheit und Wohlbefinden. Als entscheidend dafür arbeitete er das sogenannte Kohärenzgefühl heraus. Dieses setzt sich aus drei Aspekten zusammen:
– einem Gefühl der Verstehbarkeit,
– einem Gefühl der Handhab- oder Gestaltbarkeit
– und einem Gefühl der Sinnhaftigkeit der Umstände des eigenen Lebens.
Diese Erkenntnis ist sehr stimmig, doch sind alle drei Parameter subjektiver Natur, sie sind von außen kaum zu erkennen. Schließlich sind wir alle großartige Schauspieler, die Masken unserer Persönlichkeit tragen ihr Übriges bei.
Damit Du mit einer gewissen Objektivität eine relative Einschätzung des Standortes auf Deinem Weg hin zu Gesundheit bekommst, kannst Du den Aspekt der Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit betrachten. Auf der Ebene des Körpergewebes ist die Elastizität abhängig vom Verhältnis flüssiger Anteile zu kristallinen Strukturen. Sind in ein Gewebe zu viele strukturbildende oder kristalline Strukturen eingelagert, so lässt seine mechanische Anpassungsfähigkeit nach. Und da es sich um einen belebten Körper handelt, geht mit zunehmender körperlicher Rigidität tendenziell eine Abnahme der geistigen Elastizität einher. Diese spielt jedoch eine wichtige Rolle für die Fähigkeit, auf Krisen und Herausforderungen angemessen reagieren zu können. Diese Fähigkeit wird in der Psychologie als Resilienz bezeichnet. Resilienz nimmt durch (körperliche und mentale) Rigidität und Trägheit ab. Mit zunehmendem Alter nimmt der Wagemut ab, Neues zu probieren, die sichere Komfortzone zu verlassen. Die Resilienz wird geringer, Krankheiten mehren sich.
Lebendigkeit ist eine Qualität des Kerns, gleichzusetzen mit Gesundheit. Wie lebendig bist Du? Das merkst Du unter anderem an der Verfestigung Deiner Ego-Struktur. Je ausgeprägter diese ist, desto geringer ist Deine innere Handlungsfreiheit.
Neben der Ausprägung von Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit gibt Körperbewusstheit, das bewusste Spüren des eigenen Körpers, Aufschluss über den aktuellen Standort. Dieses Merkmal hat paradoxe Qualitäten. Sehr wohl sollte der gesunde Körper bewusst spürbar sein, sich aber in seiner Spürbarkeit nicht in den Vordergrund drängen. Ein guter Vergleich ist das Armaturenbrett im Auto: Du hast es ständig gut im Blick und deckst es mit nichts zu. Deine Aufmerksamkeit ist aber mehr auf die Straße als auf die Anzeigen gerichtet. Doch jedes Aufleuchten einer Warnanzeige solltest Du sofort bemerken. René Leriche, zitiert von Peter Sommerfeld, beschreibt Gesundheit als das Leben im Schweigen der Organe. Deinen gesunden Körper spürst Du als Ganzheit, wie den fliegenden Pfeil, den Gibran im oben zitierten Text „Über die Kinder“ beschreibt. Erst wenn Du Dir Deinen Arm verletzt, wird Dir dessen Gewicht, dessen Bedeutung und die Häufigkeit seiner Nutzung bewusst. Genau darin zeigt sich aber bereits die Funktion und Sinnhaftigkeit des Schmerzes, auf die im späteren Verlauf noch ausführlicher eingegangen wird.
Das Leben ist der Weg hin zu Gesundheit, mehr und mehr mit unserem Kern, unserem wahren Selbst in Kontakt zu kommen und die eigene Bestimmung zu leben. Der aktuelle Standort auf diesem Weg kann bestimmt werden mithilfe der Ausprägung des Kohärenzgefühls (nach Aaron Antonovsky) sowie der körperlichen und mentalen Beweglichkeit und der Ausprägung des Körperbewusstseins.
Wenn wir uns mit Fragen der Lebendigkeit und des Lebens beschäftigen, braucht es auch einen Blick zum Gegenpol: dem Tod. Die Angst vor dem Tod hat zwei Aspekte. Zum einen ist es die uns innewohnende Reserviertheit oder Angst vor dem Unbekannten, zum anderen die Angst vor der Erkenntnis, im Angesicht des Todes womöglich gewahr zu werden, am Leben vorbei gelebt zu haben.
Jedes Mal, wenn es in Deinem Umfeld einen Todesfall gibt, wirst Du neben den einhergehenden Emotionen mit entscheidenden Fragen konfrontiert. Nimm Dir etwas Zeit und spüre nach:
Was und wie möchtest Du eigentlich leben?
Wofür möchtest Du leben?
Was hebst Du Dir noch für später auf?
Und wann ist dieses später?
Vor dem Hintergrund des oben erwähnten Kohärenzgefühls ergeben sich weitere Fragen, die gleichzeitig Einladungen sind, die Dein Kern Dir sendet:
Erkennst Du eine Sinnhaftigkeit im Verlauf Deines Lebens? Kannst Du Deinen Frieden mit allem machen, so wie es ist und war?
Kannst Du zurückschauen mit einem Gefühl, Dein Leben bis hierher voll gelebt, Deine Mission erfüllt zu haben? Empfindest Du Dankbarkeit oder noch Groll?
Kannst Du nicht loslassen, weil Du Dich noch verantwortlich oder gar schuldig fühlst?
Oder weil Du Dich als getrennt empfindest, zu niemandem oder nichts zugehörig?
Hast Du das Gefühl, ein Opfer zu sein?
Oder hast Du das Empfinden, vor lauter anderen wichtigen Dingen vergessen zu haben, Dein Leben zu leben?
Neben oder wegen den Ängsten kommt dazu, dass der Tod in unserer Gesellschaft des Höher-Weiter-Schneller ein vernachlässigtes Thema ist, und wenn man mal darüber spricht, herrscht keine Einigkeit darüber, wie er zu verstehen ist.
• Der klinische Tod ist vereinfacht gekennzeichnet durch den Ausfall der Atmungs- und Herz-Kreislauf-Aktivität.
• Der Hirntod geht einher mit dem Ausfall aller auch nur reflexartigen Hirnfunktionen.
• Vom biologischen Tod wird gesprochen, wenn der Verfall der körperlichen Strukturen einsetzt.
All das sind Schlusspunkte, die dem Leben ein Ende setzen. Aber endet wirklich alles mit dem Tod, oder gibt es eine andere Form der Existenz danach? Oder was stirbt mit dem Tod und was nicht?
Die grundlegende Frage in der Bewertung von Tod scheint die zu sein, die sich in dem Kontrast der Wörter „gestorben“ und „verstorben“ widerspiegelt. „Gestorben“ legt für mein Sprachgefühl eine Absolutheit nahe, „verstorben“ lässt den Raum offen für eine mögliche Transformation. Genau diese Transformation ist für mich der entscheidende Aspekt von Tod. Der Tod ist genauso ein Teil des Lebens wie die Geburt. Denn bei der Geburt bleibt der Mutterkuchen zurück, stirbt ein Teil des fötalen Lebens ab, damit das Baby in ein Leben außerhalb der Gebärmutter in die Welt hineingeboren werden kann. So eine Umwandlung durch Zurücklassen findet auch mit dem Tod eines Menschen statt. Ich stelle mir vor, dass unser Geist frei wird, zu reinem Bewusstsein wird. Zurück bleibt der unbelebte Leib, der Leichnam.
Womöglich ist der Weg von der Lebendigkeit zum Sterben nur einer der vielen Rhythmen, die das Leben ausmachen. Unserem linearen Denken ist es geschuldet, dass wir von einer Bewegung ohne Richtungsänderung ausgehen – wir stellen uns den Lebensweg wie Bewegung in der Physik als Änderung des Ortes eines Objektes mit der Zeit vor. Doch das wogende, richtungsändernde Element des Lebens kommt so nicht zum Ausdruck. Tatsächlich ist unser Leben durch unzählige Rhythmen – innere und äußere – gekennzeichnet; zum Teil bestehen Abhängigkeiten oder Beziehungen zwischen den verschiedenen Rhythmen.
• Einer der inneren Rhythmen ist die Zellaktivität. Die Zellen sind die kleinsten vitalen Elemente unseres Körpers, auch ihr Leben und ihre Teilung unterliegen einem Rhythmus. Dieser wechselt zwischen einem Zustand der Stoffwechselaktivität, der sogenannten Interphase, und den Phasen der Zellteilung, der Mitose. In der Interphase wird die Information der DNA in die Steuerung der Stoffwechselprozesse übersetzt. Für die Mitose hingegen ist die Zelle nicht stoffwechselaktiv. Die DNA liegt in spiraliger, komprimierter Form vor, um so auf die Tochterzellen verteilt werden zu können. Der eine Zustand ist dabei nicht besser als der andere, vielmehr sind beide notwendig, voneinander abhängig und nur Ausdruck von Lebendigkeit unterschiedlicher Art und Weise.
• Die inneren Rhythmen der Herz-Kreislauf-Aktivität und unserer Atmung sind wichtige Kennzeichen unserer Vitalität. Im Prinzip ist jede Einatmung, jede Inspiration belebend. Die Dynamik entspricht einem Sich-groß-machen, einer zentrifugalen Ausdehnung. Jede Ausatmung, jede Exspiration ist ein zentripetales Sich-zurückziehen, Loslassen.
• In der Ausschüttung bestimmter Hormone können weitere innere Rhythmen erkannt werden. Diese regulieren in unterschiedlicher Geschwindigkeit bestimmte wiederum rhythmische Körperfunktionen, beispielsweise den Schlaf-Wach-Rhythmus oder den Menstruationszyklus einer Frau.
• Äußerlich beeinflussen uns beispielsweise kosmische Rhythmen wie der von der Erdbewegung abhängige scheinbare Lauf der Gestirne an unserem Himmel und die davon abhängigen Jahreszeiten, der Tag-Nacht-Rhythmus und die Gezeiten der Meere.
Nicht nur wir selbst leben in Rhythmen, überall um uns herum sind sie zu erkennen. Da ist zum Beispiel das Meer, das Welle um Welle an den Strand spült. Im Lauf der Gezeiten von Ebbe und Flut zieht es sich von der Küstenlinie zurück oder nähert sich ihr an.
Und doch scheint der Tod etwas Besonderes an sich zu haben: Stille. Beim klinischen Tod ist es still hinsichtlich des Atem- und Herzgeräusches und auch im Sinne einer äußerlich erkennbaren Bewegungslosigkeit. In der Aufzeichnung eines Elektrokardiogramms (EKG) ist dies durch die Nulllinie gekennzeichnet. Weiter geht die Transformation im hirnorganischen Tod. Hier kehrt zusätzlich Stille in Bezug auf jegliche Nervenaktivität ein. Dann findet man auch im Elektroenzephalogramm (EEG), der Darstellung der elektrischen Aktivität des Gehirns keine Kurve mehr, sondern nur noch eine Linie. Mit dem biologischen Tod setzt der Zerfallsprozess des Körpers ein – diese Umwandlung ist das Weiterleben der Natur, aber nicht dieses Menschen. Dessen Körper wurde seiner bisherigen Funktion entbunden und dient nun im Zerfallsprozess anderem Leben als Nahrung.
Die Transformation im Tod hat also sehr viel mit Stille zu tun, und Stille macht uns Angst. Wiederum ist unser lineares Denken der Stolperstein. Denn mit einem Lebenskonzept, in dem es darum geht, sich im Verlaufe des Lebens von Startpunkt A geradlinig zu einem Ziel B zu bewegen, ist Stille bedrohlich. Denn wenn entlang dieser Linie keine Bewegung stattfindet, kommt man in diesem Konzept niemals an. Hier ruht anteilig die Ursache für die Angst vor dem Tod. Deswegen fällt es den meisten von uns leichter, Vollgas zu geben und aktiv zu sein, als einfach still zu sein. Denn die Stille ist es, in der die Gespenster im Kopf erwachen und die für Manchen die Nacht bedrohlich sein lässt. Erkennst Du aber, dass Dein Leben in seiner Rhythmizität ein Pendeln zwischen zwei Polen ist, und Dein Weg dieser Pendelbewegung durch Raum und Zeit entspricht, so geht jeder Umkehrpunkt zwangsläufig mit einem Moment der Bewegungslosigkeit und Stille einher. Von diesem aus eröffnet sich Dir beständig Neues.
Leben ist Rhythmus; Tod bedeutet für uns Bewegungslosigkeit und Stille. Doch jedes Pendel zeigt uns: Gerade an den Wendepunkten des Pendels ist es bewegungslos und still – bevor es wieder eine weitere Schwingung ausführt.
Leben und Tod müssen also nicht als Gegensätze begriffen werden, sondern haben nur eine rhythmische oder polare Qualität. Polarität hat nichts zu tun mit dem Gegenteil oder mit Dualität, denn es geht nicht um die Beschreibung von etwas sich voneinander Trennendem oder Gegenüberstehendem. Hegel definierte die Polarität als „von einem Unterschiede, in welchem die Unterschiedenen untrennbar sind“. So wie es ohne Licht keinen Schatten geben kann und keinen Pluspol eines Magneten ohne Minuspol. Polarität begegnet uns überall im Leben, angefangen mit Mann und Frau. Polarität verbindet als Prinzip die Teile auf höherer Ebene – in letzterem Fall wäre das der Mensch.
Das Leben, in der Osteopathie der Breath of Life (Atem des Lebens) genannt, liegt in der Mitte zwischen den Polen von Kosmos und Chaos. Beständig pendelt dieser Atem zwischen den beiden Polen hin und her, immer wieder bereit, umzukehren. Zu schwingen zwischen Innen und Außen, zwischen Expansion und Retraktion, zwischen zentripetal und zentrifugal, zwischen Mikro und Makro, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Geben und Nehmen.
Es geht nicht darum, die Pole als gut und schlecht zu bewerten, als angenehm und unangenehm, schön und hässlich, leicht und schwer, sondern mittels des Prinzips des Sowohl-als-auch die jeweils nächsttiefere verbindende Ebene zu erkennen. Dort kannst Du zu einer Wahrnehmung kommen, die die Unterschiede lediglich als Varianten von ein und demselben Thema erkennbar macht.
Unser wertendes Denken stellt uns eine Falle: Wir wollen Polaritäten immer in „gut“ oder „schlecht“ einteilen. Das kann uns zwar Orientierung geben, andererseits wird alles auf ein Entweder – Oder reduziert. Dies limitiert die Variationsbreite der Handlungsmöglichkeiten.
Zurück zu den Rhythmen: Im Herbst welken die Blätter, die Kraft zieht sich in den Boden zurück – um im nächsten Frühjahr wieder aufs Neue zu erblühen. Weil auch unser Leben in diesen Rhythmen verläuft, wissen wir: Keine Krankheit, kein Schmerz, kein Leid wird ewig währen, noch wird die größte Anstrengung es ermöglichen, in einem kontinuierlichen Flow zu leben. Was es braucht, ist die Erweiterung des Blickwinkels, das Hinauszoomen. Die Entfaltung des Selbst ermöglicht es, mit zunehmendem Abstand auf das eigene Leben zu blicken, die ihm zu Grunde liegende Rhythmizität zu erkennen und mit ihr mitschwingen zu können. Beim Kajakfahren in einem Bergbach brauchst Du an den wildesten Stellen nicht den meisten Körpereinsatz – aber die größte Wachheit, um im richtigen Moment kurz das Paddel zu stechen.
Wenn Dein Blickwinkel sich geweitet hat, erkennst Du im Wiederkehren bestimmter Themen nicht mehr das Alte, sondern begegnest dem Alten nur auf einer nächsthöheren Ebene – wie wenn Du auf einer Wendeltreppe nach oben gehst, die aus blickdurchlässigen Metallgittern besteht. Du begegnest immer wieder vermeintlich überwundenen Hindernissen. Tatsächlich ist es aber nie dieselbe Stelle, sondern nur das von oben noch einmal Zurückblicken. Wenn Du anfängst, die Muster des eigenen Lebens zu erkennen, dann bist Du in einem gewissen Kontakt mit Deinem Kern. Und im Erkennen fangen Deine Muster schon an, sich zu verändern. Eines dieser Muster ist der Bezug zu Zeit.
Mit unserer menschlichen Fähigkeit, Muster zu erkennen und unterschiedliche Muster miteinander zu verknüpfen und in Beziehung setzen zu können, sind die Grundlagen für unser Zeit-Raum-Gefühl gegeben. Aus den inneren und äußeren Rhythmen, die unser Leben beeinflussen und in denen sich unser Leben ausdrückt, haben wir Menschen irgendwann eine Zeitrechnung entwickelt. Doch Zeit ist und bleibt ein Konzept, auch hier spielt die Perspektive die entscheidende Rolle. Wie lange dauert es bis zum Urlaub? Wie schnell ging er, im Rückblick betrachtet, vorbei? Und wie lang kam Dir doch ein einzelner Urlaubstag vor? Der Blickwinkel verengt sich, wenn Du nur auf das Fernziel am Horizont blickst. Zeit scheint dann oft schneller zu vergehen. Erlebst Du hingegen den Moment, so weitet sich der Blickwinkel. Ein weiterer Faktor ist die Frische des Erlebten. Bist Du an einem neuen Ort, oder begegnest Du einem Menschen das erste Mal, so bekommt Dein Gehirn mehr frisches Futter, als wenn Du im Kontrast dazu Deinen Arbeitsalltag in der Montage am Fließband erlebst. Es scheint, dass das Gehirn unser Zeitgefühl in gewisser Weise in Beziehung setzt mit der Menge an zu verarbeitenden Eindrücken oder zu planenden Handlungen.
Unser unbewusstes Bestreben ist es, Strukturen zu bauen, um Muster zu erkennen und diesen bestimmte Handlungsabläufe zuzuordnen. So entstehen im Laufe des Lebens immer größere Konzepte, in die das Erlebte, Gesehene, Gestaltete eingeordnet wird. Es ist gewissermaßen paradox: Auf der einen Seite versuchen wir, die Verbundenheit immer komplexerer Sachverhalte zu erkennen. Doch auf der anderen Seite braucht das Gehirn das Frische, Unbekannte, die neue Information. Und so ist der Versuch des Bewahrens und Festhaltens eines Zustandes von Glück genau das, was uns letztlich am Empfinden von Glück hindern kann. Denn genau die Frische, das Gefühl der Einzigartigkeit eines Momentes ist das, was mit dem Erleben von Leichtigkeit einhergeht.
Eine in der westlichen Welt verbreitete Strategie ist es, dem Mangel an Momenten des Glücks mit einer Erhöhung des Tempos zu begegnen. Wenn wir nur schnell genug sind, dann müsste doch die Wahrscheinlichkeit für das Erleben von Momenten der Inspiration, des Glücks höher sein, so meinen wir. Doch in den meisten Fällen geht dieser Versuch auf Dauer schief. Was es braucht, ist die Verlangsamung. In der Verlangsamung weitet sich etwas: Das Herz wird entspannter und der Blickwinkel größer. Mit Tempo 180 auf der Autobahn musst Du hundertprozentig auf den Straßenverkehr fokussiert sein. Bei Tempo 140 bist Du nicht langsam, aber der eine oder andere Blick in die sich links und rechts ausbreitende Landschaft ist möglich. Letztendlich hat die Geschwindigkeit auch einen gewissen Sucht- und Gewohnheitseffekt. Wir spüren uns etwas mehr in unserer Körperlichkeit, denn jede Korrektur der Richtung, jedes Abbremsen und Beschleunigen bringt uns bei höherem Tempo deutlicher in Bezug zu den Begrenzungen des Sitzes und Gurtes – und damit zu uns zurück. Und wie unendlich langsam kommt es Dir vor, wenn Du dann von der Autobahn runterfährst und wieder auf Tempo 50 abbremsen musst. Wie schnell kommt Dir hingegen Tempo 50 vor, wenn Du eine Tempo-30-Zone verlässt? Und dann überlege Dir, wie schnell Tempo 30 mit dem Fahrrad ist, wie mühsam Du es vielleicht erst recht empfindest, in einer halben Stunde nur einen Kilometer weit geschwommen zu sein. Es ist immer nur eine Frage der Relationen. Anhand dieser Beispiele wird klar, dass Zeit immer einen deutlichen Bezug zum Raum hat. Und umgekehrt hat unser Bezug zu Raum einen deutlichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung von Zeit.
Wenn Du langsamer wirst, öffnet sich der Raum, und es gibt mehr Platz für Dich in Deinem Leben. Ohne Dein Ziel aus dem Auge zu verlieren, kannst Du Dich schon an dem Weg dorthin erfreuen. Je mehr Du die Schönheit des Weges erkennst, umso mehr verlieren Raum und Zeit an Bedeutung. Zunehmend lebst Du von Moment zu Moment.