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1. Einführung – eine handlungsorientierte Grundlage für Theorie und Praxis
1.1. Ziel und Inhalt des Buches
Tourismus ist heute anerkanntermaßen zusammen mit der Telekommunikation und der Informatik sowie dem Gesundheitswesen eine der am raschesten wachsenden internationalen Branchen. Ebenso wie die Telekommunikation und die Informatik prägt der Tourismus unser tägliches Wirtschaftsleben. Weltweit ist derzeit jeder dreizehnte Arbeitnehmer direkt oder indirekt in der Tourismusbranche tätig (d.h. im Tourismus und seinen vor- und nachgelagerten Stufen sind rund 225 Mio. Leute angestellt, vgl. WTTC 2009).
Allein in der Schweiz mit ihren 7,6 Mio. Einwohnern werden innerhalb eines Jahres rund 70.7 Mio Reisen ohne Übernachtung und 18.8 Mio Reisen mit Übernachtungen unternommen (vgl. CIA World Factbook 2009, BfS 2007). Dank der persönlichen Begegnung mit Geschäftspartnern kann Vertrauen aufgebaut werden, das erst eine arbeitsteilige Wirtschaft mit Unternehmenskooperationen oder virtuellen Unternehmen funktionieren lässt. Bezeichnenderweise ist deshalb trotz modernster Kommunikationstechnologien der Bedarf an Geschäftsreisen nicht gesunken. Aufgrund der Globalisierung mit dem Zwang, sich als Unternehmen auf Kernkompetenzen zu konzentrieren und damit zu kooperieren, nimmt die Bedeutung des Faktors Vertrauen zu. Dieses kann nur durch persönliche Begegnung entstehen, was Reisen bedingt. Umgekehr erfüllen Freizeitreisen wichtige psychische und physische „Wiederherstellungsfunktionen”, die erst den heute notwendigen intensiven Arbeitseinsatz ermöglichen.
Tourismus ist als eigentlicher Lebensbereich auch ein wichtiger gesellschaftlicher und kultureller Faktor (vgl. Bieger/Laesser 2009, Bieger/von Rohr 2000, Steinecke 2000, Hinterhuber/Pechlaner/Matzler 2001 oder zur Kultur auch Keller 2000, Thiem 1994). Viele Regionen bleiben nur dank den Verdienstmöglichkeiten im Tourismus weiter besiedelt (vgl. auch Bieger et al. 2004). Erfahrungen in den Ferien werden gerne auch an den Wohnort übernommen, über Souvenirs, welche die Wohnstube gestalten, neue Freizeitkleider oder auch neue Ess- und Trinksitten. Begegnung mit anderen Kulturen schafft ein vertieftes Verständnis, das sich auch im täglichen Verhalten gegenüber Fremden auswirken kann. Auf Reisen kann Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Wertegruppe erlebt werden. Tourismus hat deshalb eine wichtige Funktion in der Strukturierung unserer Gesellschaft. Ähnlich wie bei der Telekommunikations- oder der Informatikindustrie dringen die Wirkungen des |17◄ ►18| Tourismus so tiefer in unser tägliches Leben als die Wirkungen anderer Branchen.
Tourismus ist jedoch auch ein wirtschaftliches Phänomen, an dem sich paratypisch wichtige Erscheinungen und Entwicklungen leicht erkennbar aufzeigen lassen. So ist der Tourismus:
• eine Netzwerkbranche, in der sowohl Kunden- wie Produzentennetzwerke eine wichtige Funktion haben (vgl. Schräder 2000) und in der Erscheinungen wie die Durchsetzung von Standards, das Problem der steigenden Grenzerträge und die Problematik der Grenzkostenpreissetzung mit ruinösem Wettbewerb (vgl. auch Shapiro/Varian 1999), die heute besonders auch im Informatik-, Telekommunikations- oder auch im Airlinebereich aktuell sind, vorweggenommen wurden (vgl. auch zur Tourismusökonomie Freyer 2009);
• eine Dienstleistungsbranche, in der wesentliche Besonderheiten von Dienstleistungsprodukten wie die Bedeutung des persönlichen Kundenkontaktes („Moment of Truth”, vgl. u.a. Lovelock und Wirtz 2007), die Intransparenz, der externe Faktor wie Mitkunden oder die Mitwirkung von Kunden (vgl. Bruhn 2008) an der Leistungserstellung, aber auch die Bedeutung der Gleichzeitigkeit von Konsum und Produktion (Uno Actu Prinzip) (vgl. Bieger 2000a, Lehmann 1993) stark ausgeprägt sind;
• ein Informations- und Kommunikationsgeschäft, bei dem Produkte oft erst durch Kommunikation und Information entstehen oder nutzbar gemacht werden können (vgl. Buhalis/Law 2008; Buhalis 2002).
TOURISMUS
Entsprechend hat der Tourismus heute in der wissenschaftlichen Ausbildung einen hohen Stellenwert, der zum Teil weit über seine wirtschaftliche Funktion hinausgeht. So bestehen im deutschsprachigen Raum an wirtschaftswissenschaftlich orientierten Fakultäten von rund 10 Universitäten Kurs-Angebote im Bereich Tourismus und entsprechende Lehrstühle. Die Zahl der entsprechenden Studiengänge oder Vertiefungsmöglichkeiten auf Fachhochschulstufe ist sogar stark steigend. Im Moment kann im deutschsprachigen Raum im Bereich der staatlichen Schulen von rund 25 Studiengängen ausgegangen werden. Ebenfalls eine große Dynamik besteht im Bereich der Höheren Fachschulen (vgl. Anhang 1).
Viele der Absolventen dieser Studienangebote arbeiten nach ihrer Ausbildung auf der Basis des im Tourismusstudium erworbenen konzeptionellen und theoretischen Wissens und der praktischen Erfahrung speziell in den Bereichen Dienstleistungsmanagement, Marketing und Kommunikation erfolgreich|18◄ ►19| in anderen Wirtschaftsbereichen (vgl. Bieger/Laesser 2001, Bieger /Laesser/Boksberger 2005). Wichtige „Zielbranchen“ für ehemalige Mitarbeitende aus dem Tourismus sind in der Schweiz die Finanzbranche, die Beratung und die öffentliche Verwaltung.
Eine zusätzliche Bedeutung als Forschungsobjekt gewinnt der Tourismus aufgrund seiner Interdisziplinarität. Er eignet sich auch in besonderem Maße für die Erfassung und Anwendung von Erkenntnissen von Basiswissenschaften in interdisziplinären Zusammenhängen, zum Beispiel in den Bereichen Regionalwirtschaft, Volkswirtschaftslehre, Dienstleistungsmanagement, Betriebswirtschaftslehre, Soziologie, Psychologie, Kulturwissenschaften, Geografie und Ökologie. Umgekehrt vermag die Tourismusforschung zur Entwicklung dieser Kerndisziplinen beizutragen, indem an einem motivierenden und für das heutige Leben außerordentlich relevanten Forschungsobjekt Konzepte und Modelle dieser „Basiswissenschaften“ überprüft und weiter entwickelt werden. So ist beispielsweise das aufgrund des notwendigen Informationsbedarfes und der Kleinstrukturiertheit der Branche anspruchsvolle Informationsmanagement ein Grund, dass sich die Wirtschaftsinformatik gerne mit dem Phänomen Tourismus befasst: dies heute nicht zuletzt auf dem Hintergrund von mobilen Kommunikationsgeräten, die ein völlig neues, „emanzipiertes“ Reiseverhalten ermöglichen (vgl. Beritelli/ Schuppiser 2006).
FORSCHUNGSPROZESS
In der chronologischen Abfolge der Erforschung eines Phänomens lassen sich idealtypisch drei wichtige Stufen unterscheiden: die Deskription/Exploration mit ihrer wichtigen Definitions- und Strukturierungsfunktion, die Explanation mit der Modellbildung und der Erklärung von Wirkungen und Zusammenhängen, der Überprüfung dieser Modelle und einzelner impliziter Wechselwirkungen durch empirische Forschung sowie anwendungsorientiert darauf aufbauend die Präskription mit der Entwicklung von Handlungsempfehlungen und Vorgehensweisen auf der Basis der getesteten Modelle (vgl. auch Kromrey 1998). Dabei ist die Abfolge dieser Schritte keineswegs als geschlossener sequentieller Ablauf zu sehen. Vielmehr sind gerade in einer anwendungsorientierten Wissenschaft Rekursionen zu erwarten. Neue Erkenntnisse der Empirie führen zu Anpassungen in der Modellbildung, die später auch zu einer Anpassung des definitorischen Rahmens führen können. Genau so können Anwendungen in der Praxis zu Erfahrungen führen, die eine Überprüfung der zu Grunde liegenden Theorie erfordern (vgl. Tomczak 1992 oder Ulrich 1984). Typischerweise war dies, wie später zu zeigen sein wird, gerade auch bei der Definition des Begriffes Tourismus der Fall: Die |19◄ ►20| Notwendigkeit, exakte Definitionen für die Erforschung beispielsweise der wirtschaftlichen Effekte des Tourismus zu haben, führte zur Notwendigkeit, die Definition von „Tourismus“ laufend zu verfeinern.
Bei der Modellbildung im Tourismus stand immer der Systemansatz im Vordergrund (vgl. auch Kaspar 1996, 11ff.; zur Systemtheorie allgemein Ulrich 1968, 105ff., Goeldner/Ritchie 2008, Müller 2007, Kozak/Gnoth/Andreu 2009). Waren die ersten Arbeiten zur Tourismusforschung von einfachen Ursache /Wirkungsparadigmen geprägt, wurde aufgrund der Komplexität des Phänomens und seiner breiten Definition schon bald eine Darstellung als Netzwerk Standard. Wesentliche Erweiterung fand dieses Modell durch seine Dynamisierung mit der quantitativen Analyse dieser Wechselwirkungen inkl. Selbstverstärkungseffekten in Form von Papiercomputern (vgl. u.a. Müller 1986) oder Sofware zur Berechnung von systematischen Wechselwirkungen wie im Bereich der sozialen Netzwerkanalyse (vgl. u.a. Scott et al. 2008).
EVOLUTION DER TOURISMUSFORSCHUNG
Aufgrund der vielschichtigen Bedeutung des Tourismus und seiner wichtigen didaktischen Funktion als Studienobjekt sind schon früh Standardwerke für die „Tourismuslehre“ entstanden. Mit der gleichzeitigen, 1942 erfolgten frühen Gründung von zwei Forschungsinstituten an den Universitäten Bern und St. Gallen nahm die Schweiz eine gewisse Pionierfunktion ein. Obwohl im englischsprachigen Raum (vgl. u.a. Goeldner/Ritchie/McIntosh 2000) und auch im deutschsprachigen Raum (vgl. Freyer 1993) Standardwerke zum Thema Tourismus erschienen sind, lassen sich aufgrund der lückenlosen Historie die Entwicklungsschritte der Tourismusforschung idealtypisch an den in der Schweiz erschienenen Standardwerke nachvollziehen:
• Hunziker/Krapf 1942: Grundriss der Allgemeinen Fremdenverkehrslehre: Wesentlicher Beitrag zur Definition und zur Strukturierung des Phänomens Tourismus, erste moderne Tourismusdefinition und Strukturierungsansätze zur Nachfrage und zum Produkt.
• Kaspar 1975: Die Fremdenverkehrslehre im Grundriss: Wesentlicher Beitrag zur Modellbildung im Tourismus auf der Basis der Systemtheorie, Entwicklung der Grundlagen für eine systemorientierte Betrachtung des Phänomens Tourismus.
• Krippendorf 1986: Alpsegen – Alptraum: für eine Tourismus-Entwicklung im Einklang mit Mensch und Natur: Wesentlicher Beitrag im Sinne eines explorativen bis präskriptiven Ansatzes, Aufzeigen der Entwicklung im Tourismus unter Nutzung systemorientierter Modelle mit Warncharakter |20◄ ►21| und Ansätzen für eine neue Tourismusentwicklung. Zudem werden die Tourismussysteme dynamisiert.
• Müller 1997: Freizeit und Tourismus – Einführung in Theorie und Politik: Wesentlicher aktualisierter Beitrag unter Einbezug des Phänomens Freizeit.
Abbildung 1: Differenzierung des vorliegenden Buches – Entwicklung der Tourismusforschung
Das hier vorgelegte Buch folgt diesen Entwicklungslinien. Im Sinne der St. Galler Tradition soll auf systemischen Grundlagen ein Fach- und Lehrbuch für Praxis und Unterricht geboten werden. Mit einer überblickbaren Zahl von Konzepten, Modellen und Strukturen soll eine Grundlage für die wissenschaftliche Analyse und Interpretation der Erscheinungen der Praxis geschaffen werden. Gleichzeitig legt es jedoch Wert auf den Einbezug moderner theoretischer Grundlagen.
In diesem Sinne versucht es, an die Tourismuslehre im Grundriss von Prof. Dr. h.c. C. Kaspar, die im Zeitraum von 1975 und 1996 in fünf Auflagen erschienen ist, anzuknüpfen. Es unterscheidet sich von seinem „Vorgängerwerk“ durch
• den Fokus auf die immer wichtigeren Veränderungs- und Transformationsprozesse,
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• die in der Folge theoretische Orientierung an der Systemlehre der „dritten Generation“ mit dem Konzept der selbstreferentiellen Systeme, die sich in ihrer Struktur ständig verändern,
• die Betonung des wissenschaftlichen Arbeitens im Tourismus.
Die entsprechende Positionierung des Buches ist auf dem Hintergrund der Entwicklung der Systemtheorie (vgl. Abschnitt 3.5) zu sehen. Es will in diesem Sinne die Grundlagen für ein neues konzeptionelles Verständnis für die Tourismusforschung und Tourismuspraxis legen und eine neue, aktualisierte modelltheoretische Grundlage für den Tourismus schaffen.
1.2. Aufbau des Buches
Dieses Buch legt großen Wert auf die Modellbildung und deren forschungsbasierte Überprüfung. In dieser Einführung wird deshalb bereits auch eine vereinfachte Übersicht zur Methodik in der anwendungsorientierten Forschungsarbeit gegeben. Danach soll in Kapitel 2 das Phänomen Tourismus sauber definiert und in seinem Wirkungsrahmen in Praxis und Theorie abgegrenzt werden. Kapitel 3 legt die Modellgrundlage in Form eines „selbstreferentiellen“ Tourismussystems dar. Die nachfolgenden Kapitel behandeln die einzelnen Subsysteme mit ihren Wechselwirkungen.
Kapitel 8 aggregiert die Erkenntnisse der Analyse der einzelnen Subsysteme, indem die Wechselwirkungen des System Tourismus als ganzes zu seinen Umwelten beschrieben werden. In Kapitel 9 werden auf dieser Grundlage Erkenntnisse zur Entwicklung des Tourismus und zu deren Steuerung mit den Instrumenten der Tourismuspolitik aufgezeigt.
Im Sinne eines forschungsorientierten Buches werden in jedem Kapitel in Form eines Kurzfalles konkrete, anwendungsorientierte Forschungsprojekte dargestellt. Diese sollen die Praxis zu Anwendung wissenschaftlicher Methoden animieren und relevante Resultate aufzeigen. Für den Unterricht und die Theorie sollen sie Beispiele für den Aufbau eigener Projekte, beispielsweise auch für Seminar- und Diplomarbeiten sein.
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Abbildung 2: Aufbau des Buches
1.3. Wissenschaftliche Methoden der Tourismusforschung und des Tourismusmanagements
Die Tourismuspraxis ist in den traditionellen Tourismusländern Europas durch eine außerordentliche Kleinstrukturiertheit geprägt. Entsprechend fehlten die notwendigen konzentrierten Mittel für die Entwicklung von modernen Managementkonzepten, die Durchführung von professionellen Forschungsarbeiten beispielsweise zu Fragestellungen des Konsumentenverhaltens oder auch für die Anstellung wissenschaftlich ausgebildeter Manager (zu den typischen KMU-Spezifika vgl. u.a. Pleitner 1991 oder im Tourismus Weiermair/ Wöhler 1998, aktuell auch Fueglistaller 2008). Wie in vielen ähnlichen Branchen (vgl. Landwirtschaft oder vor ca. einer Generation der Finanzbereich) entwickelte sich deshalb eine gewisse Skepsis der Praxis gegenüber wissenschaftlicher Vorgehensweise und Arbeitsweise. Oft wurde sogar bewusst in der politischen Diskussion eine Kluft zwischen Theorie und Praxis postuliert (vgl. auch Bieger 2000b).
Eine ganz andere Entwicklung nahm die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis z.B. in Nordamerika. Die schwächere Bindung zum Standort|23◄ ►24| und zum Wohnort und entsprechend die geringere Bereitschaft der Unternehmer, an wenig einträglichen Tourismusanlagen festzuhalten, erleichterte die Konsolidierung einer fragmentierten Branche. So wurden in den 90er Jahren beispielsweise eine große Zahl von Skigebieten von den Gründern aufgrund der lukrativen Angebote der damals auftauchenden Skigebietskonzerne, wie der American Skiing Company oder Intrawest, verkauft. Oft wurden auch die Tourismusanlagen erst später und damit bereits von großen Konzernen entwickelt. Weniger geeignete Standorte werden oft schlicht aufgegeben. Dies führt zu einer fortschreitenden Professionalisierung und größeren Unternehmensstrukturen. Dies wiederum erlaubt grössere Investitionen in Konzepte, in Forschung und Management. Die große Zahl von Universitäten und Colleges, die im Tourismus aktiv sind, sind ebenfalls Zeichen dieser Entwicklung. Wissenschaftliches Arbeiten ist nicht Selbstzweck. Wissenschaftliches Arbeiten ist eine Arbeitsweise, die sich auszeichnet durch (vgl. u.a. auch Booth/Colomb /Williams 1995; Theisen 1998, Yin 1999):
• Objektivität (oder mindestens den Versuch dazu resp. die Offenlegung der eigenen Perspektiven) und entsprechend das Bestreben, eine Frage aus verschiedenen Gesichtspunkten zu analysieren und zu würdigen.
• Intersubjektive Nachvollziehbarkeit, d.h. die Möglichkeit, dass gewonnene Resultate nachträglich in ihrer Herleitung und Gültigkeit überprüft werden können. Der Einsatz anerkannter Methoden erleichtert die Sicherstellung der Nachvollziehbarkeit.
• Einsatz von anerkannten Methoden – dabei handelt es sich um anerkannte und dokumentierte Vorgehensweisen für die Gewinnung wissenschaftlicher Resultate, die aufgrund ihrer Standardisierung und Verbreitung die Nachvollziehbarkeit und die Objektivität oder mindestens nachvollziehbare Perspektivität der Resultate sicherstellen.
Diese Anforderungen müssen auch an einen Managemententscheid gestellt werden können. Ohne die Erfüllung dieser Anforderungen ist das Risiko für einen Investor zu groß, dass ein Management seine Entscheide zu einseitig zu seinen eigenen Gunsten oder mangels besseren Wissens resp. Wollens suboptimal fällt (zur Moral Hazard Problematik, vgl. bspw. Milgrom/Roberts 1992). Die Gefahr, dass Managemententscheide unwissenschaftlich, quasi aus dem Bauch heraus gefällt werden, ist besonders im Falle der Einheit zwischen Manager und Eigentümer groß, da in diesem Falle eine externe Kontrolle entfällt. Dies ist bei einem 100%-Eigentum allenfalls volkswirtschaftlich problematisch, da damit produktives Kapital gefährdet wird. Im Falle einer hohen Kreditfinanzierung wird durch eine solche Konstellation auch fremdes Geld gefährdet. Die Bereitschaft, Kredite an KMUs im Tourismus zu erteilen, ist |24◄ ►25| deshalb teilweise reduziert. Insgesamt entstehen große Kosten für das Aushandeln und Überwachen von Krediten (vgl. auch zum Transaktionskostenansatz Williamson 1979; Williamson/Masten 1995, zur Finanzierung im Tourismus generell Bernet/Bieger 1999). Ein wissenschaftlicheres Management ist deshalb auch im KMU-Tourismus der europäischen Kernländer angezeigt.
Der Unterschied zwischen wissenschaftlichen und emotionalen Managemententscheiden lässt sich am Beispiel einer Standortwahl für ein Hotel erläutern. Besitzt ein Einwohner eines Dorfes über eine Erbschaft Land und hat eine fundierte Hotelausbildung, so wäre ein emotionaler Entscheid, auf dem entsprechenden Land ein Hotel zu bauen. Ein wissenschaftlicher Entscheid würde klar eine andere Perspektive einnehmen. Es würden der generierte Kundenwert und die Kosten gegenübergestellt. Methoden wie „Nutzwertanalyse“ und „Business Plan“, aber auch empirische Erfassung des generierten Kundenwerts oder die Berechnung eines zukünftigen Unternehmenswertes, müssen zum Zug kommen.
Abbildung 3: Methoden-Übersicht
In diesem Buch werden die meisten Kapitel mit einer Fallstudie abgeschlossen, in der eine für den Tourismus wichtige Methode anwendungsorientiert |25◄ ►26| an einem praktischen Beispiel dargestellt wird. Im Folgenden soll eine kurze Übersicht über die Methoden der Tourismusforschung als Einstieg in die entsprechenden Beispiele geboten werden.
Wissenschaftliches Arbeiten hat immer das Ziel, Erkenntnisse zu liefern. Ausgangspunkt sind immer Fragestellungen. Eine gute Fragestellung für ein Projekt, Gutachten, ein Report oder auch eine studentische Arbeit sollte immer das zu untersuchende Phänomen (Untersuchungs- bzw. Forschungsobjekt), die Zielsetzung bzw. das Forschungsziel (Gewinnung von Daten, Entwicklung eines Modells etc.) und die Perspektive oder die Disziplin, aus der dies erfolgen soll, beinhalten (Erkenntnisobjekt; vgl. hierzu auch Theisen 1998; Mayring 2002). Ein Beispiel dafür ist folgende Fragestellung:
„Wie (d.h. das Forschungsziel ist folglich ein Wirkungsmodell) wirkt die Familie (Erkenntnisobjekt: Einfluss einer soziologischen Bezugsgruppe) auf den Ferienentscheid von Teenagern (Forschungsobjekt: „Ferienentscheid von Teenagern“)“?
Für die Bearbeitung von wissenschaftlichen Fragestellungen gibt es eine Vielzahl von Strategien und Methoden. Grundsätzlich können zwei Strategien unterschieden werden (vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Mayring 2002; Kromrey 1998; Theisen 1998; Lamnek 1995; Popper 1994):
• Deduktion: Ableitung vom Allgemeinen in das Besondere, beispielsweise indem von der allgemeinen Literatur und bestehenden Modellen zu „Beziehungen in Familien“ Schlussfolgerungen auf die Einflüsse auf Ferienentscheide gezogen werden. Folgt man dem kritischen Rationalismus (vgl. Popper 1972), dann beginnt die Deduktion mit der Konstruktion von Hypothesen, welche anhand empirischer Untersuchungen so lange falsifiziert werden, bis die „Wahrheit“ übrig bleibt.
• Induktion: Ableitung von allgemeinen Regeln aus einzeln beobachteten Phänomenen, was eine empirische Arbeit mittels Erfassung von Zusammenhängen in der Realität bedingt. Beispielsweise können fallstudienartig einzelne Familien mit Teenagern beobachtet werden oder es kann eine repräsentative Stichprobe von Teenagern zu ihrem Entscheidungsverhalten mittels Tiefeninterview befragt werden.
Sowohl das deduktive als auch das induktive Forschungsvorgehen ist selten in reiner Form anzutreffen. Für beide Vorgehensformen bieten sich eine Vielzahl von Methoden an, die grob in quantitative und qualitative Methoden unterschieden werden können.
Quantitative Methoden eignen sich vor allem für Fragestellungen, die das Ausmaß von Wirkungen zu erfassen suchen (eigentliche „Wieviel“-Fragen) und für die Überprüfung von Modellen auf der Basis der quantitativen Analyse|26◄ ►27| und der durch sie implizierten Ursache-Wirkungszusammenhänge (z. B. mittels Strukturgleichungsmodellen). Sie sind in ihrem Analysefokus relativ eng. Aufgrund der strengen und klaren Vorgehens-Anforderungen die sie erfüllen müssen, weisen sie aber eine außerordentlich hohe intersubjektive Nachvollziehbarkeit auf. Zu den quantitativen Methoden können die diversen Befragungsmethoden mit statistisch repräsentativen Stichproben oder andere Methoden der Messung inklusive der Buchhaltung gezählt werden. Auch „pattern matching“, das Auswerten ähnlicher Aussagen oder Zusammenhänge in Texten und Interviews und deren Auszählung, kann im weitesten Sinne unter die quantitativen Methoden gezählt werden (vgl. Yin 1999, Backhaus 2000).
Wichtigste Qualitätsanforderung an die quantitative Forschung ist die Repräsentativität. Sie stellt die externe Validität (Übertragbarkeit der Resultate) sicher. Die Repräsentativität wird durch die Auswahl der zu analysierenden Objekte (z.B. Interviewpartner) sichergestellt. Repräsentativität erhält man durch perfekten Zufall (jedes Element hat die genau gleiche Chance, in eine Stichprobe aufgenommen zu werden) oder durch Schichtung (durch willentliche, künstliche Zusammensetzung der Stichprobe wird sichergestellt, dass die relevanten Kriterien, z.B. in einer Umfrage die Altersverteilung, wie in der Grundgesamtheit vertreten sind).
Quantitative Methoden führen immer zu statistisch auswertbaren Daten. Diese können deskriptiv statistisch (Darstellung z.B. von Reiseintensitäten in verschiedenen Ländern) oder stochastisch (d.h. unter Einsatz statistischer Schätzmethoden wie bei einer Aussage „die Reiseintensität der Länder A und B ist mit 99% Wahrscheinlichkeit unabhängig“) ausgewertet werden. Sobald mehrere Faktoren oder Datendimensionen gleichzeitig ausgewertet werden sollen, kommen multivariate Verfahren zur Anwendung. Dabei unterscheidet man zwischen Unabhängigkeitstest (Beantwortung der Frage, ob zwei Länder in ihrer Reisemotivstruktur unabhängig sind, beispielsweise mit einem Chi-Quadrat-Test) oder Zusammengehörigkeitstests (Beantwortung der Frage, welche Bevölkerungsgruppen bezüglich Nachfrageverhalten Ähnlichkeiten aufweisen) mit Verfahren wie der Cluster-Analyse.
Die qualitativen Methoden eignen sich für die Ergründung tieferer Zusammenhänge und die Beantwortung von „wie“ und „warum“ Fragen. Sie zeichnen sich durch eine außerordentliche Vielfalt auch in der Auswertung aus, weisen aber aufgrund ihrer schwächeren wissenschaftlichen Strenge eine geringere intersubjektive Nachvollziehbarkeit auf. Beispiele für qualitative Methoden sind die Beobachtung oder die Fallstudientechnik. Wie bei einer Delphi-Expertenbefragung (Mehrrunden Expertenbefragung mit einer Möglichkeit für die Experten, ihre Schätzungen auf dem Hintergrund der Kenntnis |27◄ ►28| der Durchschnittsmeinungen der Vorrunde zu überarbeiten) sind bei qualitativen Verfahren oft auch quantitative statistische Elemente eingebaut.
Die Validität der Resultate qualitativer Forschung muss durch Triangulation (vgl. Fielding/Fielding 1986; Denzin 1978) sichergestellt werden. Der Begriff Triangulation stammt aus der Kartografie. Für die Bestimmung eines geografischen Ortes reichen eigentlich zwei Linien (Peilungen). Bestimmte Orte wurden jedoch als fixe Orte durch drei Linien sicher bestimmt. Ähnlich sollen auch Forschungsresultate durch eine zusätzliche Überprüfung, z.B. eine Beobachtung von Kunden in einem Shopping-Center, durch eine ergänzende Analyse, z.B. Interviews mit dem Management, gestärkt werden.
Wesentliche Gefahren bei der Arbeit mit qualitativen Methoden ist die Ausblendung (weiße Flecken), indem Phänomene, die nicht in die eigene Theorie passen, schlicht nicht wahrgenommen werden. Eine andere Gefahr ist auch, dass zu viele Erkenntnisse, die gar nicht aus der Forschung abgeleitet werden können, in die Resultate hineininterpretiert werden. Ein Beispiel ist die Attribution des Nachfrage-Trends „Multioptionalität“ in die Beobachtung des Gepäckes von Feriengästen in einem Alpen-Resort. Vielleicht wird dabei übersehen, dass der größte Teil der mitgebrachten Sportartikel gar nie gebraucht werden und nur als Rettungsanker für Aktivitäten bei anhaltend schlechtem Wetter dienen.
METHODENEINSATZ IM TOURISMUS
Im Tourismus kommen häufig die in Abbildung 4 dargestellten Methoden zum Einsatz:
Wissenschaftliche Resultate müssen den Anforderungen der Validität und Reliabilität genügen. Reliabilität bedeutet, dass die Methoden und Verfahren sicherstellen, dass das Resultat in dem Sinne „nachvollzogen“ werden kann, dass immer wieder das gleiche Resultat erreicht wird. So sollten aufgrund einer statistisch sauber gewählten Stichprobe gewonnene Resultate im Rahmen der statistischen Schwankungsbreiten durch andere Stichproben nachvollzogen werden können.
Validität bedeutet die Gültigkeit der Resultate, d.h sie haben eine Aussagekraft für den gewählten Kontext resp. die Forschungsfrage. So ist beispielsweise ein Prognosemodell für die Umsätze von Bergbahnunternehmen auf der Basis von Logiernächtedaten für Gebiete mit hohem Tagestourismusanteil nicht valide.
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Abbildung 4: Methodeneinsatz im Tourismus
In einem Forschungsprozess werden immer Hypothesen gebildet. Dabei können diese als gültig anerkannt werden, so lange keine andersartigen Resultate dagegen sprechen (Falsifikation, vgl. Popper 1972). Oft erfolgt in einem Forschungsprozess ein Wechselspiel zwischen Induktion und Deduktion (vgl. Abbildung 5).
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Abbildung 5: Vorgehen bei einer wissenschaftlichen Analyse
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