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Aus heiterem Himmel

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Nach seiner Rückkehr hatte er noch bis in die späten Abendstunden mit Maria gesprochen und ihr von den merkwürdigen Äußerungen seines Vaters erzählt. Auch sie konnte sich keinen Reim auf das machen, was ihr Schwiegervater gesagt hatte.

Georg, der sonst fast immer wusste, was zu tun war, war nachhaltig von den Ereignissen beeindruckt und fühlte sich durcheinander. Er hatte kurz überlegt, bei seinem Schwiegervater vorbeizuschauen, um mit ihm über das zu sprechen, was er bei Heinrich erlebt hatte. Doch schließlich hatte er den Gedanken wieder verworfen. Er würde einige Tage ins Land gehen lassen, und wenn sich die Unordnung in seinem Kopf bis dahin nicht aufzulösen begänne, konnte er immer noch zu Otto gehen.

Nun, da er mit Gewissheit wahrnahm, dass es ein dunkles Geheimnis im Leben seines Vaters gab, spürte er eine starke Verbindung mit ihm – und den Wunsch, die ganze Wahrheit zu erfahren und seinem Vater aus dem dunklen inneren Verlies zu helfen. Doch er hatte das ungute Gefühl, dass sein Vater sein Geheimnis mit ins Grab nehmen würde. Und wenn Heinrich durch übermäßigen Alkoholkonsum weiterhin seine Gesundheit ruinierte, konnte es gut sein, dass sein Tod nicht mehr lange auf sich warten ließ.

Wie war der nachmittägliche Besuch bei seinem Vater zu bewerten? Immerhin hatte sein Vater etwas getan, was Georg noch nie zuvor erlebt hatte. Heinrich hatte die Tür zu seinem belastenden Geheimnis einen Spalt weit geöffnet. Georg spürte, dass er seinem Vater trotz dessen nur nebulöser Offenbarung näher gekommen war. Er fragte sich, ob es überhaupt erstrebenswert sein würde, die ganze Wahrheit zu wissen. Es konnte gut sein, dass es – abhängig davon, worin das Geheimnis bestand – zu einem Gewissenskonflikt für Georg kommen konnte. Schließlich konnte er nicht jedwedes Verhalten hinnehmen, wenn es mit einem gravierenden Delikt in Verbindung stand. Selbst dann nicht, wenn es sich bei dem Täter um den eigenen Vater handelte.

Georg spürte, wie dicht Positives und Negatives manchmal beieinander lagen. Selten war er seinem Vater näher gewesen, doch die Möglichkeit, dass er erfahren könne, was sein Vater sich tatsächlich hatte zuschulden kommen lassen, machte ihm Angst.

„Georg, es nutzt nichts, wenn du jetzt stundenlang darüber grübelst, was du tun kannst“, versuchte Maria ihn zu beschwichtigen.

„Das ist leicht gesagt. Du warst ja nicht dabei. Es ist mein Vater, der sich zu Grunde richtet.“

„Immerhin hat er dir etwas erzählt, das er vorher vor dir geheim gehalten hat.“

„Das stimmt. Ich weiß nur nicht, ob das so gut ist. Und er hat mir nicht die ganze Geschichte erzählt, sondern nur Andeutungen gemacht. Es klang, als hätte er etwas Schlimmes angestellt. Möglicherweise ist er auch nur ein Mitwisser, doch in jedem Fall deckt er etwas, das nicht in Ordnung ist.“

„Ob du dir nun einen Kopf darüber machst oder nicht: Es ändert nichts an den Tatsachen.“

„Ich weiß.“

„Georg, komm‘ mit ins Bett. Morgen musst du früh raus.“

Er nickte. Sie hatte Recht. Er konnte die Klärung des Geheimnisses nicht erzwingen, und schon gar nicht heute. Er würde seinem Vater Zeit geben müssen, auch wenn es ihn wahnsinnig machte, dass sein Vater ihm gegenüber zwar viele Andeutungen gemacht, ihn jedoch letztlich im Unklaren über das gelassen hatte, was vorgefallen war.

Morgen musste er besonders früh aufstehen, um die heute verloren gegangene Zeit wieder aufzuholen. Auf die Unterstützung seines Vaters konnte er morgen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zählen; er würde, so wie Georg es einschätzte, einen schlimmen Kater haben und zudem der Begegnung mit seinem Sohn schamvoll aus dem Weg zu gehen versuchen.

Trais-Horloff, Mittwoch, 1. September 1897

Georg war nach einer unruhigen Nacht mit wirren Träumen sehr früh aufgewacht und schon vor dem Morgengrauen aufgestanden, um sich auf den Weg in die Felder zu machen. Er hoffte, dass die körperliche Tätigkeit ihn von den dunklen Geheimnissen seines Vaters ablenken würde. Der von Georg mit Ehrgeiz geführte Hof hatte auch seine Schattenseiten, denn er verlangte ihm alles ab.

Er empfand das Arbeiten während der frühen Morgenstunden, in denen es noch kühl war, als sehr viel angenehmer als das Arbeiten in der Mittagshitze. Wie erwartet ließ Heinrich auf sich warten.

Normalerweise half ihm sein Vater regelmäßig bei der Arbeit auf dem Feld. Dies gehörte zu den wenigen Dingen, die sie gemeinsam machen konnten, ohne dass es zu Meinungsverschiedenheiten kam. Solange sie zusammen auf dem Feld waren, waren sie sich merkwürdigerweise einig. Vielleicht, dachte Georg, lag es daran, dass sie dort kaum ein Wort wechselten. Doch das war es nicht allein. Sein Vater schien sich in einen anderen Menschen zu verwandeln, wenn er sich jener körperlichen Arbeit zuwendete. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, er betrachte es als eine Art von innerer Einkehr. Sein Vater war auf dem Feld oft vollkommen in seine Arbeit versunken und nahm dann um sich herum fast nichts wahr.

Georg konnte das nicht so recht nachvollziehen. Er selbst empfand die Arbeit auf dem Feld als sehr eintönig und wünschte sich oft eine Abwechslung. Trotz allem schätzte er es, dass es hier draußen eine friedliche Stätte der Begegnung mit seinem Vater gab.

Manches Mal beneidete er seinen Schwiegervater, der zwar nebenher noch in der Landwirtschaft tätig war, ansonsten jedoch viel Zeit mit vielfältigen anderen Aufgaben verbrachte. Aber es konnte nun einmal nur einen Bürgermeister im Dorf geben. Und wer wusste es schon? Vielleicht sollte Georgs Zeit ja noch kommen.

Sein Vater kam ihm wieder und wieder in den Sinn. Hatte er einen Fehler gemacht, weil er sich zu sehr in dessen Angelegenheiten eingemischt hatte? Oder könnte es seinen Vater läutern, Luft an die alten Geschichten zu lassen? Hatte Heinrich tatsächlich den Tod eines Kindes zu verantworten?

Nach der Begegnung mit seinem Vater hatte Georg vergeblich versucht, kurzfristig einen Landarbeiter anzuheuern, der ihn für den Rest der Woche unterstützen sollte. Ihm war bewusst, dass er auf absehbare Zeit nicht mit seinem Vater würde rechnen können. Mitten in der Erntezeit ohne zeitlichen Vorlauf einen Erntehelfer zu bekommen, war enorm schwierig.

Schließlich hatte sich Georg ein Herz gefasst und war in seiner Not zum größten Landwirt im Dorf gegangen, um ihn um Hilfe zu bitten. Tatsächlich hatte dieser ihm Unterstützung zugesichert. Die Bereitwilligkeit, mit der dies geschehen war, hing ohne Zweifel damit zusammen, dass Georg der Schwiegersohn des Bürgermeisters war. Der Landwirt hatte Georg ab morgen zugesagt, einen seiner Landarbeiter für den Rest der Woche abzustellen. So musste Georg zwar heute alleine zurechtkommen, aber er war frohen Mutes, was die Perspektive für den Rest der Woche anging.

Da er nur einen Tag alleine zu überbrücken hatte, ging er motiviert ans Werk. Bis zum Mittag kam er gut voran; es war zwar heiß, aber gelegentlich zogen ein paar Wolken vorüber, die eine Weile Schatten spendeten, ehe die Sonne wieder zum Vorschein kam. Für die Mittagszeit hatte sich Maria angekündigt, die mit einem Bollerwagen und den beiden Mädchen zu ihm kommen und ihm ein Mittagessen vorbeibringen wollte. Er wusste, dass er über jede Minute froh sein würde, die er in Gesellschaft seiner Familie verbringen konnte.

Auch wenn ihn die Arbeiten ablenkten, so zog sich der Vormittag doch endlos dahin. Wenn sein Vater ihn unterstützt hatte, hatten sie zwar wenig miteinander gesprochen, aber irgendwie war das Arbeiten zu zweit dennoch kurzweiliger gewesen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Maria und die Mädchen bald kommen würden, und dass er ab morgen Unterstützung und Gesellschaft auf dem Feld haben würde.

Für heute hatte er sich viel vorgenommen. Es würde bis zur Abenddämmerung dauern, bis er mit dem Pflügen des Feldes fertig sein würde. Rasch schweiften seine Gedanken ab, er dachte an den Tag zuvor, er sah wieder seinen Vater vor sich sitzen, er sah die Würste in der Luft baumeln. Es war wie ein schlechter Traum, den man nicht loswurde. Er sah die Schnapsflasche in seiner Hand, die roten Augen, den glasigen Blick. Immer wieder sah er den tieftraurigen Blick seines Vaters, und immer wieder hörte er dessen alkoholtrunkene Stimme.

Seine Sinne waren vollkommen übersteigert gewesen, als er seinem Vater gegenübergestanden hatte, und jedes Bild, jedes Geräusch hatte sich tief in ihm eingegraben. In solch einem schlimmen Zustand hatte er ihn nie zuvor gesehen. Ein Häufchen Elend, umweht von einer Schnapsfahne. Immer wieder fragte sich Georg aufs Neue, was sein Vater auf dem Kerbholz hatte. Es musste schon lange zurückliegen, wenn der Vorfall der ursächliche Grund für Heinrichs Trinken war.

Während Georg mit dem vom Pferd gezogenen Pflug auf dem Feld monoton auf und ab fuhr, kreisten seine Gedanken die ganze Zeit um seinen Vater. Sie hatten seit dem Tod seiner Mutter so viel verpasst. Ohne den Alkohol hätten sie sich gegenseitig Trost und Kraft spenden können. Durch den Einfluss des Alkohols verpasste oder verdarb sein Vater viele schöne Momente mit seinen Enkelinnen – so wie erst gestern wieder.

Der Realität ins Auge zu sehen, machte ihn traurig. Er spürte, wie sich eine Träne aus seinem Auge löste, wischte sie weg und zog die Nase hoch, die ein tränengetränktes Geräusch von sich gab. Es war unmöglich, vor den Gedanken zu flüchten.

„Es ist sein Leben, nicht meins.“

Es fühlte sich nicht so gut an, wie er gehofft hatte. Sein Herz sprach eine andere Sprache als sein Mund, es sagte: „Er ist und bleibt mein Vater, und ich habe Angst um ihn.“

Georg schüttelte den Kopf. „Er ist mein Vater“, murmelte er leise vor sich hin. „Immerhin hat er gesagt, dass irgendetwas vorgefallen ist. Er hat mir dadurch gezeigt, dass er Hilfe braucht. Es kommt etwas in Gang.“

Den ganzen Vormittag ging das so, seine Gedanken kreisten in einem fort, doch die Hoffnung schien nach und nach die Resignation abzulösen. Dennoch war es für ihn wie eine Erlösung, als er Maria mit dem Bollerwagen den Feldweg hochkommen sah. Christine rannte vorweg und rief schon von weitem nach ihm. „Papa, Papa!“, hörte er ihre helle Kinderstimme.

Er vernahm, wie Maria in der Ferne etwas rief, das offensichtlich Christine galt, er konnte es aber nicht verstehen. Er sah, wie sich Christine umdrehte, in Richtung ihrer Mutter blickte und dann langsam und anscheinend widerwillig zum Bollerwagen zurück trottete. Meist war seine Frau diejenige, die den Kindern Grenzen aufzeigte. Er war weit weniger streng mit den beiden Mädchen und verfiel nicht selten in ein kindliches Verhalten, wenn er mit ihnen herumalberte und die Welt um sich herum vergaß.

Meline saß wie eine Prinzessin im Bollerwagen und blickte sich mit neugierigen Augen um, die alle Eindrücke wie ein Schwamm aufzusaugen schienen. Oft überraschte sie ihre Eltern mit einem kessen Spruch, der zumeist aus drei Worten bestand und fast immer zur Situation passte, was für ein einjähriges Kind eine in Georgs Augen beachtliche Leistung war. Sie war ein aufgewecktes und fröhliches Kind, und es tat ihm leid, dass ihr Geburtstag so unschön verlaufen war. Welche drei Worte, überlegte er, würde Meline wohl für ihren Großvater Heinrich finden?

Selbstvorwürfe plagten ihn. Er selbst hatte den Tag unschön werden lassen, weil er am Geburtstag weggegangen war, anstatt bei seiner Familie zu bleiben. Er atmete geräuschvoll und gequält aus, befreite das Pferd vom Pflug und führte es zu einem der Bäume, um es dort anzubinden.

Er war dankbar, dass das quälende Grübeln sich – wenigstens für die kommende Stunde – aufzulösen begann. Je näher seine Frau und seine Töchter kamen, desto mehr ließ das Gedankenkarussell nach. Als Maria mit den Kindern so nahe gekommen war, dass er ihre Stimmen deutlich hören konnte, und verstehen konnte, was sie sagten, hörten die kreisenden Gedanken um seinen Vater schließlich ganz auf. Offenbar, dachte er, vertrieben die Stimmen von Maria und seinen Töchtern die Stimmen in seinem Kopf.

Christine rannte auf Georg zu und rief begeistert: „Papa, Papa!“ Er nahm sie in den Arm und erkannte in ihrem Gesicht sein eigenes Lächeln wieder. Er vermutete, dass genau dieses gewinnende Lächeln ihr einmal viele Geschenke im Leben einbringen würde.

Ihre kleine Schwester plapperte einen Dreiwortsatz heraus, und zu Georgs Erleichterung kam das Wort ‚Opa‘ nicht darin vor: „Papa, ein Kuss!“ Er musste unwillkürlich laut lachen. Das war ein Satz mit drei Worten, der keine düsteren Gedanken aufkommen ließ. Georg sah Meline liebevoll in die Augen, küsste andeutungsweise seine lehmverschmutzte Hand mit geschürzten Lippen und blies Meline den erdigen Handkuss zu. Meline lachte und schlug vor Freude mit ihren kleinen Händen auf den Rand des Bollerwagens.

„Wie war es heute Morgen, Georg?“

„Es war in Ordnung“, log er.

Er wollte seine Frau nicht noch mehr belasten. Sie würde ihm ohnehin nicht helfen können, versuchte er sich einzureden, denn niemand konnte verstehen, wie es ihm damit ging, dass sein Vater durch den Alkohol abrutschte.

Maria gab sich mit seiner oberflächlichen Antwort zufrieden; sie war sich sehr wohl darüber bewusst, dass Georg den ganzen Morgen über dem gebrütet haben musste, was gestern passiert war. Sie spürte, dass er nicht mehr darüber reden wollte, und so ließ sie ihn in Ruhe. Vielleicht machte es wirklich keinen Sinn, das Problem ständig von links auf rechts zu drehen. Alles, was sie hatte tun können, um die Ereignisse von gestern zu vermeiden, hatte sie getan.

Trotz aller Bemühungen, die Geschehnisse nicht mehr zu thematisieren, gelang es ihm nicht, über etwas anderes zu reden. Es ging einfach nicht. Zu sehr brannten ihm all die Dinge unter den Nägeln, um den Mantel des Schweigens darüber legen zu können. Und schließlich, sagte er sich, war seine Frau neben Otto die einzige Person, der er sich rückhaltlos anvertrauen konnte.

„Ich bin froh, dass ihr da seid. Ich bin froh, dass du da bist, Maria. Was gestern passiert ist, es lässt mir einfach keine Ruhe.“

„Ich weiß, Georg.“

„Was mir noch viel mehr zusetzt als die Sauferei meines Vaters, ist das, was ich nur erahnen kann. Der Zustand des Hofs und sein ständiges Saufen sind nur Symptome. Die mögliche Ursache dafür macht mir viel mehr Angst. Ich habe ihn gefragt, ob er jemanden umgebracht hat.“

„Umgebracht?“

„Ich habe ihn danach gefragt, da er nur ständig etwas von Tod und Teufel erzählte.“

„Und was hat er gesagt?“

„Es war alles sehr wirr, aber ich habe eine schlimme Ahnung, und das macht mir Sorgen.“

„Er hat bestimmt niemanden umgebracht.“

„Das hoffe ich auch, alleine sicher bin ich mir nicht. Wer weiß schon, wozu er fähig ist, wenn er sich gehen lässt.“

Maria sah ihn fragend an.

„Nach dem Wenigen zu urteilen, das er mir erzählt hat, weiß er zumindest von jemandem, der einen Mord begangen hat.“

„Was? Bist du sicher?“

„Sicher bin ich mir nicht, aber ich kenne ihn und habe eine Vorstellung, warum er meinen Fragen ausweicht.“

„Du weißt es sicher besser als ich. Du kennst ihn von klein auf.“

„Ich glaube, dass all das, was er mir verschweigt, dazu beigetragen hat, dass er den Hof hat herunterkommen lassen und selbst verwahrlost.“

Sie hatte auch zuvor schon genügend Blick für die Realität gehabt, um den Verfall des Hofes wahrzunehmen, um zu bemerken, wie sein Vater sich im Laufe der Zeit verändert hatte. Trotz allem hatte sie nie etwas gesagt, weil sie Angst gehabt hatte, ihn damit zu verletzen.

„Georg…“

Er sah sie an und zuckte hilflos mit den Schultern.

„Wenn er sich zu Grunde richten will, wirst du es nicht verhindern können. Du bist nicht für ihn verantwortlich. Er ist kein kleines Kind, auch wenn er sich oft so benimmt.“

„Genauso benimmt er sich. Verdammter Mist!“

„Damit hast du Recht, es ist ein verdammter Mist mit ihm. Aber wir werden das so hinnehmen müssen. Wir werden ihn nicht ändern können, denn das könnte nur er selbst. Wir können ihn nicht ändern, also müssen wir lernen, ihn so zu nehmen, wie er nun einmal ist.“

„Er ist immerhin mein Vater. Es ist nicht leicht, ihn aufzugeben.“

„Du gibst ihn nicht auf. Das macht er selbst. Du hast mich, und du hast die Kinder. Und mein Vater steht auch hinter dir und unterstützt dich, wo er kann.“

„Ja, ich weiß. Ich bin froh, dass wenigstens dein Vater für uns da ist.“

„Vergiss‘ es nicht, wenn dich die Enttäuschung über deinen eigenen Vater wieder überkommt. Denk lieber an deinen Schwiegervater und daran, wie viel väterliche Unterstützung er dir gibt. Er hält große Stücke auf dich.“

„Ich bin wirklich froh, dass ihr da seid. Dass du da bist. Ich werde hier wahnsinnig, so alleine auf dem Feld. Normalerweise macht es mir nichts aus, aber heute…“

„Ich weiß. Ich hab dich lieb.“ Er sah sie liebevoll an. „Du bist sicher nicht hergekommen, um dir all dies anzuhören. Ich sollte jetzt damit aufhören, damit wir die Stunde noch für das nutzen können, weswegen du eigentlich hergekommen bist.“

„Du wirst es nicht glauben, aber ich bin hauptsächlich hergekommen, um Zeit mit dir verbringen zu können. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst, und da dachte ich mir, es würde dir guttun, die Kinder und mich zu sehen.“

Er sah sie mit einem dankbaren Blick an. Auch wenn sie nicht wirklich verstehen konnte, was in ihm vorging, so bemühte sie sich zumindest, ihn aufzurichten.

„Aber natürlich habe ich auch an das Essen gedacht, bevor ich losgezogen bin.“

„Was hast du denn mitgebracht?“

„Dann wollen wir doch mal schauen, ob es dem Herrn gefällt, was die drei Damen im Gepäck haben.“

Maria breitete ein weißes Betttuch wie eine Tischdecke auf der Wiese neben dem Acker aus, drapierte darauf kunstvoll die mitgebrachten Lebensmittel sowie Geschirr und Besteck und wies nach Art einer französischen Bedienung mit ausgestreckter Hand auf das Arrangement, neben dem eine in der Milchkanne transportierte Kürbissuppe stand:

„Voilà, Monsieur! Soupe au potiron. Bon appétit!“

Georg musste lachen, er wusste ja, dass sie in der Schule etwas Französisch gelernt hatte. Aber dass sie es jetzt so treffsicher einzusetzen wusste, das erstaunte ihn schon. Sie sahen sich tief in die Augen, und Maria sagte leise:

„Ich liebe dich, Georg. All diesen Widrigkeiten zum Trotz. Da kannst du machen, was du willst. Du wirst mich in diesem Leben nicht mehr los.“

Georg kämpfte mit Tränen der Rührung. So gefühlvoll erlebte er seine Frau nur selten. Aber in den wenigen Augenblicken, in denen sie ihre Gefühle so offen zeigte, konnte er spüren, wie viel sie für ihn empfand. Sie schien ihn wirklich zu lieben. Allen Widrigkeiten zum Trotz, wie sie sagte.

„Maria…“

Seine Stimme versagte fast ihren Dienst. Sie schüttelte den Kopf, um ihn zum Schweigen zu bringen, küsste ihren rechten Zeigefinger und drückte Georg diesen zärtlich auf den Mund.

„Sag‘ nichts. Es ist gut so, wie es ist.“

Anstatt etwas zu erwidern, nahm er sie in den Arm. Sie hat Recht, dachte er. Meistens hatte sie Recht. Sag‘ nichts, ermahnte er sich, es ist gut so.

Die Zeit mit seiner Frau und seinen Töchtern war wundervoll und kurzweilig. Solange die drei da waren, schienen all die dunklen Gedanken in weiter Ferne. Mit Genuss verspeisten sie die mitgebrachte Kürbissuppe.

„Erstaunlich, was du aus einem Kürbis zaubern kannst.“

„Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat.“

Maria ist eine wundervolle Frau, dachte er. Er war froh, dass sie ihm zur Seite stand – egal, was auch kommen mochte.

„Georg, vergiss‘ all die Sorgen einfach für den Augenblick. Was zählt, ist nur, dass wir uns haben.“

Er sah seine Frau an und nickte fast unmerklich. Auch die beiden Kinder nahmen die Kostbarkeit der Beziehung zwischen den beiden wahr, die sich besonders an jenem frühen Nachmittag deutlich zeigte. Christine war zwar die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, Heuschrecken auf der Wiese zu fangen, aber die kleine Meline hatte ihre Eltern, die sich im Arm hielten, die ganze Zeit über interessiert angeschaut, so als habe sie sagen wollen, dass sie so etwas später auch einmal haben wollte. Ehe sich Georg versah, war die Stunde, die Maria für den Besuch eingeplant hatte, bereits vorbei.

„Jetzt ist die Zeit tatsächlich schon um, Georg. Es ging so schnell. Dabei war es gerade so schön.“

„Das war es.“

„Georg?“

„Ja, mein Schatz?“

„Georg, wie wäre es, wenn du hier jetzt aufhörst und mit nach Hause kommst? Etwas Besseres als den Acker findest du überall.“

Er grinste sie an.

„Hieß das in dem Märchen nicht anders?“

„Märchen? Was für ein Märchen? Ist das denn nicht das wahre Leben?“

„Ach, Maria…“

„Georg, bitte.“ Selten zuvor waren sie sich so nahe gewesen wie jetzt gerade. Da hatte der Streit mit seinem Vater doch sein Gutes gehabt, dachte sie sich. „Georg, kommt mit mir heim, bitte.“

„Maria…“

„Bitte!“

„Wenn dieser unsägliche Tag gestern bloß nicht gewesen wäre. Mir läuft hier die Zeit davon. Bitte versteh‘ mich.“

Sie sah ihn enttäuscht an.

„Na schön. Ich verspreche, dass ich nicht bis zur Abenddämmerung arbeiten werde. Ich höre früher auf. Ist das in Ordnung? Nur zu gerne würde ich jetzt sofort mitkommen, das weißt du doch, oder?“

„Gestern warst du nicht so zögerlich.“

„Ich weiß. Aber ich hatte gestern die Arbeit auch schon gegen Mittag beendet. Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass du…“

„Mir hat es jedenfalls gefallen. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir das heute fortsetzen.“

„Bitte hab‘ Verständnis. Ich verspreche, dass ich so bald wie möglich nach Hause komme.“

Sie war ein wenig enttäuscht darüber, dass er versuchte, einen Kompromiss zu schaffen. Manchmal gab es eben nur Schwarz oder Weiß, und das Grau des Kompromisses zerstörte dann die Magie des Augenblicks, so wie jetzt gerade. Dennoch hatte sie Verständnis für ihn. Sie würde sich auch später noch darüber freuen, ihn in ihre Arme schließen zu können. Er stand unter Zeitdruck, das war ihr bewusst. Häufig schlug das Wetter im September schon um. Dann konnte es kühl und regnerisch werden und die Ernte zunichtemachen, wenn man zu spät dran war. Sie versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

„Ich verstehe dich, Georg. Und wenn du es mir versprichst, weiß ich, dass du es Ernst meinst. Du hältst deine Versprechen nämlich.“

„Ich muss an gestern denken. Als es draußen klopfte…“

„Gütiger Gott, wie habe ich mich erschreckt!“

„Dein Vater schien bemerkt zu haben, wobei er uns gestört hatte.“

„Es war mir so peinlich! Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.“

„Es schien ihn eher zu amüsieren als zu schockieren. Dabei war seine Tochter mit einem verheirateten Mann im Bett!“

„Gott sei Dank war es der Mann, mit dem ich verheiratet bin.“

Sie verfielen in ein albernes Kichern, das sich zu einem Lachen auswuchs, in das schließlich auch die beiden Töchter einfielen, ohne den Grund dafür zu verstehen. Als sie wieder Luft bekamen, warf Georg seiner Frau einen mahnenden Blick zu.

„Ich muss jetzt wirklich weitermachen, sonst werde ich hier nicht fertig. Und je eher ich weitermache, desto eher kann ich aufhören.“

Maria nickte und packte den Bollerwagen. Er hatte versprochen, früh nach Hause zu kommen, sagte sie zu sich. Als das Gefährt abfahrtbereit am Rand des Feldwegs stand, verabschiedete sich Georg von Maria in einem überschwänglichen Ton.

„Bis später, gnädige Frau!“

Er küsste sie und nahm die kleine Christine zum Abschied auf den Arm, während er einen Blick in den Bollerwagen warf, in dem Meline schlummerte. Sie war so müde gewesen, dass sie noch vor der Abfahrt nach Hause eingeschlafen war.

„Bitte komm bald heim.“

„Ich hab’s einer schönen Frau versprochen, wie du weißt. Solche Versprechen halte ich immer.“

„Ach so, nur schönen Frauen gegenüber? Ich muss mich also jeden Morgen genau im Spiegel betrachten, um mich zu vergewissern, ob du deine Versprechen mir gegenüber einhältst?“

„Ich liebe dich, Maria.“

Maria schlang ihm noch einmal die Arme um den Hals und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie dort weiterzumachen gedachte, wo sie gestern Mittag aufgehört hatten. Dann ging sie zum Bollerwagen und machte sich gut gelaunt auf den Weg zurück.

Im Weggehen warf sie Georg noch eine Kusshand zu. Warum mussten sich eigentlich immer erst solch unerfreuliche Dinge wie gestern ereignen, damit es zu jenen außergewöhnlichen Begegnungen kommen konnte? Das Leben war ein Auf und Ab, doch ihr schien, als sei das Tief des gestrigen Nachmittags bereits überwunden.

***

Der Bollerwagen mit Maria als Zugpferd setzte sich in Bewegung, die schlafende Meline im Wagen, ihre Schwester Christine daneben herum hüpfend wie ein Floh. Was für ein himmlisches Dreigestirn, dachte er versonnen, als er ihnen nachblickte, wie sie sich auf dem Feldweg allmählich entfernten.

Der Nachmittag begann so, wie der Vormittag verlaufen war, ehe die drei Damen aufgetaucht waren, die in der Lage gewesen waren, ihn durch ihre schiere Anwesenheit in eine heitere Stimmung zu versetzen. Dennoch war etwas anders als vor dem Besuch der drei. Er freute sich sogar darauf, das gestrige Stelldichein mit Maria fortzusetzen.

Er band das Pferd vom Baum, spannte es wieder vor den Pflug und gab dem Tier das Kommando zum Vorwärtsgehen. Begleitet vom leisen und während des Betriebs immerwährenden Quietschen der Achse setzte sich das Gefährt schwerfällig in Bewegung.

Die Eintönigkeit der Feldarbeit mit jenen beständig wiederkehrenden Richtungswechseln waren mit ihrem stetigen Auf und Ab genau wie das Leben, dachte er. Immer ging es auf und ab. Georg stand der Sinn nicht nach Arbeiten. Warum war er nicht mitgegangen, als seine Frau ihn gefragt hatte? Solange sie hier gewesen war, waren die nagenden Gedanken verschwunden, doch nun kehrten sie zurück. Vielleicht hätte er sie fragen sollen, ob sie hierbleiben könne, doch was hätte sie hier tun sollen, außer ihm bei der Arbeit zuzusehen?

Einen Augenblick kam er sich wie ein kleiner Junge vor, der nicht allein sein konnte. Vermutlich war es auch das gewesen, was ihn davon abgehalten hatte, Maria zum Bleiben anzuhalten. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, mit der Situation überfordert zu sein. Außerdem wollte er sich von niemandem nachsagen lassen, er sei nicht fleißig. Einen Vater wie Heinrich zu haben, hieß, dass man doppelt so fleißig sein musste wie andere, um sich aus der Sippenhaft zu befreien. Georg begann, sich selbst zum Weiterarbeiten zu ermuntern.

„Mach‘ es nicht wie dein Vater, Georg. Sei gewissenhaft und lass‘ dir nichts nachsagen. Zeig‘ jetzt keine Schwäche.“

Er spürte, wie die Worte, die er zu sich selbst sprach, Wirkung zeigten. Wenigstens diesen einen Acker würde er noch fertig pflügen. Er ließ den Blick über den noch unbearbeiteten Teil des Feldes schweifen; es würde noch gut und gerne drei Stunden dauern, bis er damit fertig sein würde. Noch drei lange Stunden. Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Kurz nach zwei.

Er versuchte, schneller zu arbeiten, aber das Pferd hatte sein eigenes Tempo, und er konnte ja schwerlich die Position mit dem Pferd tauschen. Es dauerte eben genauso lange, wie es dauerte. Er wusste genau, dass die Verlockung, die zu Hause wartete, nicht mehr so unwiderstehlich gewesen wäre, wenn er die Arbeit einfach abgebrochen hätte. Es wäre der Beigeschmack der Drückebergerei in ihm hochgekommen. Nein, er wollte nicht wie sein Vater sein.

Sein Blick ging zum Himmel; es gab dort mehr Wolken als am Vormittag. Es war nicht ungewöhnlich, dass es sich nachmittags zuzog. Die Wolken hatten ein unschuldiges Weiß und würden ihm bei der Arbeit Schatten spenden. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass das Pferd nun, da die Sonne hinter den Wolken verschwunden war, etwas schneller gehen konnte. Das Tier hingegen schien gegen diese Idee resistent und zog mit immer gleichen, langsamen Schritten den schweren Pflug hinter sich her.

„Drei Stunden noch. Es muss eben sein.“

Nach einer Stunde zogen Wolken am Horizont auf, die nicht mehr so unschuldig weiß wie die Vormittagswolken waren. Georg meinte zu erkennen, dass sie Regen bringen würden, also war Eile geboten. Wenn der Boden nass werden würde, würde das Pflügen noch beschwerlicher werden. Er trieb das Pferd stärker an, doch die Geschwindigkeit der Schritte des Tiers erhöhte sich nur unmerklich. Er hasste das Arbeiten unter Zeitdruck. Eine heftige Windböe pfiff über ihn hinweg. Wie lange brauchte er wohl bis nach Hause, wenn er die Arbeit abbrechen würde? Wenn er alles Gerät auf dem Acker stehen und liegen lassen würde, sollte er es zu Pferd in zehn Minuten schaffen. Kurz durchzuckte ihn der Gedanke, die Arbeit zu beenden. Er kämpfte einen Augenblick mit sich selbst und verwarf die Idee.

Wenn er das Pflügen heute nicht zu Ende bringen würde, würde er möglicherweise wertvolle Zeit einbüßen. Denn wenn der lehmige Boden durch den Regen schwer werden würde, wäre das Pflügen kaum mehr möglich und er würde abwarten müssen. Er erinnerte sich an das, was Otto in derlei Situationen zu sagen pflegte: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Mit seiner zupackenden Art hatte es Otto weit gebracht – ganz anders als Georgs Vater.

Georg war sich darüber bewusst, dass er selbst in jungen Jahren schon vieles erreicht hatte, das sein Vater niemals im Leben erreichen würde, selbst wenn dieser sich irgendwann eines Besseren besinnen und mit dem Trinken aufhören würde. Dennoch nagte etwas auf einer tiefen inneren Ebene an ihm, denn trotz seines eigenen Bemühens, ein ebenso vorbildlicher Bürger wie sein Schwiegervater zu sein, gab es den familiären Makel. Georg konnte die Tatsache, dass Heinrich sein Vater war, nicht ungeschehen machen – abgesehen davon, dass er dies auch nicht wollte. Nun, da er neue Hoffnung geschöpft hatte, dass sein Vater seinem Leben vielleicht doch noch eine positive Wendung geben würde, lag Georg viel daran, noch einmal das Gespräch mit seinem Vater zu suchen. Doch auch der gerade entstandene Hoffnungsschimmer, dachte Georg, konnte einem endgültigen Zustand weichen – im schlimmsten Fall durch Heinrichs Tod.

Georgs Gedanken kehrten zur Arbeit zurück. Er ließ den Blick über das unfertige Feld schweifen und sah vor seinem geistigen Auge seine Nachbarn miteinander tuscheln, die sich gegenseitig zuzuflüstern schienen, dass Georg dem ersten Eindruck zum Trotz eben doch nur der Sohn von Heinrich sei und deshalb das Feld verkommen ließe. Er nahm kaum wahr, dass erste Regentropfen fielen und der Himmel sich bedrohlich zu verdunkeln begann. Er blickte kurz zum Himmel, dann zückte er seine Taschenuhr. Sie zeigte Punkt vier. Er dachte an Maria und ihre Andeutungen. Ein kurzes Lächeln überflog sein Gesicht.

„Noch eine Stunde. Aber in dieser Stunde… Ich schaffe das noch!“

Er war wie besessen von dem Gedanken, es besser als sein Vater zu machen. Auf gar keinen Fall wollte er sich diese Blöße geben, dass man ihm etwas hätte nachsagen können. Er beruhigte sich damit, dass dies nicht das erste Unwetter sein würde, dem er trotzen würde.

„Verdammt!“, schrie er in den Regen, der begonnen hatte, in sein Gesicht zu peitschen. Erst als er einen Blitz am Horizont hatte einschlagen sehen, fuhr er zusammen und kam schlagartig zur Besinnung.

„Ein Gewitter!“

Er sah sich um und überlegte kurz. Weit und breit nur offenes Feld, es gab keine geschützte Stelle. Doch wer wusste, ob das Gewitter überhaupt hierher ziehen würde? Vielleicht zog es ja in eine andere Richtung ab, und dann würde er sich dafür verfluchen, wie ein Hasenfuß gehandelt zu haben. Er sprach sich selbst Mut zu. Es würde schon nichts passieren, und in einer Stunde würde er zu Hause bei seiner Frau sein. Jetzt aber ging die Arbeit vor.

Der Himmel verdunkelte sich immer mehr. In dem Maß, in dem der Himmel sich schwarz einfärbte, stieg Verunsicherung in Georg auf, ob er tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er bekam es mit der Angst zu tun. Doch was sollte er tun? Sollte er das Pferd ausspannen und nach Hause reiten? Bis er zu Hause angekommen sein würde, wäre das Gewitter längst vorüber gezogen. Er wog die Entscheidung, ob er weitermachen oder aufhören solle, einen Moment ab und entschloss sich, die Arbeit fortzusetzen. Schließlich war es nicht das erste Gewitter, dem er oder andere Bauern sich aussetzten, und ihm war kein Fall bekannt, in dem tatsächlich jemandem etwas zugestoßen war.

Ein weiterer Blitz schlug ein, nur etwa einen halben Kilometer von Georg entfernt. Mit einem Mal stieg Panik in ihm auf. Was, wenn er jetzt doch in Gefahr war? Hatte es nicht seinen Großvater Paul auf ähnlich tragische Art und Weise von jetzt auf gleich aus dem Leben gerissen? Und hatten ihm nicht immer alle gesagt, er sei wie Paul? War es am Ende gar eine Art Todessehnsucht, die sie verband? Was sonst hielt ihn hier auf diesem Feld fest? Einer Sache war er sich sicher: seinem Großvater auf eine ähnlich tragische Art in den Tod folgen, das wollte er nicht.

Ein Blitz schlug etwa zweihundert Meter von ihm entfernt ein und ließ den Boden erzittern. Das Pferd fing an zu scheuen und ließ sich nicht mehr beruhigen. Offenbar, dachte er beängstigt, spürte es die Gefahr. Er versuchte, das Tier vom Geschirr zu befreien, doch es misslang, da das sonst so sanfte Tier nicht in den Griff zu bekommen war. Er musste etwas tun.

Einem Impuls folgend lief er los und ließ Pferd und Pflug auf dem Feld zurück. Er spürte, dass er um sein Leben lief und rannte so schnell er konnte, bis die Lungenflügel vor Schmerz brannten. Keuchend lief er weiter. Er durfte jetzt nicht stehenbleiben. Er musste weg von hier.

Er rannte über den Acker in Richtung des angrenzenden Feldweges, begleitet von weiteren Blitzen, die in der Nähe einschlugen. Eine unbeschreibliche Panik ergriff ihn. Er spürte, dass der Tod in unmittelbarer Nähe lauerte. Wenn der Sensenmann einen erst einmal im Visier hatte, konnte man dann noch vor ihm davonlaufen?

In Panik sah er sich immer wieder um, so als ob er den Tod ausfindig und einen großen Bogen um ihn herum machen könne, falls er ihn irgendwo entdeckte. Irgendwo auf diesen Feldern schlich er umher und war immer gerade dort, wo der Blitz einschlug. Zwischen den Blitzen schien er getarnt durch einen Mantel, der ihn unsichtbar machte.

Mit einem Mal meinte er, eine Stimme zu vernehmen, eine Stimme fast so wie seine eigene Stimme.

„Lauf, Georg, lauf! Lauf um Dein Leben! Lauf!“

War die Stimme in seinem Kopf, oder war wirklich jemand in der Nähe, der ihn anzuspornen versuchte? Er sah sich um. Da war niemand. Woher kam die Stimme? Vor Panik blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Kopf versuchte den Beinen das Weiterlaufen zu befehlen, doch die lähmende Angst in ihm verhinderte eine Bewegung.

Warum nur hatte er wieder nicht auf seine Frau gehört, warf er sich vor. Erst gestern hatte sie ihm gesagt, dass er nicht zu seinem Vater gehen solle. Er hatte es in den Wind geschlagen und sich selbst eine schlaflose Nacht beschert. Heute hatte sie ihn gebeten, mit nach Hause zu kommen. Er hatte allen Verlockungen zum Trotz auch das ausgeschlagen, und nun stand er hier, der dunklen Gefahr ins Auge blickend. Er könnte jetzt zu Hause im warmen Bett liegen. Mit Maria. Stattdessen war er hier, in dieser überaus gefährlichen Situation. Wieder hörte er die Stimme.

„Lauf, Georg!“

Es hörte sich nicht so an, als sei es eine Stimme in seinem Kopf. Er sah sich erneut um und konnte wieder niemanden entdecken.

Bis zum Dorf war es noch etwa ein Kilometer. Er lief, und seine Lungen brannten höllisch. Er war dieses Tempo nicht gewohnt. Er lief buchstäblich um sein Leben. Es konnte doch nicht sein, dass sein Leben auf diese Art und Weise enden würde. Es konnte doch nicht einfach hier und jetzt enden. Seine Frau wartete doch zu Hause auf ihn, und auch seine beiden Töchter. Er war doch verabredet.

Er rannte über eine Anhöhe und sah die Häuser des Ortes in greifbarer Nähe. Nur noch ein halber Kilometer, spornte er sich an. Es war fast geschafft.

***

Voller Bangen wartete Maria auf Georgs Rückkehr. Er hatte versprochen, um fünf Uhr zu Hause zu sein. Sie hörte die Kirchturmglocken halb fünf schlagen. Sie hatte das mächtige Gewitter aufziehen sehen, und sie hatte kurz überlegt, loszulaufen, um ihn nach Hause zu holen, denn sie wusste, was für ein Dickschädel er sein konnte. Letztlich hatte sie sich dagegen entschieden. Sie hatte gesehen, welch schwarze Wolken am Himmel aufgezogen waren, doch was hätte sie tun sollen? Ein solches Unwetter dauerte erfahrungsgemäß nie sehr lange, und noch ehe sie bei Georg angekommen sein würde, wäre die Gefahr ohnehin vorüber gewesen.

Als jedoch die ersten Blitze einschlugen, wurde ihr Himmelangst. Was, wenn ihm etwas zustieße? Durfte man das Schicksal durch leichtsinniges Verhalten so sehr herausfordern? Sollte sie doch noch loslaufen, um ihn nach Hause zu holen? Sie war hin und her gerissen, denn sie spürte die Gefahr, in der er sich befand. Ihr Kopf versuchte, das Herz zu beruhigen. Bei einem solchen Wetter loszulaufen, wäre zu unvernünftig gewesen. Also blieb sie, wo sie war.

Die Ängste ließen nicht nach, und sie zermarterte sich den Kopf und überlegte hin und her, was sie tun konnte. Trotz allen Nachdenkens kam sie zu keinem sinnvollen Ergebnis. Georg hätte die Arbeit abbrechen und längst nach Hause kommen sollen. Sie war wie gelähmt und versuchte, die Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben und sagte leise zu sich selbst:

„Herrgott, Maria! Stell‘ dich nicht so an. Es wird schon nichts passieren!“

Sie sagte es und spürte, dass es ihr keine Sicherheit gab. Sie fühlte die Bedrohung und die Gefahr, in der sich ihr Mann befand. Und sie spürte die Angst, die ihr Mann um sein Leben hatte – oder war es ihre eigene Angst, ihn zu verlieren? In ihrem Kopf rasten die Gedanken, unsortiert und chaotisch, in ihrem Bauch waren dunkle und bedrohliche Gefühle. Kopf und Bauch lieferten sich ein wildes Duell zwischen Hoffen und Bangen.

Sie versuchte sich wieder und wieder einzureden, dass das Gewitter Georg nichts anhaben würde, denn meist war die Realität in einer solchen Situation nicht so schlimm wie die Vorstellung, die sich jemand darüber machte, der eine geliebte Person in Gefahr wusste. Doch hieß es nicht immer, wer sich in Gefahr begebe, komme darin um?

Ein weiterer Blitz schlug ein, und Maria spürte, dass Georg in Todesgefahr war. Ihre Gedanken zum Tod, der einen in Gefahr ereilen konnte, hallten in ihrem Kopf nach. Wie zum Trotz sagte sie:

„Es hat sich gewiss längst in Sicherheit gebracht.“

Mit einem Mal fühlte es sich seltsam hohl an. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ihre Gedanken rotierten, und mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass ihr Mann zurückkehrte, nahmen die düsteren Gedanken zu.

„Warum kommt er denn bloß nicht heim? Er müsste längst zurück sein. Es kann doch nicht sein! Es kann nicht sein! Es darf nicht sein!“

Ihre Stimme wurde laut und hysterisch, und ihre beiden Töchter, die die Stimmung ihrer Mutter deutlich wahrnahmen, fingen an zu weinen. Sie rannte zum Fenster und riss es auf. Noch immer goss es wie aus Kübeln. Dort, wo sie noch am Nachmittag mit ihrem Mann die Sonne genossen hatte, hingen nun dunkle, gewitterschwere Wolken.

Ihre Gedanken rasten. Impulsiv rannte sie in den Flur, warf sich einen dünnen Mantel über, nahm Meline auf den Arm und stürzte, Christine hinter sich her ziehend, nach draußen in den Regen. Sie musste zu ihrem Vater. Er würde ihr helfen.

Triefend nass, mit der wie am Spieß schreienden, pitschnassen Meline auf ihrem Arm, kam sie am Haus ihres Vaters an. Bange fragte sie sich, ob ihre kleine Tochter wahrnahm, wie es um Georg stand. Ihr Vater öffnete die Tür und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Herr im Himmel! Was ist denn mit euch?“

„Ich… Georg“, stammelte Maria und sah vage in die Richtung, in der sie ihren Mann vermutete.

Otto folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn. „Ist er da oben?“

„Er ist…“, stockte sie, „nicht gekommen.“

„Es ist doch noch früh am Tag. Er wird sich irgendwo untergestellt haben. Das Gewitter ist bald vorüber. Vielleicht arbeitet er schon wieder.“

„Ich… Vater… Ich habe ein ungutes Gefühl. Er wollte früh zurückkommen.“

„Wann?“

„Um fünf.“

Otto sah zur Uhr und zuckte mit den Schultern. „Dann hat er ja noch ein paar Minuten Zeit. Du kannst hier auf ihn warten. Wenn er vom Feld zurückkehrt, kommt er hier vorbei. So wie immer“, sagte er gelassen.

***

Gerade, als Georg spürte, wie sich ein Gefühl der Sicherheit in ihm auszubreiten begann, schlug das unberechenbare Schicksal zu. Der letzte Blitz, der an diesem Nachmittag auf den Feldern nahe Trais-Horloff einschlug, war der Blitz, der Georg ins Jenseits beförderte.

Die letzten Sekundenbruchteile seines Lebens, sie liefen in seinem Kopf wie im Zeitlupentempo ab. Georg spürte mit einem Mal eine Gewissheit, was passieren würde. Vor Georgs innerem Auge lief, während die Zeit unendlich langsam zu vergehen schien, gleichzeitig in Windeseile etwas ab: Der Film des Lebens, eine Aneinanderreihung von Ereignissen seines Lebens, verdichtet in ein unendlich kleines Zeitfenster.

Er sah sich auf dem Schoß seiner jungen, hübschen Mutter, er sah seinen Vater vorbeihuschen und mit den Achseln zucken, so wie er dies oft tat, wenn er mit etwas, das Georg tat, nicht einverstanden gewesen war. Er sah seine erste Freundin vor sich, ihr warmes Lächeln. Seinen ersten Kuss. Er sah die Augen der Frau, die seine Ehefrau werden würde. Seine Hochzeit. Seine Tochter Christine. Die Geburt seiner Tochter Meline. Er sah Otto mit all seiner Lebensweisheit. Und dann sah er Paul. Paul, den er doch gar nicht kannte. Und doch war er sicher, dass es Paul war, begleitet vom herannahenden Blitz und dem, der ihm direkt folgte: dem Sensenmann.

Ob das Schicksal zuvor bereits alles besiegelt hatte? Oder aber hatte es abgewartet, ob Georg weglaufen würde oder nicht – und wenn er weglief, wohin? War der Tod unabwendbar gewesen, weil die Bestimmung es so vorsah?

Als der Blitz in Georgs Körper fuhr, wurde sein Leib meterweit durch die Luft geschleudert, und der leblose Körper blieb dort liegen, wo Georg den meisten Teil seines Lebens verbracht hatte. Auf einem Acker.

***

Es war kurz nach fünf, als das Gewitter endgültig abebbte. Maria war inzwischen in heller Aufregung. Otto nahm sie in den Arm; eine spontane Geste väterlicher Zuneigung, die – wie ihm in jenem Moment bewusst wurde – in all den Jahren viel zu kurz gekommen war.

„Er kommt sicher gleich heim, mein Kind.“

Der Trost, den diese Worte spenden sollten, blieb aus. Irgendetwas in ihr wusste es besser.

„Papa, bitte schick jemanden los, um nachzusehen. Da stimmt etwas nicht! Georg ist sonst so zuverlässig, und er hatte mir versprochen, dass er um fünf zurück ist.“

„Er ist doch gerade ein paar Minuten überfällig. Er wollte sicher die Zeit ausnutzen, die bis zur Dämmerung bleibt. Du weißt ja, die Ernte. Und du weißt, wie gewissenhaft er ist. Wahrscheinlich arbeitet er jetzt, wo das Gewitter vorüber ist, schon wieder wie ein Besessener, während wir uns hier unnötigerweise Sorgen machen. Er wird versuchen, die Zeit wieder gut zu machen, die er durch das Gewitter verloren hat.“

„Papa, ich war heute Nachmittag bei ihm auf dem Feld. Er hatte versprochen, um fünf Uhr zurück zu sein. Fest versprochen.“

„Er ist ein erwachsener Mann, er kann selbst entscheiden, was er tut.“

„Schon. Nur heute nicht. Er wollte pünktlich kommen, ich weiß das genau. Ich kenne ihn, ich weiß, dass ich mich nicht immer darauf verlassen kann, dass er tut, was er mir sagt. Aber in diesem Fall bin ich mir sicher. Ganz sicher. Wenn er etwas verspricht, dann hält er es auch. Da stimmt etwas nicht.“

„Ach Kind, jetzt steigere dich doch da in nichts hinein.“

„Bitte Vater. Tu‘ mir den Gefallen, lass jemanden nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Und wenn Georg wohlauf sein sollte, werde ich dich nie wieder um so etwas bitten, versprochen.“

„Mach‘ dich doch jetzt nicht so verrückt.“

„Bitte, Vater. Bitte.“

Schließlich schickte Marias Vater ein paar Dorfbewohner los, um nach dem Rechten zu sehen. Es dauerte nur etwa fünfzehn Minuten, bis sie die grausige Entdeckung machten.

Sie fanden die Leiche von Georg auf dem Acker, etwa fünfhundert Meter vom Dorf entfernt. Der Blitz musste ihn direkt getroffen haben, denn sein Leichnam wies zahlreiche Verbrennungen auf. Der Geruch des Todes schien noch in der Luft zu liegen.

***

An jenen herzzerreißenden Schrei von Maria, als sie Gewissheit über den Tod ihres Mannes erlangte, konnten sich viele im Dorf noch lange Jahre erinnern.

Das unhörbare Geräusch hingegen, als ihr Herz innerlich zerbarst, hatte niemand wahrnehmen können.

Urgroßherz

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