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Schöne Bescherung
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Wenn man bedachte, wie aufsehenerregend die erste Nacht in Melines Leben gewesen war, so war ihr erstes Lebensjahr vergleichsweise ruhig verlaufen. Meline hatte sich besonders in geistiger Hinsicht sehr gut entwickelt und schien, wie Georg erleichtert bemerkt hatte, von ihrer Art her sehr nach ihrem Großvater Otto zu schlagen. Sie verfolgte alles, was sie miterlebte, mit wachen Augen und hatte bereits früh damit begonnen, erste Worte zu sprechen.
Die von Otto erhoffte zweite Gelegenheit, mit Heinrich über seine Äußerungen am Tag von Melines Geburt zu sprechen, hatte sich nicht ergeben. Heinrich schien nach seinem Gefühlsausbruch wieder in das alte Muster zurückgefallen zu sein, das aus Trinken und Verdrängen bestand. Georg, der von vornherein wenig Hoffnung gehegt hatte, dass sich bei seinem Vater etwas änderte, war von dieser Tatsache weniger enttäuscht als Otto.
Otto hatte gehofft, dass sich durch Heinrichs Beichte, so es denn etwas zu beichten gab, viele Probleme in dessen Leben lösen würden, doch nichts dergleichen war geschehen. So hatte Otto mit ansehen müssen, wie Georg weiter unter dem sozialen Niedergang seines Vaters litt. Otto tröstete sich mit dem, was er selbst Erna gegenüber geäußert hatte. Zu spät für einen Wandel im Leben war es erst, wenn derjenige starb. Von daher bestand nach wie vor die Gelegenheit, dass sich etwas tat.
Georg suchte oft gedanklich Trost in der Tatsache, dass der im Dorf selbst lange Jahre nach seinem Tod hoch angesehene Paul sein leiblicher Großvater war. Viele der Alten im Dorf verglichen Georg mit Paul. Dies war stets Balsam auf Georgs Seele, denn die Alten sprachen nur in besten Tönen über seinen früh verstorbenen Großvater. Georg glaubte des Öfteren zu spüren, dass ihn etwas zu Paul hinzog und dass es ihm bei so mancher Eingebung, die er hatte, so vorkam, als habe Paul seine Finger im Spiel. Es blieb für ihn unerklärlich, wie so etwas möglich sein konnte. Schließlich hatte er seinen Großvater nie kennengelernt.
Die Verbindung, die Georg zu seinem Großvater hatte, war ein Teil seiner persönlichen Schatzkiste. Die Dinge, die sich hierin befanden, würde Georg niemandem zeigen. Nicht seiner Frau, und nicht Otto. Niemandem.
Trais-Horloff, Dienstag, 31. August 1897
Georg hatte seine Entscheidung den Vormittag über abgewogen. Eigentlich hatte die Pflicht geboten, dass er den ganzen Tag auf dem Acker hätte verbringen müssen, denn es war ein perfekter Tag für das Arbeiten auf dem Feld. Er war bereits im Morgengrauen aufgebrochen, um den Tag möglichst früh zu beginnen. Nachdem er während der Vormittagsstunden gut vorangekommen war, setzte er die Idee, mit der er schon den ganzen Vormittag gespielt hatte, am späten Vormittag in die Tat um und beendete die Arbeit.
Zwar war heute ein Werktag, der noch dazu beste Arbeitsbedingungen bot, doch er wollte sich diese kleine Ausnahme von der Regel gestatten. Schließlich feierte seine kleine Tochter Meline, die er im Laufe ihres ersten Lebensjahres sehr ins Herz geschlossen hatte, heute ihren ersten Geburtstag. Die Aussicht, den Nachmittag mit seiner Familie verbringen zu können, hatte Georg durch den Vormittag getragen und bei seiner Arbeit so sehr beflügelt, dass er binnen eines halben Tages weit mehr als das übliche Pensum geschafft hatte, wenngleich es nicht ganz das war, was er sich für einen vollen Tag bei normalem Arbeitstempo vorgenommen hätte.
Georg sah zum Himmel. Es war abzusehen, dass das Wetter zumindest heute so bleiben würde. Wenn ihm das Glück hold war, würde das schöne Wetter auch morgen noch andauern und er würde das nachholen, was er heute versäumen würde. Mit diesem optimistischen Gefühl machte er sich auf den Weg nach Hause.
Maria war voller Erstaunen, als ihr Mann schon zur Mittagszeit zu Hause eintraf.
„Georg! Das ist ja eine Überraschung! Ich habe erst in ein paar Stunden mit dir gerechnet.“
„Ich bin sehr früh aufgestanden, da ich mir gewünscht habe, an Melines Geburtstag nachmittags zurück zu sein. Ich wollte es nicht vorher schon versprechen, da ich nicht wusste, wie gut ich mit der Arbeit vorankommen würde.“
„Deiner frühen Rückkehr nach zu urteilen, bist du zufrieden mit deiner Arbeit. Mein Vater müsste auch jeden Moment kommen. Er sitzt heute Nachmittag an seinem Schreibtisch, aber er nimmt sich zwischendurch etwas Zeit für die Kleine.“
„Das ist sehr aufmerksam von ihm. Woran sitzt er denn? Ist es wegen des Sedanstags?“
„Ja. Er bereitet die Feiertagsrede vor.“
„Schön, dass er sich die Zeit für Meline nimmt. Wo ist denn die Kleine?“
„Sie schläft gerade. Christine habe ich auch einen kleinen Mittagsschlaf verordnet. Wir sind also für den Moment ungestört, Georg.“
„Ungestört? Wie war das? Kommt dein Vater nicht jeden Moment?“
„Doch, aber wir könnten die Haustür abschließen. Sie hat ein Schloss, um ungebetene Gäste fernzuhalten“, sagte sie und fuhr in neckendem Ton fort, „geliebter Ehemann.“
„Er wird ahnen, warum wir abgeschlossen haben, oder nicht?“
„Und wenn schon. Er wird wissen, dass seine beiden Enkelinnen nicht das Erzeugnis des Heiligen Geistes sind, auch wenn mein Vorname...“
Georg lachte schallend.
„Du hast Recht. Wir schließen die Tür ab und hoffen, dass er nicht in den nächsten Minuten kommt.“
Leise kichernd verriegelten sie die Tür von innen und bemühten sich, auf dem Weg ins Schlafzimmer die beiden schlafenden Kinder nicht zu wecken.
***
Nachdenklich legte Otto den Stift aus der Hand. Er tat sich mit jedem Jahr schwerer, der Rede zum Sedanstag einen positiven Grundton zu geben. Das, was seit Beginn der Ära Kaiser Wilhelm II. geschah, war nicht das, wofür Otto im Krieg vor über fünfundzwanzig Jahren gekämpft hatte. Der junge Kaiser hatte nur wenig Gemeinsamkeiten mit seinem Großvater Wilhelm I., der bis vor neun Jahren Herrscher des Deutschen Reiches gewesen war und den Otto als vorbildliches Oberhaupt wahrgenommen hatte.
Otto beschloss, zunächst die Arbeit zu unterbrechen und seiner Enkelin Meline den Geburtstagsbesuch abzustatten, den er seiner Tochter Maria versprochen hatte. Sicher würde ihn der kleine Ausflug auf andere Gedanken bringen. Otto kannte sich selbst gut, und er wusste, dass sein Kopf wieder klarer und mit neuen Ideen gefüllt sein würde, wenn er später an den Schreibtisch zurückkehren würde. Der heutige und der morgige Tag würden trotz des kleinen Abstechers zu Maria und Meline ausreichen, um eine treffende Rede für übermorgen zu formulieren.
Als Otto bei Maria ankam, war die Haustür abgeschlossen. Er runzelte die Stirn und pochte energisch gegen das Holz. Nichts passierte. Wenn er sich mit seiner Tochter bei ihr zu Hause verabredete, verließ sie das Haus üblicherweise während des vereinbarten Zeitpunkts nicht. Er pochte noch einmal lauter gegen die Tür und rief Marias Namen. Im Haus vernahm er Geräusche und hörte, wie seine Tochter, deren Schritte er blind erkannte, die Treppe heruntereilte und einen Moment später öffnete. Otto fiel auf, dass ihre Haare so unordentlich waren, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Otto verkniff sich einen Kommentar, musterte sie aber fragend.
„Ich war im Bett.“
„Um diese Zeit? Wo sind die Kinder?“
„Sie schlafen noch. Ich hatte mich entschieden, sie vor deinem Besuch noch ein wenig schlafen zu lassen, damit sie später nicht unleidlich werden.“
„Das war sicher ein weiser Entschluss.“
Otto hörte, wie jemand die Treppe im Haus herunterkam, und einen Augenblick später sah er, dass es sein Schwiegersohn Georg war. Er sah ebenso zerzaust wie Maria aus. Maria wich Georgs und Ottos Blick aus und flüchtete unter einem Vorwand in die Küche. Es war ihr sichtlich unangenehm, dass ihr Vater mitbekommen zu haben schien, wobei er die beiden gerade unterbrochen hatte. Otto konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, sagte aber nichts weiter.
„Ich habe mich entschieden, heute früher Schluss zu machen, Otto“, erklärte Georg.
„Es freut mich, dass dir deine kleine Tochter so viel bedeutet, dass du selbst die Arbeit für sie liegen lässt.“ Georg nickte mit einem leichten Grinsen. Er hatte am schelmischen Unterton in Ottos Stimme bemerkt, dass dieser wusste, was gerade geschehen war. „Ich habe mich ebenfalls entschieden, die Arbeit ruhen zu lassen. Ich brauchte eine Pause und dachte mir, ich könnte das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden und meiner jüngsten Enkelin einen Besuch abstatten.“
„Maria hat mir schon gesagt, dass du kommen würdest.“
„Ich wollte eigentlich etwas später kommen, aber ich habe keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Erfahrungsgemäß hilft dann nur, erst einmal auf andere Gedanken zu kommen.“
„Der Sedanstag, oder?“
„Ja. Es ist und bleibt schwierig für mich, mich mit den hochtrabenden Zielen unseres Kaisers zu identifizieren. Dementsprechend schwer fällt es mir, positive Worte zu finden. Aber lass‘ uns lieber von etwas Sinnvollerem sprechen. Ich bin froh, wenn ich das alles für eine Zeit aus dem Kopf bekomme. Wie war es heute Morgen auf dem Feld?“
„Ich bin gut vorangekommen und hatte bis zur Mittagszeit fast das Tagespensum geschafft. Ich glaube, dass ich den Zeitverlust von heute Nachmittag morgen ausgleichen kann.“
„Hilft dir Heinrich?“
„Heute nicht. Er hat mir für morgen Unterstützung zugesagt. Ich hoffe, er hält sich heute mit dem Trinken zurück und setzt sich nicht außer Gefecht. Morgen brauche ich wirklich seine Hilfe.“
„Leider kann ich dir nicht zur Hand gehen. Du weißt ja, mein Rücken spielt bei zu großen Belastungen nicht mehr mit.“
„Ich weiß. Du bist schließlich das verkörperte Pflichtbewusstsein. Du würdest mich nie hängen lassen und unterstützt mich, wo du kannst.“
„Übertreib‘ mal nicht. Jeder hat seine schwachen Punkte. Es ist gut möglich, dass meinen Töchtern meine Erziehung auch nicht immer zugesagt hat. Ich habe immer großen Wert darauf gelegt, dass sie etwas lernen und hatte gelegentlich das Gefühl, es sei ihnen alles zu viel gewesen. Aber zumindest habe ich immer versucht, das Beste zu geben.“
„Ich meine, dass beide gut geraten sind.“
Als sich die Tür öffnete und Maria mit Getreidekaffee und Kuchen aus dem Haus kam, verstummte das Gespräch der Männer. Sie sah ihren Mann kurz an und sagte dann:
„Ich wecke dann mal die Kinder. Fangt ruhig schon an, der Kaffee wird sonst kalt.“
Wenige Minuten später kehrte sie mit Christine an der Hand und Meline auf dem Arm zurück. Nachdem Georg Meline einen Augenblick auf dem Arm gehalten und liebkost hatte, reichte er die Kleine an Otto weiter, der mit ihr spielte, sie knuddelte und über eine halbe Stunde lang auf seinem Schoß behielt.
Mit einem Gefühl innerer Traurigkeit bemerkte Maria, dass Otto seinem Enkelkind die bedingungslose Zuwendung schenkte, die sie selbst nie bekommen hatte. Sie hatte immer arbeiten und fleißig sein müssen, um die positive Anerkennung ihres Vaters zu bekommen, und selbst dann war er nie so liebevoll mit ihr gewesen, wie er es nun mit Meline war. Vielleicht, dachte sie, hatte es damit zu tun, dass er im Alter weicher wurde und gelegentlich private Belange wichtiger nahm als seine Pflichten als Bürgermeister. Maria wusste, dass ihr für ein Mädchen, das auf dem Land aufgewachsen war, ein außergewöhnliches Maß an Bildung zuteil geworden war. Ihrem Vater hatte stets sehr viel daran gelegen, seine Töchter geistig zu fördern. Ein positiver Nebeneffekt war die Außenwirkung, die er hiermit erzielte. Es lag Otto viel daran, dass seine Mitbürger eine gute Meinung von ihrem Oberhaupt und seinen Erziehungsmethoden hatten.
„Du hast die Kleine gern“, sagte Maria mit einem wehmütigen Gefühl. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Otto schien nichts von ihrer Stimmung bemerkt zu haben, oder aber er hatte sich entschieden, das in ihm aufkommende Gefühl im Keim zu ersticken, indem er den Besuch für beendet erklärte.
„Es wird langsam Zeit für mich. Ich muss mich wieder meiner Rede widmen.“
Zehn Minuten später saß er schon wieder an seinem Schreibtisch und stellte erfreut fest, dass brauchbare Gedanken für die Ansprache am Sedanstag zu Papier gelangten.
***
Eine halbe Stunde nach Ottos Verabschiedung kam Marias Schwester Lia mit ihrer fünfjährigen Tochter Anna, die ihrer Mutter schon jetzt auf der Nase herumzutanzen schien, zu Besuch. Georg wusste, dass Lias Besuch für sie nicht mehr als eine lästige Pflicht war, die ihr von ihrem Vater aufgetragen worden war. Georg hatte Lia seit der Geburt von Meline nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Er wusste von Maria, dass ihre ältere Schwester ihr das Glück neidete, das ihr im Leben widerfuhr.
Wenn es stimmte, was Maria ihm erzählt hatte, dann war schon Lias Kindheit, verglichen mit der von Maria, voll fruchtloser Anstrengungen und Bemühungen um die Anerkennung ihres Vaters gewesen. Sie war nicht mit denselben geistigen Fähigkeiten wie ihre kleinere Schwester gesegnet, und Otto hatte sie seinen Unmut hierüber mehr als einmal spüren lassen. Lia schien auf unerklärliche Weise auch in anderer Hinsicht immer den Kürzeren zu ziehen. Während Marias Leben nach außen den Anschein machte, als sei es perfekt, war dies bei Lia augenscheinlich nicht der Fall. Ihr Vater hatte sie aus überwiegend wirtschaftlichen Gesichtspunkten in eine Ehe gezwungen, deren Grundlage sich fast ausschließlich aus der Tatsache herzuleiten schien, dass die Äcker des Vaters und die Äcker des Bräutigams praktischerweise zu einem großen Teil aneinander grenzten und durch die Vermählung vereint werden konnten.
Georg, der mit seiner Schwägerin nur wenig anzufangen wusste, hatte sich nach Lias Eintreffen verabschiedet, um das Pferd zum Hufschmied zu bringen.
Zwei Stunden später kehrte er wieder zurück. Die Augen seiner Frau verrieten ihm, dass in der Zwischenzeit etwas Unangenehmes vorgefallen sein musste.
„Gab es Ärger mit Lia, Liebes?“
„Nein, nach einer Viertelstunde waren die beiden schon wieder verschwunden. Sie war sehr distanziert und ich hatte das Gefühl, sie wolle schon wieder gehen, noch ehe sie am Tisch Platz genommen hatte.“
„Ich kann es mir lebhaft vorstellen.“
„Wie war es beim Hufschmied?“
„Es ist wieder alles in Ordnung. Er meinte, es hätte auch noch gut ein paar Tage warten können.“
„Auch wenn der Besuch beim Schmied sicher sinnvoll war: Er kam dir auch gelegen, oder? So konntest du Lia aus dem Weg gehen.“
Er zuckte mit den Schultern, so als wolle er sagen, dass er nicht wisse, worüber er sich mit seiner Schwägerin hätte unterhalten sollen, und dass er daher die Zeit besser hatte nutzen wollen.
„Ich kann dich sogar verstehen. Ich finde die Begegnungen mit meiner Schwester auch meist recht unerfreulich. Sie neidet uns, was wir haben.“
„Ja. Mag sein. Wer war sonst noch hier?“
„Kurz nachdem Lia gegangen war, kam Erna vorbei. Sie schien traurig, dass sie Otto verpasst hatte. Es machte mir Eindruck, dass sie eigentlich seinetwegen hergekommen war. Aber anders als bei meiner Schwester wird mein Vater es Erna wohl nicht aufgedrängt haben, Meline zu besuchen.“
„Vermutlich wäre sie länger geblieben, wenn Otto noch hier gewesen wäre.“
„Das glaube ich auch. Danach gab es noch etwas Unerfreuliches.“
„Ja?“
„Ich habe überlegt, ob ich es dir überhaupt erzählen soll. Aber du weißt ja, ich bin eine schlechte Lügnerin, und Geheimnisse kann ich auch nicht gut für mich behalten.“
„Maria, spann‘ mich nicht auf die Folter.“
„Dein Vater war hier.“
Georg spürte, wie mit einem Mal aus seinem Hirn das Blut zu entweichen schien. Er setzte sich.
„Ich hätte es nicht erwähnen sollen, Georg. Ich weiß, wie sehr du dich über ihn aufregst, und am Ende ändert es doch nichts.“
In Georgs Hirn arbeitete es. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Vater zu Melines Geburtstag erscheinen würde, denn sein Vater interessierte sich üblicherweise nicht für die familiären Feiertage. Er half seinem Sohn zwar oft bei der Feldarbeit, doch darüber hinaus blieb er auf Distanz. Es schien Georg, dass sein Vater ihn mehr der Feldarbeit zuliebe unterstützte, als dass die Hilfsbereitschaft einem Gefühl der Vaterliebe entsprungen wäre. Sein Vater hatte im letzten Jahr an keinem der Geburtstage vorbeigesehen – weder an Georgs, noch an Marias oder Christines Geburtstag. Wer hätte also damit rechnen können, dass er ausgerechnet heute zu Besuch käme?
„Er war also tatsächlich hier.“
„Ja.“ Ihre Stimme war kaum hörbar.
„Wie war es?“
Sie sah ihn an und sagte nichts. Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Warum frage ich eigentlich? Natürlich war er betrunken. Er ist immer betrunken.“
Mit Blicken flehte sie ihn an, damit aufzuhören. Es würde zu nichts Gutem führen, sich unnötig hineinzusteigern. Doch es war wie immer, wenn die Sprache auf die Eskapaden seines Vaters kam. Dass er machtlos mit ansehen musste, was sein Vater tat, machte seinen Ärger über dessen Verhalten nur noch schlimmer.
„Ich möchte wetten, er hat sich hier wieder wer weiß wie aufgespielt.“
„Lass es einfach auf sich beruhen. Du änderst ihn nicht.“
„Wie soll ich etwas auf sich beruhen lassen, wenn ich nicht weiß, was es ist?“
„Lass ihn einfach.“
„Du hast leicht reden, Maria. Bei deinem Vater fällt es mir auch leicht, so etwas zu sagen. Und die Dinge so hinzunehmen, wie sie sind. Der Unterschied ist, dass dein Vater der angesehenste Mann im ganzen Ort ist, und mein Vater ein alter Suffkopf.“
„Ich weiß, wie schlimm das für dich ist. Aber du bist kein schlechterer Mensch, nur weil dein Vater sich nicht zu benehmen weiß.“
„Mich würde interessieren, was er gesagt hat.“
„Ich erzähle es dir nur, wenn du mir versprichst, dass du dann Ruhe gibst.“
„Dazu muss ich erst einmal wissen, worum genau es sich handelt.“
„Also gut. Du gibst ja eh keine Ruhe. Er hat wieder mit der Geschichte von letztem Jahr angefangen.“
„Was meinst du? Welche Geschichte?“, fragte er, obwohl er ahnte, worum es sich handelte.
„Du erinnerst dich doch sicher, dass er in der Nacht von Melines Geburt hier aufgetaucht ist und Erna und Lia bezichtigt hat, sie wollten das Kind – also Meline – umbringen.“
Georg saß wie vom Donner gerührt da und starrte seine Frau an. Das, was Otto vermutet hatte, war nun doch noch eingetreten. Mühsam brachte er ein Nicken zustande, und Maria fuhr fort:
„Er hat heute wieder mit dieser Geschichte angefangen und meinte, das Kind sei in Gefahr. Es machte auf mich den Eindruck, als ob er glaube, dass nur er das Kind vor welchem Unheil auch immer beschützen könne.“
„Und weiter?“
„Er war außer Rand und Band, als ich ihm sagte, dass er die Finger von Meline lassen solle. Seine Reaktion war fast so, als ob ich dadurch Melines Todesurteil gesprochen hätte.“
Georg schüttelte fassungslos den Kopf.
„Er hat mich gefragt, wie wir in Gottes Namen auf die Idee gekommen wären, dem Kind einen französischen Namen zu geben.“
„Einen französischen Namen?“
„Ja. Meline ist doch ein Name französischen Ursprungs.“
„Ja, und?“
„Er sagte, es sei ein schlechtes Omen, dass das Kind Meline hieße.“
„Und dann?“
„Dann habe ich ihm gesagt, dass das alles Unsinn ist. Er hat sehr ungehalten darauf reagiert und hat mir sogar unterstellt, dass Meline am Ende gar nicht dein Kind sei, sondern das Kind eines Franzosen.“
„Eines Franzosen? Es gibt hier doch gar keine Franzosen!“
„Das habe ich auch zu ihm gesagt, aber er hat sich nicht beirren lassen und darauf bestanden, dass es hier sehr wohl Franzosen gäbe.“
„Es wird immer schlimmer mit ihm. Manchmal habe ich Angst, dass er endgültig überschnappt.“
„Das eigentlich Erschreckende für mich ist, dass alles, was er sagte, auf mich den Eindruck machte, als ob es wirklich so sein könne. Ich meine, er war vollkommen betrunken! Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er bei Sinnen war, als er das mit den Franzosen sagte.“
„Was hat er noch erzählt?“
„Georg, es tut dir nicht gut, wenn du das alles weißt. Er war betrunken, und man kann wenig auf das geben, was er gesagt hat.“
„Es ist wichtig, bitte! Ich muss es wissen. Was hat er sonst noch gesagt?“
„Es war wirr. Er erzählte irgendeinen Unsinn von einer Madelaine, die es hier im Dorf offensichtlich wohl einmal gab.“
„Madelaine? Eine Französin?“
„Ganz offenbar. Ich kann damit allerdings nichts anfangen. Ich habe keine Ahnung, was oder wen er damit gemeint haben könnte. Jedenfalls hat er sich sehr darüber aufgeregt, als er davon erzählte. Er sagte etwas wie: Man könne ja am Beispiel von Madelaine sehen, wozu das alles führte.“
„Wozu das alles führte? Was meint er denn damit?“
„Tut mir leid, das war der genaue Wortlaut. Mehr hat er nicht gesagt. Ich kann nur erahnen, dass er befürchtet, Meline könnte dasselbe Schicksal ereilen wie diese Madelaine – was auch immer ihr widerfahren ist. Du wirst deinen Vater selbst fragen müssen, wenn du mehr darüber erfahren willst.“
„Genau das werde ich tun!“
„Tu‘ mir einen Gefallen und geh‘ morgen zu deinem Vater. Es bringt jetzt nichts. Er ist betrunken, und es wird kein gutes Ende nehmen, wenn du dich jetzt mit ihm streitest.“
„Was gibt es denn noch zu verlieren?“
Maria erwiderte nichts und sah ihn flehend an.
„Wie bist du ihn denn eigentlich losgeworden?“
„Ich habe zu ihm gesagt, dass es wohl jetzt besser sei, wenn er auf der Stelle gehe, nachdem er durch sein Gebrüll Meline zum Weinen gebracht hatte. Es war geradezu wie im Tollhaus, das kann ich dir sagen! Ein schreiendes Kind, ein verwirrter und betrunkener Schwiegervater… Trotzdem bitte ich dich, nicht zu ihm zu gehen.“
„Hat er noch etwas gesagt, bevor er gegangen ist?“
„Ja. Zum Abschied hat er sinngemäß gesagt, es sei eh alles egal, weil wir sowieso alle sterben würden. Keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Ich denke, er war vollkommen verwirrt. Das ist kein Wunder, bei dem ganzen Alkohol.“
Georg durchfuhr eine unendliche Wut. Sein Vater Heinrich war zweiundfünfzig Jahre alt, und er benahm sich wie ein kleines Kind, das mit seinem Handeln eine Spur der Unordnung hinterließ. Warum war sein Vater bloß so? Sicher, er hatte Vater und Ehefrau viel zu früh verloren, doch er sprach nicht darüber und zog es vor, den Kummer darüber im Alkohol zu ertränken, anstatt sich seinem Sohn zuzuwenden. Georg hatte seine Mutter nach ihrem Tod sehr vermisst, und er dachte, wie viel Halt sich Vater und Sohn in ihrer gemeinsamen Trauer hätten geben können, wenn Heinrich dazu bereit gewesen wäre.
Stattdessen hatte sein Vater nach dem Tod seiner Frau den Hof immer mehr verwahrlosen lassen. Er hatte sich nicht um seinen Sohn gekümmert, als dieser ihn am meisten gebraucht hatte, und man konnte froh sein, dass Georgs Großmutter sich seiner Erziehung angenommen hatte. Heinrichs Hof war infolge seiner Alkoholsucht zusehends verkommen, und viele Felder lagen nach wie vor brach.
Und als ob all dies noch nicht genug gewesen sei, war nun auch noch hinzugekommen, dass Heinrich offenbar von dem Wahn besessen war, zu glauben, dass Melines Leben aus irgendwelchen, für Georg nicht nachvollziehbaren Gründen, auf dem Spiel stehe. Es machte auf Georg den Eindruck, als werfe ihm sein Vater selbst heute noch Steine in den Weg, anstatt stolz auf das zu sein, was sein Sohn auch ohne seine Hilfe geschaffen hatte. Zwar verstand Georg, dass ein Vater durch viele Schicksalsschläge hart getroffen worden war, doch dies war in den Augen von Georg beileibe kein Grund, sich so zu verhalten, wie sein Vater es heute getan hatte. So etwas konnte und wollte er unter keinen Umständen billigen.
„Ich gehe zu ihm! Dem werde ich etwas erzählen! So ein Verhalten werde ich nicht dulden, selbst wenn es mein Vater ist.“
„Georg, bitte! Das bringt doch nichts. Dein Vater ist wie ein störrischer alter Esel, du wirst damit nichts bewirken.“
„Es ist mir egal, ob es etwas bringt oder nicht! Ich werde zu ihm gehen. Ich bin mir das selbst schuldig. Das letzte, was ich möchte ist, dass er am Ende noch irgendwelchen Unsinn im Dorf herumerzählt.“
„Wem sollte er denn davon erzählen? Es glaubt ihm außerdem doch sowieso niemand etwas.“
„Du weißt doch, wie das ist. Er erzählt etwas, und die Person, der er es erzählt, glaubt es nicht, erzählt es aber jemand anderem. Und dieser andere fragt dann schon nicht mehr, ob das, was er gehört hat, tatsächlich wahr oder das Hirngespinst eines Alkoholikers ist. Genauso kommt es nämlich am Ende noch: Er erzählt jemandem davon und ganz schnell wird daraus irgendeine seltsame Wahrheit, zu der noch das eine oder andere hinzugedichtet wurde. Du kennst die Leute. Manche werden das, was er sagt, glauben wollen, nur um etwas zu erzählen zu haben. Und genau das werde ich verhindern! Ich werde hingehen und mit ihm reden, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.“
Maria sah ihn an. Manchmal konnte er so unendlich stur sein, dachte sie. Sie verstand ihn ja, doch würde ein Streit zwischen Georg und seinem Vater – falls es jemand mitbekommen würde – nur zusätzlichen unnötigen negativen Gesprächsstoff im Dorf liefern. Dies wollte Maria unter allen Umständen verhindern, denn schließlich ging es auch um den Ruf ihrer Familie. Soviel Loyalität war sie ihrem Vater allemal schuldig. Auch wenn ihr Vater nie wirklich liebevoll zu ihr gewesen war, so achtete und respektierte sie ihn und verhielt sich in seinem Sinne. Sie wusste, dass er stets alles für sie getan hatte, was in seiner Macht gestanden hatte und war dankbar für das außergewöhnliche Maß an Bildung, welches ihr durch die besondere Förderung zuteil geworden war. Der Ruf ihrer Familie durfte nicht unnötig durch etwas beschmutzt werden, das sie zu verhindern in der Lage war. Sie bemerkte, wie aufgebracht er war und sah ihn mit einer Mischung aus Traurigkeit und Flehen an.
„Georg, bitte lass‘ es. Es bringt nichts.“
„Es ist eine Sache zwischen mir und meinem Vater.“
„Georg, denk‘ doch auch mal an mich. Und an meinen Vater. Und überhaupt: Was sollen die Leute denken, wenn sie mitbekommen, dass ihr euch gegenseitig die Köpfe einschlagt? Man wird sich das Maul zerreißen.“
„Die Leute, die Leute. Ich pfeif‘ auf das, was die Leute sagen. Das geht so einfach nicht!“
„Georg, du tust dir keinen Gefallen damit, jetzt zu ihm zu rennen.“
„Es ist mir egal. Ich gehe zu ihm. So lass‘ ich nicht mit mir und meiner Familie umspringen!“
„Deine Familie? Also, mir liegt nichts daran, dass du das jetzt machst, und Meline wird es auch verkraften.“
„Darum geht es nicht. Es ist eine Frage der Ehre. Du willst es einfach nicht verstehen.“
„Nein, ich verstehe es nicht, denn in betrunkenem Zustand ist dein Vater ohnehin kein Ehrenmann. Ich verstehe nicht, warum du so ein sturer Hund sein musst, wo du selbst doch genau weißt, dass nichts bei diesem Besuch herauskommen wird.“
Georg schnaufte wütend durch die Nase und sah seine Frau zornig an. Von dem zärtlichen Georg, der sie nach seiner Rückkehr vom Feld verführt hatte, war nichts mehr zu spüren.
„Es geht mir auch noch um etwas anderes. Ich möchte weiter mit einem guten Gefühl in den Spiegel blicken können, wenn ich mich rasiere.“
Sie zuckte erneut mit den Achseln. Es hat keinen Sinn, er hört einfach nicht auf mich, dachte sie.
„Na schön. Aber sag‘ hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Georg verließ das Haus und atmete geräuschvoll aus. Er spürte, wie sein Herz in der Halsschlagader pochte. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Einerseits spürte er unbändige Wut darüber, wie sein Vater den Geburtstag der kleinen Meline so hatte verderben können, andererseits war er aufgeregt, weil sich Ottos Vermutungen zu bewahrheiten schienen. Einen Augenblick dachte Georg daran, zunächst zu Otto zu gehen und ihn möglicherweise zu bitten, ihn zu begleiten. Er verwarf den Gedanken wieder, denn es konnte gut sein, dass sich sein Vater in Ottos Gegenwart nicht öffnen würde, es aber möglicherweise tun würde, wenn nur Georg zugegen war.
Georg fühlte sich unwohl in seiner Haut, denn er wusste nicht, was ihn im Haus seines Vaters tatsächlich erwarten würde. Sein Vater konnte, wenn er getrunken hatte, sehr redselig sein, aber auch sehr ungehobelt und aggressiv. Als er den Sattel aus der Halterung an der Wand hob, spürte er, wie sehr seine Hände vor Wut und Aufregung zitterten. Vielleicht hatte Maria Recht damit, ihm von dem Besuch bei seinem Vater abzuraten, doch sie wusste auch nicht, worüber Georg mit Otto gesprochen hatte. Heute war der Tag, an dem die Wahrheit – worin auch immer sie bestünde – ans Licht gelangen konnte. Nach wie vor war es jedoch durchaus möglich, dass Otto sich tatsächlich mit seinen Vermutungen irrte und nichts an der Sache mit dem Kindsmord war.
Er versuchte, den Sattel festzuzurren, doch seine zitternden Hände erschwerten den Vorgang. „Verdammt!“, fluchte er ungehalten.
Sein Vater wohnte außerhalb des Dorfes auf dem Aussiedlerhof, auf welchem Georg geboren und aufgewachsen war. Es war der Hof, auf dem er gelebt und gearbeitet hatte, bis er die Tochter des Bürgermeisters geehelicht und bald darauf mit der Unterstützung der Dorfgemeinschaft ein hübsches Haus nahe des Ortskerns errichtet hatte. Otto, durchzog ihn ein kurzer Gedanke, hat mir so unter die Arme gegriffen, wie es eigentlich mein Vater hätte tun sollen. Die Ereignisse des Nachmittags spülten vergrabenen Schmerz wieder an die Oberfläche. Georg kochte innerlich.
Er riss an den Riemen des Sattels, so dass das Pferd ein schmerzhaft klingendes Wiehern von sich gab. Er spürte, wie sehr er in Rage war, lockerte die Riemen wieder etwas und klopfte dem Pferd auf den Hals. Als er aufstieg, ermahnte er sich, das Pferd nicht unnötig zu treiben, denn er würde es morgen auf dem Feld in gesundem Zustand benötigen.
Nach gut fünf Minuten in schnellem Trab kam er am Hof seines Vaters an. Jedes Mal aufs Neue schmerzte ihn der Anblick. Der Hof war in einem erbärmlichen Zustand. Alles das, was sein Großvater Paul geschaffen, wofür er gelebt hatte, war in die Jahre gekommen. In Georg kochte die Wut. Das Bild des zusehends verfallenden Hofs, der heutige, unverschämte Auftritt seines Vaters, es war einfach zu viel.
„Zweiundzwanzig Jahre Stillstand. Was für ein Saustall. Alles verkommt. Es ist eine Schande.“
Georg war erfüllt von einer Mischung aus Wut und maßloser Enttäuschung. Er hatte oft verdrängt, was mit dem Hof geschah. Es war so, wie wenn man einen Menschen jeden Tag sah, dachte er. Man bekam nicht mit, wie dessen Gesicht allmählich alterte. So war es auch mit dem Hof. Der Hof war verkommen, und niemand hatte etwas getan, um den Prozess aufzuhalten oder zu verlangsamen. Die heutigen Ereignisse hatten seinen Blick geschärft, und er sah es in aller Deutlichkeit vor sich: Der Hof war in einem hoffnungslosen Zustand.
Er schwang sich vom Pferd, band es an einer Strebe im Hof fest und stapfte auf die Tür seines Elternhauses zu. Hier war er geboren, ging es ihm durch den Sinn, als er die vier Treppenstufen vor der Haustür mit zwei Schritten nahm. Als er die Tür öffnete, kam ihm muffige Luft entgegen. Der Geruch wirkte fremd und hatte nichts mit dem Duft der Kindheit gemein, den er in Erinnerung hatte. Hatte er dies zuvor nicht wahrgenommen, oder war es ein neuerlicher Begleitumstand des Niedergangs? Er öffnete die Tür zur Küche, dann die Wohnzimmertür. Nirgends eine Spur seines Vaters. Wo mochte er nur sein?
„Vater?“, fragte er ins Dunkel des Flurs hinein. Es war totenstill. Nur einen der Fensterläden vor dem Haus hörte er leise im Wind schlagen.
Er ging die alte Holztreppe hinauf, die bei jedem Schritt gefährlich knarrte. Das Knarzen war trotz des bedrohlich anmutenden Geräuschs das Einzige, was ihn positiv an seine Kindheit erinnerte. Die Treppe hatte schon immer solche Töne von sich gegeben, und Georg wäre in der Lage gewesen, jede einzelne Stufe anhand des individuellen Knarrens bestimmen zu können.
Er ging ein paar Schritte durch den Flur und näherte sich dem Lagerraum, in dem üblicherweise die Würste und Schinken zum Trocknen aufgehängt wurden. Die Federn der Türklinke gaben ein quietschendes Geräusch von sich, als er den Griff langsam herunter drückte.
„Typisch! Alles verkommt, einfach alles“, murmelte er gedankenverloren vor sich hin und fragte sich unwillkürlich, wann Klinke und Schloss wohl zum letzten Mal geölt worden waren.
Als er die Tür aufstieß, erschrak er sich beinahe zu Tode. Sein Vater saß auf einem Stuhl, eine halbleere Flasche Korn in der Hand, umgeben von im Luftzug baumelnden Würsten, die wie ein groteskes Windspiel vor sich hin schaukelten. Georg hatte das Gefühl, als sei er mit einem Mal unfähig, zu denken. Sein Gehirn fühlte sich blutleer an und ihm wurde schwindelig. Er hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest und versuchte, sich zu innerlich zu fangen.
„Vater?“
Sein Vater blickte müde und wortlos auf. Seine Augen waren rot und ganz offensichtlich vom Weinen verquollen. Georg konnte nicht glauben, was er sah. ‚Männer weinen nicht!‘, war das nicht immer die Botschaft seines Vaters an ihn gewesen? Sein Vater stierte ihn mit glasigem Blick an und sagte nichts. Seine Gefühle überwältigten Georg. Er spürte Mitleid, spürte Abscheu, spürte Hass, und auch ein gewisses Verständnis.
„Vater? Gütiger Gott! Was ist mit dir?“
In Heinrichs Gesichtsausdruck erkannte Georg eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und bodenloser Scham. Der Alkohol schien es ihm unmöglich zu machen, eine Fassade zu errichten, um all das innere Durcheinander zu verbergen. „Ich… Ich…“
Mehr als ein Stammeln brachte Heinrich nicht hervor. Auch Georg war nachhaltig geschockt vom Anblick seines Vaters. Obwohl er sich schon oft ausgemalt hatte, wie der Zustand seines Vaters sein mochte, wenn er getrunken hatte, war es etwas ganz anderes, den harten Tatsachen nun unmittelbar ins Auge zu sehen. Obwohl er immer wieder versucht hatte, sich den Verfall seines Vaters zu verdeutlichen, war das, was er nun sah, eine andere Dimension des Elends. Der Zustand seines Vaters war weit schlimmer als er es sich ausgemalt hatte. Mühsam versuchte er, die Gedanken in seinem Kopf zu sortieren, doch es gelang ihm nicht, einen klaren Kopf zu erlangen.
Was sollte er tun? Er sah seinen Vater in all seiner Hilflosigkeit, der nicht mehr als ein Häufchen Elend war. War es angebracht, ihn nun zur Rechenschaft zu ziehen? Andererseits war es der eigene Entschluss seines Vaters gewesen, sich zu betrinken – ebenso wie auch der Besuch im Haus seines Sohnes sein Entschluss gewesen war. Oder musste man Heinrich jegliche Mündigkeit absprechen, wenn er sich im Zustand der Volltrunkenheit befand?
Sein Vater war ein erwachsener Mann, der für sein Tun und Handeln einstehen musste, so wie jeder andere Erwachsene auch, so er bei Verstand war. Doch war sein Vater bei Verstand? Georg raufte sich innerlich die Haare. Er wusste nicht, was er tun sollte, und die Zeit schien stehenzubleiben. Endlos lange schienen sich Vater und Sohn anzusehen, doch tatsächlich waren es nur Sekunden des Blickkontaktes. Georg spürte, dass er von dem Gedanken getrieben war, etwas sagen zu müssen, um Spannung aus der Luft zu nehmen, doch ihm fiel nichts ein.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Vater. Ich bin sprachlos.“
„I-ich…“
Heinrich hatte die Wehrlosigkeit eines auf dem Rücken liegenden Käfers. Die Auswirkungen des Alkohols, der eigentlich helfen sollte, die trügerische Fassade um Heinrich herum aufrechtzuerhalten, hatten sich mit dem Augenblick der Entdeckung durch Georg ins genaue Gegenteil verkehrt.
„Warum tust du das nur, Vater?“
„S-siss… I-ich…“
Sein Vater schien unfähig, etwas zu sagen. Vielleicht hatte er heute die Gelegenheit, mit seinem Vater über Dinge zu sprechen, die nie zuvor Thema waren. Er dachte an die Gefühlsausbrüche seines Vaters am Tag von Melines Geburt. Vielleicht war heute der Tag, an dem er mit seinem Vater über die Beweggründe seiner Anschuldigungen gegenüber Erna und Lia sprechen konnte.
Georg erinnerte sich an das Gespräch mit Otto, der ihm geraten hatte, das Thema erst dann anzuschneiden, wenn es einen weiteren Vorfall gab – und das war heute der Fall. Es war ihm plötzlich bewusst, dass er sich mit der heutigen Begegnung mit seinem Vater an einen Scheideweg begeben hatte. Georg spürte, wie sein Herz heftig zu pochen begann. Er sprach sich innerlich Mut zu. Es gab, wenn er ehrlich mit sich selbst war, nicht viel zu verlieren.
Vielleicht würde der Schutzpanzer seines Vaters Risse bekommen und er würde endlich etwas darüber erfahren, wie es seinem Vater tatsächlich ging – und vor allem, warum sich die Dinge über die Jahre so unerfreulich entwickelt hatten. Das Bild des hilflosen Käfers schien passend. Wie leicht es gewesen wäre, den am Boden liegenden Käfer einfach zu zertreten. Doch er wollte den Panzer knacken. Das war weitaus schwieriger. Er überlegte, wie er das Gespräch anfangen konnte. Sein Vater stierte ihn fragend an.
„Ich weiß langsam nicht mehr, was ich tun soll, Vater. Ich frage mich, weshalb?“
„Aw-wa…“
„Was erwartest du eigentlich, wie ich mich verhalte, wenn mir solche Dinge wie das, was du heute getan hast, zu Ohren kommen?“
Mit einem mühsam und gequält klingenden Lallen antwortete Heinrich: „W-weisnich.“ Georg spürte, wie sein Vater angestrengt versuchte, deutlich zu sprechen, doch durch den Alkohol im Blut fiel es ihm sichtlich schwer.
„Warum machst du das? Warum lässt du dich ständig volllaufen?“
„Es-ss… geht ni-nich‘ ohne.“
„Aber warum machst du es? Es muss doch irgendwann einmal angefangen haben, denn vorher ging es doch auch ohne das Zeug.“
„Ang-gefang… ham?“
„Ja. Wann hat es angefangen?“
„Weisnich.“
Georg glaubte seinem Vater nicht, dass er den ursprünglichen Grund für sein Trinken nicht kannte. Seine Mutter kam ihm in den Sinn. Er versuchte sich zu erinnern, doch alle Bilder von damals waren bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Er war gerade einmal drei Jahre alt gewesen, als sie gestorben war. Er wusste, dass sein Vater den Tod seiner Frau niemals überwunden hatte. Er hatte häufig den Eindruck gehabt, sein Vater gebe sich eine Mitschuld am Tod seiner Frau, doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum dies so sein sollte.
„Ich nehme dir das nicht ab. War es Mutters Tod?“
„Tod? W-was?“
„Vater, bitte. Es muss doch einen Grund gegeben haben.“
„Tod. Tod n-nn Teufel.“
„Was soll das heißen? Was hat der Teufel damit zu tun?“
„Todunteufel!“
„Was ist mit dem Teufel?“
„Wer d-den Tod benuss-st, den h-hohler Teufel.“
Die Worte kamen so undeutlich über Heinrichs Lippen, dass Georg noch einmal wiederholte, was sein Vater gesagt hatte.
„Wer den Tod benutzt, den holt der Teufel?“
„Derteufel! Werntod ruf, rufauchn Teufel!“
„Aber was hat das mit dir zu tun?“
„S-su spät. Allesu spät.“
„Ich verstehe dich nicht. Was ist zu spät?“
„Wenner Tod kommt, iss-ss-su spät.“
„Was bedeutet das?“
„Todunteufel. D-deseufels!“, schüttelte Heinrich den Kopf und vergrub sein Gesicht in beiden Händen.
„Sag‘ etwas, Vater. Warum machst du dein Leben kaputt?“
Sein Vater blickte mit müdem Blick auf, seine Augen waren gerötet. Er quälte ein einziges Wort über seine Lippen, und es klang wie ein Resümee seines Lebens:
„Kaputt.“
„Hat es mit Mutters Tod zu tun?“
„Meine Anna. Ichapp all-lles kaputte macht.“
„Aber du konntest doch gar nichts dafür, oder?“
„Todunteufel.“
„Jetzt hör‘ doch endlich mit dem Teufel auf!
„Der Teufel i-iss ü-üwerall.“
„Dich trifft doch gar keine Schuld an Mutters Tod, oder?“
Heinrich sah seinen Sohn mit müdem Blick an. Georg kam wieder das Gespräch mit Otto in den Sinn, bei dem sein Schwiegervater Verdachtsmomente geäußert hatte, Heinrich könne in einen Kindsmord verwickelt sein. Gab es tatsächlich ein dunkles Geheimnis im Leben seines Vaters? Er beschloss, das Gewissen seines Vaters zunächst einmal zu beruhigen, ehe er die Frage stellen würde, die ihm unter den Nägeln brannte.
„Vater, mach‘ dir nicht solche Vorwürfe. Was hättest du tun sollen? Wie hättest du ihren Tod verhindern können?“
„Wer den Tod r-ruft, s-sahldafür.“
„Aber du hast ihren Tod doch nicht heraufbeschworen.“
„Hm.“
„Oder ist es etwas ganz anderes?“
Heinrich sah durch seinen Sohn hindurch. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Georg runzelte die Stirn. Was mochte damals nur passiert sein?
„Ich will dir doch helfen. Erzähl‘ mir, was passiert ist.“
Sein Vater hob langsam den Kopf und blickte ihn wortlos und mit traurigen Augen an. Ich habe alles verloren, sagten seine Augen. Nach einem scheinbar unendlich langen Moment der Stille ergriff Georg das Wort.
„Warum tust du all das? Warum bist du so unausstehlich? Es macht mir den Eindruck, als wolltest du, dass niemand mit dir zu tun haben will.“
„I-ich bringallen Un-g-glück.“
„Das ist doch Unfug.“
„Sch-schuld.“
„Schuld? Schuld woran?“
„D-der Tod.“
„Das hört sich ja fast an, als hättest du Mutter damals umgebracht.“
„Dasnich. Nich‘ Meinanna.“
Georg durchfuhr ein eiskaltes Gefühl bei dem Gedanken, dass sein Vater einen Menschen auf dem Gewissen haben konnte. Sagte man nicht immer, dass Kinder und Betrunkene die Wahrheit sprachen? Vielleicht war alles noch viel schlimmer als sein Schwiegervater angenommen hatte. Heinrich setzte die Flasche erneut an und nahm einen tiefen Schluck.
„Was hast du getan, Vater? Hast du jemanden umgebracht?“
„I-ich… N-nein.“
„Ich versuche doch nur, dich zu verstehen. Erkläre es mir.“
„G-gehtnich‘.“
„Warum nicht?“
Sein Vater blickte wieder durch Georg hindurch und seufzte. Etwas Furchtbares musste passiert sein, und auf irgendeine Art hing sein Vater in der Sache mit drin.
„Willst du nicht mit mir darüber reden?“
Sein Vater schwieg. Er schüttelte nur den Kopf.
„Es würde dir helfen, darüber mit mir zu sprechen. Wenn du niemanden umgebracht hast, kannst du es doch erzählen. Du bist mein Vater. Von daher werde ich nichts von dem, was du mir anvertraust, mit jemand anderem teilen. Darauf hast du mein Wort.“
Sein Vater sah ihn misstrauisch an, doch irgendetwas von dem, was Georg gesagt hatte, schien bei ihm angekommen zu sein.
„Vater, bitte! Irgendwann musst du darüber sprechen. Oder willst du damit warten, bis du auf dem Sterbebett liegst? Oder willst du gar im Fegefeuer landen?“
„All-ll Sunnsinn! Fegefeuer!“
„Egal ob Fegefeuer oder nicht, es belastet dich.“
„W-warum Meline?“
„Was meinst du damit?“
„D-der N-name!“
„Maria hat mir erzählt, dass du sie beschimpft hast, weil wir dem Kind einen französischen Namen gegeben hätten. Aber warum in drei Teufels Namen soll das denn ein schlechtes Omen für sie sein? Der Name klingt doch schön und ist nicht so gewöhnlich wie fast alle anderen Mädchennamen.“
„Hmpf.“
„Was hat es eigentlich mit dieser Madelaine auf sich?“, klopfte Georg auf den Busch. Er bemerkte, wie alle Farbe aus dem Gesicht seines Vaters wich. Aha, dachte er, es hat also tatsächlich mit dieser Französin zu tun.
„Madelaine“, leuchtete Heinichs Gesicht kurz auf, als er den Namen aussprach.
„Du hast den Namen doch erwähnt, als du mit Maria gesprochen hast.“
„M-madelaine.“
„Wer ist diese Madelaine?“
Sein Vater schwieg beharrlich.
„Mir scheint, du weißt genau, von wem ich rede. Wer ist sie? Und wo ist sie jetzt?“
„W-weg.“
„Was heißt das, weg? Wohin weg?“
„Ag-gehaun.“
„Aber von wo abgehauen? War sie hier im Dorf?“
„Lassmich!“
„Hat sie etwas mit dem zu tun, was du Erna an den Kopf geworfen hast?“
„Erna?“
„Du hast Erna und Lia doch bezichtigt, sie wollten dem Kind etwas antun. Oder etwa nicht?“
„Weisni-nich mehr.“
„Vater, bitte… Was hat es mit dieser Madelaine auf sich?“
„D-derteufel hassie gesch-schickt!“
„Der Teufel hat sie also geschickt, und dann ist sie abgehauen. Und was war in der Zeit dazwischen?“
„Hmpf.“
„Wie kommst du darauf, dass sie der Teufel geschickt hat?“
„S-satans-b-braut! I-ichkonnte nichanners.“
„Was habt ihr denn Schlimmes getan?“
„S-siehad allsabutt g-gemacht! T-teufels-w-weib!“
„Hat sie jemanden umgebracht, diese Madelaine?“
Heinrich schüttelte den Kopf.
„War sie dabei, als jemand umgebracht wurde? Wurde ein Kind umgebracht, als sie dabei war?“
„Hmpf.“
„Herr im Himmel, so sag‘ doch etwas!“
„Waseinmuss-mussein.“
„Habt ihr ein Kind umgebracht?“
„I-ich h-hab‘ nix getan.“
„Aber jemand anderes?“
Georg sah seinen Vater an, doch dieser hatte den Kopf gesenkt. Seine Körperhaltung war mit einem Mal abweisend. Offenbar war das Gespräch für heute beendet.
„Du solltest dich mir anvertrauen.“
„Hmpf.“
Es machte keinen Sinn, Heinrich weiter zu bearbeiten, beschloss Georg. Er würde einen neuen Versuch unternehmen, doch nicht heute. Als er die Holztreppe hinunter schritt, und ihn die knarrenden Stufen verabschiedeten, überkam ihn ein melancholisches Gefühl. Vor dem Haus atmete er tief durch und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
Er spürte, dass er seinen Vater mit seinen Fragen in die Enge getrieben hatte, doch dieser hatte sich aus einem Georg unbekannten Grund nicht überwinden können, sein Gewissen zu erleichtern. Dennoch hatte Georg das Gefühl, der Wahrheit ein gutes Stück näher gekommen zu sein. Immerhin hatte der Besuch eine unerwartete Wendung genommen und ihn mit den Geheimnissen seines Vaters in Kontakt gebracht. Was hatte sich sein Vater bloß zuschulden kommen lassen?