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2. Das Phänomen Tourismus

2.1. Definition und Abgrenzung des Phänomens Tourismus

2.1.1. Angebotsseitige und nachfrageseitige Definitionen

Für die Definition des „Tourismus“ bestehen heute auf konzeptionell abstrakter Ebene weitgehend gemeinsame Auffassungen. Sobald es in der Praxis und der wissenschaftlichen Gemeinschaft um die konkrete Abgrenzung in einem Forschungsprojekt geht, fehlen jedoch oft konkrete, operationalisierbare Kriterien. So bestehen heute beispielsweise auf internationaler Ebene zwischen den beiden wichtigen Organisationen UNWTO (World Tourism Organization, intergouvernementale Organisation mit einzelnen Ländern als Mitglieder) und WTCC (World Travel and Tourism Council, internationale Dachorganisation der Tourismusindustrie mit Unternehmen als Mitglieder) unterschiedliche Auffassungen, wie einzelne Komponenten , beispielsweise die Ausgaben für den Autoverkehr für Ferienreisen oder Ausgaben für den Bau von Zweitwohnungen, dem Tourismus zuzurechnen sind. Der WTCC rechnet diese Ausgabe beispielsweise in seinem Satellitenkonto (vgl. Abschnitt 2.4) ein.

Ebenfalls bestehen oft Unsicherheiten bei regionalen Projekten, wer als Tourist aufgefasst werden soll und wer nur ein Freizeitgast aus der Region ist. So stellen verschiedene Forscher (z.B. Leiper 1979; Heeley 1980) fest, dass trotz vielen gemeinsamen Ansätzen keine umfassend gültige und akzeptierte Definition für Tourismus besteht. Dies wird teilweise auch darauf zurückgeführt, dass es von Regierungsstellen, Verbänden etc. zu viele und teilweise zu sehr durch eigene Interessen und Perspektiven getriebene Definitionen gibt (vgl. Smith 1988).

Grundsätzlich ergeben sich zwei Hauptansätze für die Definition des Tourismus: einen angebotsorientierten und einen nachfrageorientierten.

Angebotsseitige Tourismusdefinitionen setzen wie die Abgrenzung anderer Wirtschaftssektoren bei den Eigenheiten von Anbietern an. Entsprechend kann Tourismus als Industrie definiert werden, die aus den Unternehmen besteht, welche Leistungen für die Bedürfnisse und Anliegen von Touristen erbringen (vgl. Leiper 1979). Viele Branchen erbringen jedoch Leistungen nicht ausschließlich für Touristen. Restaurants haben beispielsweise auch Einheimische als Kunden. Lokale Einkaufsgeschäfte bedienen aber oft auch Touristen. Entsprechend wird eine Strukturierung der Tourismusindustrie in 3 Teile (Tiers) empfohlen (vgl. Smith 1988, 183).

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Abbildung 6: Angebotsseitige Struktur des Tourismus


Quelle: Smith 1988, 183

Angebotsseitige Definitionen des Tourismus sind bei der Abgrenzung des Sektors im Zusammenhang mit der Erfassung seiner wirtschaftlichen Effekte sowie für die Diskussion wirtschaftspolitischer Maßnahmen von Bedeutung. Die Schwäche des Ansatzes besteht darin, dass sich Tourismusanbieter nicht durch spezifische Produktionsbedingungen wie beispielsweise die Landwirtschaft abgrenzen lassen. Im Endeffekt ist der gemeinsame Nenner der Konsum durch Touristen, womit angebotsseitige Tourismusdefinitionen indirekt doch wieder bei der Nachfrageseite ansetzen.

Nachfrageseitige Definitionen setzen bei der Frage an, wer ein Tourist ist. Der Tourist wird dabei als Person verstanden, welche eine Reise außerhalb ihres gewohnten Arbeits- und Lebensumfeldes unternimmt (vgl. u.a. Jafari 1977, 6: „Tourismus ist das Studium von Menschen außerhalb ihrer normalen Lebensumgebung …“ [frei übersetzt]). Schon 1963 wurde von einer Konferenz der vereinten Nationen über internationale Reisen und Tourismus eine Definition empfohlen, die alle Personen umfasst, die ein Land besuchen, das nicht |32◄ ►33| ihr normales Herkunftsland ist (vgl. Gee/Makens/Choy 1997, 11). Alle diese Personen werden als Besucher (visitors) definiert.

Die U.N. (United Nations) definiert „Touristen“ als Personen, die sich mindestens eine Nacht und maximal ein Jahr ausserhalb des gewohnten Lebensumfeldes aufhalten. Geschäfts- und Konferenzreisen werden in diese Definition miteinbezogen (Goeldner/Ritchie 2008). Damit wird eine statistisch klar erfassbare Unterscheidung geschaffen. Übernachtungen werden weltweit nach gleichen Standards der UNWTO erfasst.

Mit einem breiteren Begriff „Ausflügler“ werden auch Tagestouristen erfasst. Tagestouristen sind in vielen Tourismusregionen im Einzugsgebiet großer Ballungszentren von herausragender Bedeutung.

Die Frage der Abgrenzung des „gewohnten“ Lebensumfeldes stellt sich natürlich vor allem bei Tagesbesuchern und Inlandtouristen. Erwähnt werden u.a. folgende Kriterien (vgl. Freier 2009):

• Ort: Verlassen des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und Rückkehr Ein Ort, der jede Woche aufgesucht wird, qualifiziert sich eher als „gewohntes” Umfeld.

• Zeit: Vorübergehend, d.h. mind. eine Nacht und maximal ein Jahr Je länger die Reise dauert, desto weniger qualifiziert sich der aufgesuchte Ort als vorübergehender Aufenthaltsort.

• Motive: Vergnügen und Geschäft Zum modernen Tourismus zählen neben der Freizeit- und Vergnügungsreise in einem erweiterten Verständnis auf die geschäftlich motivierte Reise sowie Kuraufenthalte und Verwandten- und Bekanntenbesuche (Freyer 2009), weniger dagegen das Erledigen der Besorgungen des täglichen Bedarfes.

• Reisedauer: Je länger die Reise, desto eher qualitfiziert sich der aufgesuchte Ort als vorübergehender Aufenthaltsort.

Nachfrageseitige Definitionen weisen, wie die Diskussion der Abgrenzungskriterien zeigt, Probleme der Operationalisierbarkeit auf. Heute dominiert trotzdem eine nachfrageseitige Definition, da sie ein breites Konzept von Tourismus umfasst.

Moderne Lebensformen lassen jedoch die Definition des „gewohnten Lebensumfeldes“ im Sinne des normalen Wohn- und Arbeitsumfeldes immer schwieriger werden. „Double Career Couples“, Ehepaare, in denen beide Partner einer anspruchsvollen Karriere nachgehen, haben häufig zwei Wohnsitze.|33◄ ►34| Die „Global Class“, d.h. international tätige und vernetzte Unternehmer, haben oft sogar im Jahresverlauf wechselnde Wohnsitze auf der ganzen Welt, beispielsweise in Asien eine Wohnung auf Sentosa Island in Singapore, eine Stadtwohnung in New York und ein Kreativort in Südfrankreich. Auch viele stark belastete Geschäftsleute verbringen ihre Wochenenden regelmässig in ihrem Zweitwohnsitz. Entsprechend werden heute Reisen zum Zweitwohnsitz in der Reise- Motivforschung häufig als eigene, separate Kategorie erfasst (vgl. Laesser/Bieger 2008). Auch viele wohlhabende Pensionäre weisen zwei oder mehr Wohnsitze auf (vgl. auch das Phänomen der Trophy Homes, Williams / Peters, Stegemann 2008), zwischen denen sie je nach Jahreszeit wechseln. So vermischt sich auch der Begriff „Heimat“ zunehmend (Hall/Muller 2004).

In der Marktforschungspraxis wird heute deshalb oft das als Tourismus erfasst, was vom Betroffenen selbst als Reisen ausserhalb des gewohnten Lebensumfeldes bezeichnet wird. Dies ist insbesondere deshalb auch sinnvoll, weil primär auch diese Reisen für die klassische Tourismuswirtschaft wie Tour Operator, Hotels, etc. relevant sind.

Entsprechend breit sind deshalb heute Tourismusdefinitionen:

• die Gesamtheit der Beziehungen und Erscheinungen, die sich aus dem Reisen und dem Aufenthalt von Personen ergeben, für die der Aufenthaltsort weder hauptsächlicher und dauernder Wohn- noch Arbeitsort ist (Kaspar 1996, 16).

• Nach der WTO-Definition (WTO 1993) umfasst Tourismus die Aktivitäten von Personen, die an Orte ausserhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen und sich dort zu Freizeit-, Geschäfts- oder bestimmten anderen Zwecken nicht länger als ein Jahr ohne Unterbrechung aufhalten.

• Ähnlich wird auch im angelsächsischen Raum Tourismus modern abgegrenzt. So ist nach z.B. Goeldner und Ritchie (2008) Tourismus definiert als die Prozesse, Aktivitäten und Wirkungen, welche durch die Beziehungen und Interkationen zwischen Touristen, touristischen Anbietern, Eventveranstaltern, Destinationsorganisationen und den dazugehörigen Umwelten entstehen, um Besucher anzuziehen und zu beherbergen.

Aus diesen Definitionen lassen sich folgende Merkmale des Tourismus ableiten (vgl. auch Abbildung 7):

• Der Tourismus beinhaltet sowohl Geschäfts- wie Freizeitreisen. Allein ausschlaggebend ist das Kriterium der Bewegung außerhalb des normalen|34◄ ►35| Arbeits- und Wohnumfeldes. Deshalb gehört beispielsweise ein Einkaufsbummel eines Einwohners einer Agglomerationsgemeinde in der Stadt nicht zum Tourismus, da er sich im normalen funktionalen Arbeits-und Wohnumfeld bewegt. Hingegen ist ein Shopping-Flug über das Wochenende nach London eindeutig ein touristisches Phänomen. Wichtig ist diese Unterscheidung heute vor allem, weil häufig in der öffentlichen Diskussion eine Vermengung der touristischen Nutzung mit der Freizeitnutzung von Infrastrukturen stattfindet. In vielen Regionen der Schweiz werden heute die touristischen Anlagen zu einem großen Anteil auch von Einheimischen im Rahmen ihrer Freizeitnutzung frequentiert.

Abbildung 7: Abgrenzung des Begriffes Tourismus


Quelle: In Anlehnung an Bieger 2002, 2

• Der Tourismus umfasst nicht nur Angebote wie Hotels, Bergbahnen und Strände, Nachfrager oder Märkte und Mittler wie Reiseveranstalter und Reisebüros. Zum Tourismus müssen als direktverbundenes Phänomen auch seine wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Folgen gezählt werden. So sind die Einnahmen des Baumeisters für ein neues Hotel ebenso wie die Veränderung der Kultur der Einheimischen durch den Touristen in eine ganzheitliche Betrachtung des Tourismus miteinzuschließen.

• Der Tourismus ist nicht nur ein Wirtschaftsbereich, sondern er ist auch ein wichtiger Lebensbereich (vgl. Bieger 1993). Er umfasst den Menschen, |35◄ ►36| sein Verhalten und seine Wirkungen ausserhalb des Wohnortes. Der moderne Mensch verbringt immer weniger Zeit in seinem normalen angestammten Lebensumfeld. Jemand, der seine gesetzlichen Ferien in einem westeuropäischen Industrieland voll ausschöpft und eine durchschnittliche Anzahl Tages- und Wochenendreisen unternimmt, verbringt 12-15% seines aktiven Lebens als Tourist. Darin sind Geschäftsreisen nicht eingerechnet. In der Schule werden wir weitgehend auf das Leben zu Hause, auf die Arbeit und die Familie etc. vorbereitet. Genauso müsste man auch auf das Verhalten als Tourist hingeführt werden.

Das ursprüngliche Verständnis für den Begriff Tourismus wurde in zwei Dimensionen erweitert. Erstens wird die Art der erfassten Reisen ausgewertet und zweitens werden die betrachteten Effekte erweitert (vgl. auch Abbildung 8).

Abbildung 8: Erweiterung des ursprünglichen Tourismusbegriffes


Der Tourismus wird damit als Erscheinungsform über das Verhalten der Menschen anhand der Tourismusnachfrage definiert. Aufgrund dieser eher breiten, systemorientierten Definition können nicht einfach Tourismusbranchen abgeleitet werden. Es können aber Branchen mit einer größeren oder kleineren Abhängigkeit vom Tourismus (d.h. von der Tourismusnachfrage) abgegrenzt werden.

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2.1.2. Daten zum Phänomen Tourismus

Der Tourismus gehört sowohl in der Schweiz als auch in Österreich zu den drei wichtigsten Exportbranchen. Beispielsweise hat der „Travel&Tourism Competitiveness Report 2007“ des Weltwirtschaftsforums WEF die touristische Bruttowertschöpfung der Schweiz auf CHF 28,3 Mia. und den Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) auf 6,1 Prozent geschätzt. Der Tourismus ist auch wichtigster Motor für die Entwicklung von verwandten Branchen wie Verkehr (vor allem heute auch Luftverkehr) oder Sport. Insbesondere für viele Länder, die sich in wirtschaftlicher Transformation oder im Wiederaufbau befinden (z.B. Osteuropa oder einzelne Entwicklungsländer), ist Tourismus ein Wirtschaftszweig von strategischer Bedeutung.

Abbildung 9: Tourismusdaten der Schweiz, Österreichs und Deutschlands


Quelle: 1 vgl. UNWTO 2009 (www.unwto.org); 2 vgl. Bundesamt für Statistik Schweiz (www.bfs.admin.ch), Die Daten für die Parahotellerie wurden aufgrund früherer Statistiken geschätzt, da für 2008 keine genauen Angaben vorhanden sind. 3 vgl. Statistik Austria (2008): Tourismus in Zahlen Österreich 2007/200; 4 vgl. DRV (2009): Fakten und Zahlen zum deutschen Reisemarkt 2008; 5 vgl. Bundesamt für Statistik Schweiz (www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/10/22/lexi.html)

In Abbildung 9 sind verschiedene Tourismusindikatoren für die Länder Schweiz, Österreich und Deutschland ersichtlich. Insbesondere die Einnahmen|37◄ ►38| des internationalen Tourismus in Prozent am BIP gibt einen Hinweis auf die Bedeutung des Tourismus für das Land.

Im Jahr 2008 wurden weltweit 924 Mio. internationale touristische Ankünfte gezählt. Das entspricht einer Steigerung von 2% gegenüber 2007 (DRV 2009). Die meisten internationalen Ankünfte werden in Frankreich gezählt (81.9 Mio.). Dagegen ist die USA das Land, dass die meisten internationalen Tourismuseinnahmen erzielt (US-$ 96.7 Mia.; vgl. Abbildung 10).

Abbildung 10: Internationaler Tourismus: Ankünfte und Einnahmen 2007


Quelle: UNWTO & Schweizer Tourismusverband 2009

Dass die Tourismusbranche in den vergangenen Jahrzehnten zusammen mit der Telekommunikation und der Informatik zu den Branchen mit den größten Zuwachsraten gehört, hängt vor allem mit den folgenden Faktoren zusammen:

• dem weltweiten Ausbau der Verkehrsnetze und der Kommunikationsnetze (Technologie),

• der Globalisierung der Wirtschaft und

• dem steigenden Wohlstand zahlreicher Nationen und breiterer Bevölkerungsschichten (Wirtschaft),

• modernen Lebensofmren wie Double Career Couples, Partnerschaften /Familien in verschiedenen Ländern, Patchwortk Familien (Gesellschaft) mit der verbundenen wachsenden Zahl Familienreisen (Visit Friends and Relatives).

Nicht nur die technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, sondern auch veränderte Lebensmotive sind für dieses Wachstum |38◄ ►39| verantwortlich. Zum Beispiel erweckt ein höheres Bildungsniveau und die Internationalisierung der Wirtschaftstätigkeit das Interesse für andere Kulturen oder der Verstädterungsprozess weckt das Bedürfnis nach Erholung in der Natur.

In der während den 90er Jahren entstandenen Options- und Erlebnisgesellschaft (vgl. auch Gross 2007; Schulze 2005) dominieren neue Formen des Erlebens und Genießens, womit neue Angebote entstanden. Freizeit- und Themenparks à la Disney World, All-Inclusive-Clubs oder schwimmende Ferienresorts, wie zum Beispiel das Clubschiff „AIDA”, konkurrieren traditionelle Destinationen.

Im Zuge der Entwicklung der „Ich“ Gesellschaft (vgl. Gross 1999, 2007) mit einer starken Orientierung am Individuum ist auch ein verstärktes Bedürfnis an „Transformations-“Leistungen entstanden. Reiseprodukte wie Gesundheitsreisen, Bildungsreisen oder Reisen mit spirituellen Inhalten erlauben, sich in Richtung des gewünschten Selbstkonzeptes weiterzuentwickeln respektive zu transformieren.

Abbildung 11: Reiseziele der Schweizer Bevölkerung


Quelle: Laesser/ Bieger 2008

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Die Schweiz mit ihrer traditionell offenen Reisepolitik und ihrem Wohlstand kann als Fallbeispiel für ein reifes Reiseland bezeichnet werden. Bezüglich dem Reiseziel liegt bei der Schweizer Bevölkerung die Schweiz an der Spitze (vgl. Abbildung 11). Der Anteil der Reisen im eigenen Land, der Binnentourismus, verliert aber Marktanteile, während insbesondere der Interkontinentaltourismus an Bedeutung gewinnt.

Auch bei der Deutschen Bevölkerung belegt das Heimatland die erste Position. Die wichtigsten ausländischen Destinationen sind Italien und Spanien (vgl. Abbildung 12).

Abbildung 12: Reiseziele der Deutschen Bevölkerung


Quelle: ADAC Reisemonitor 2009

Unter den Reisemotiven stechen insbesondere der Wunsch nach dem Naturerlebnis sowie nach Zeit mit dem Partner und der Familie hervor. Optionalität scheint einer der zentralen Wünsche zu sein. Darauf weist etwa auch das wichtige Motiv hin, flexible und spontane Entscheidungen treffen zu können (vgl. Abbildung 13).

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Abbildung 13: Reisemotive der Schweizer Bevölkerung (Mittelwerte)


Quelle: Laesser/ Bieger 2008

Abbildung 14: Urlaubsformen der Deutschen


Quelle: ADAC Reisemonitor 2009

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Mit zwar rückläufiger Tendenz dominiert bezüglich der Reiseformen in Deutschland immer noch der Badeurlaub mit rund 60% aller Reise gefolgt von Rundreisen und Kulturreisen (vgl. Abbildung 14).

2.2. Tourismus als Wissenschaft

Bei der Diskussion des Tourismus als Wissenschaft stellt sich natürlicherweise zuerst die Frage, ob und inwieweit Tourismus überhaupt eine eigenständige Wissenschaft darstellt. Einzelne Autoren (vgl. Sessa 1985 oder Freyer 1993) postulieren dies implizit.

Eine „Wissenschaft“ stellt jedoch klare Anforderungen. So sollte eine gemeinsam akzeptierte Grundlage in Form von Paradigmen bestehen und es sollte ein spezifisches Methodenset (wie z.B. in der Geografie die Karthografie) zur Verfügung stehen. Dabei kann ein Paradigma als ein relativ breit akzeptiertes Erklärungsmuster mit beispielhaftem bzw. modellhaftem Charakter definiert werden.

Eine präparadigmatische Wissenschaft ist nach Kuhn (1977, 416) durch ständige Debatten über grundlegende Annahmen charakterisiert. Dies trifft typischerweise auch für den Tourismus zu. Alleine schon die oben dargestellt große Auswahl an Definitionen zeigt, dass im Tourismus keine Übereinstimmung auf definitorischer Ebene, geschweige denn auf der Ebene von Modellen und Theorien, gefunden werden konnte.

Eine reife Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Wissenschafter bei ihren Publikationen immer auf die Vorerkenntnisse und Arbeiten ihrer eigenen Disziplin berufen (vgl. Kuhn 1977, 319). Ein messbares Kriterium für eine reife Wissenschaft besteht in Form von Kreuzzitationsindices, bei welchen überprüft werden kann, wie oft ein Artikel zitiert wurde. Bei Publikationen im Bereich des Tourismus findet man, sofern es sich nicht um rein deskriptive sondern um explanatorische, modellbildende Arbeiten handelt, meist eine große Zahl der Quellenverweise auf Arbeiten der Disziplin, aus deren Fokus die Analyse vorgenommen wurde. So wird sich eine Arbeit zur Analyse der kulturellen Beeinflussung einer Gemeinde durch den Tourismus meist auf Arbeiten der Soziologie beziehen. Bei Arbeiten zum Kundenverhalten wird auf Publikationen aus dem Bereich „consumer insight“ respektive Marketing bezogen. Mit dem Aufkommen von internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften (sogenannten „Scientific Journals“) auch im Tourismus und der Etablierung wissenschaftlicher Fachnetzwerke wie AIEST (Associtation Internationale d’Experts Scientifique) oder TTRA (Travel and Tourism Research|42◄ ►43| Association), steigt jedoch der Anteil der Zitationen innerhalb der Tourismusforscher.

Für die Erforschung des Tourismus bestehen keine spezifischen Methoden. Es wird auf Methoden anderer Kerndisziplinen zurückgegriffen. In diesem Sinne ist Tourismus nicht eine Wissenschaft, sondern ein Forschungsobjekt oder Forschungsgebiet. Dieses kann aus verschiedenen Perspektiven und Disziplinen analysiert werden, wobei in der Tourismusforschung folgende Hauptdisziplinen identifiziert werden: Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Geografie und Anthropologie, Management, Politikwissenschaften, Theologie, Geschichte und Umweltwissenschaften (vgl. u.a. Jafari/Ritchie 1981 und Jafari/Aaser 1988). Aufgrund seiner vielfältigen Wechselwirkungen mit allen Umwelten, ist Tourismus ein Paradebeispiel eines interdisziplinären Forschungsgebietes (vgl. auch Müller 1997).

Es finden sich weltweit Forschungsinstitute und Forschungsstellen zum Tourismus aus verschiedensten Disziplinen, beispielsweise im deutschsprachigen Raum,

• aus dem Fokus der Wirtschaftswissenschaften das Institut für Öffentliche Dienstleistungen und Tourismus der Universität St. Gallen oder, mit einer vielleicht eher noch breiteren sozialwissenschaftlicheren Perspektive, das Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus an der Universität Bern;

• aus dem Fokus der Betriebswirtschaftslehre mit Schwergewicht Dienstleistungsmanagement das Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus (Bereich Tourismus und Dienstleistungswirtschaft) der Universität Innsbruck

• aus dem Fokus Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien,

• aus dem Fokus der Geografie das wirtschaftsgeografische Institut an der Universität Zürich,

• aus der Perspektive der Tourismusökonomie die Hochschulgruppe Tourismus der Technischen Universität Dresden.

Entsprechend vielfältig wie der disziplinäre Zugang sind die in der Tourismusforschung verwendeten Methoden. Dabei ist oft auch eine Arbeit aus der Perspektive einer Disziplin mit Methoden (auch im Sinne einer Triangulation, d.h. zur Absicherung und Ergänzung der Erkenntnisse) aus einer anderen Disziplin anzutreffen. So werden beispielsweise hochentwickelte Systeme aus dem Gebiet der Karthographie respektive der geographischen Daten Systeme dazu genutzt, die Service-Abläufe in einem Skigebiet zu optimieren.

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Wichtigster Hintergrund für die Erforschung des Tourismus aus unterschiedlichsten disziplinären Perspektiven sind die verschiedenen Wechselwirkungen mit den entsprechenden disziplinären Umfeldern. Beispielsweise befasst sich die Biologie mit den Auswirkungen des Tourismus auf die Flora und Fauna einer Region. Einen Überblick über die Vielfalt der Tourismusforschung liefert folgende Auflistung der Forschungsarbeiten zu den verschiedenen Umfeldbereichen:

Abbildung 15: Liste der Forschungsarbeiten zu Umfeldbereichen

UmfeldbereichForschungsarbeiten
VolkswirtschaftslehreÖkonomische Auswirkungen: vgl. Mason (2008); Tyrrell/ Johnston (2006); Wall/ Mathieson (2005); Oh (2005); Scherer/Strauf/Bieger (2002); Ross (1992); Perdue/Long/Allen (1990); Husbands (1989); Liu/Sheldon/Var (1987); Var/Kendall/Tarakcioglu (1985)
ÖkomanagementÖkologische Auswirkungen: vgl. Moisey/McCool (2009); Hunter/Shaw (2007); Pickering/Hill (2007); Hiltunen (2007); Davenport/Davenport (2006); Caneday/Zeiger (1991); Adams (1993); Badger (1992); Warner (1991); Boo (1990); Greiner (1990); Smith (1990)
SoziologieSoziale Auswirkungen: vgl. Wilson (2008); Butler/Hinch (2007); Ur- tasun/Gutiérrez(2006);Higgins-Desbiolles(2006);Gossling/Hall (2005); Ross (1992); Bystrzanowski (1989); Milman/Pizam (1988); Liu/Sheldon/Var (1987);
BetriebswirtschaftslehreLebenszyklusphase einer Destination: vgl. Rodríguez et al. (2007); But ler (2006), Beritelli (1997); Goncalves/Aguas (1997)
Konsumentenverhalten: Castro et al. (2007); Woodside/Dubelaar (2002), Pizam/Mansfeld (1999), Sönmez/Graefe (1998);
Segmentierung: Bieger/Laesser (2002)

2.3. Historische Entwicklung des Tourismus

Viele der heute bekannten Motivationsformen des Tourismus wurden schon im Altertum vorweggenommen. So setzte beispielsweise mit Beginn der Olympiaden um 770 v. Ch. ein Sporttourismus zur aktiven oder passiven Teilnahme an Sportveranstaltungen ein. Ebenfalls in der griechischen Epoche entstanden Bildungsreisen, beispielsweise durch den griechischen Geografen und Historiker Herodot (480 – 421 v. Chr.) der als einer der ersten Reisenden |44◄ ►45| und Touristen seines Landes angesehen wird (vgl. Kaspar 1996, 23). Ebenfalls noch in griechischer Zeit bekannt waren Fahrten zu Heilzwecken, bspw. nach Epidaurus mit dem Eskolaptempel, sowie Wallfahrten zu den Göttertempeln wie zum Beispiel zum Orakel von Delphi.

RÖMISCHES REICH

In der römischen Zeit erfuhr das Reisen einen weiteren Auftrieb. Zur Erleichterung des „militärischen Tourismus“ wurde ein weiterer Teil eines kontinentalen Straßennetzes gebaut. Dank den zahlreichen Garnisonsstädten war auch eine relativ gute Sicherheit auf diesen Straßen gewährleistet. Der Handel blühte auf, es entstanden wieder Bildungsreisen quer durch Europa. Zusätzlich entstand ein Vorläufer des heutigen Gesundheitstourismus. Die Römer errichteten an einigen zentralen Orten Badezentren (beispielsweise Baden bei Zürich, St. Moritz, Baden-Baden), die aus näherer oder fernerer Umgebung Touristen anlockten. Es gab bereits auch eine Art Vorläuferform des modernen Zweitwohnungstourismus. Aufgrund der Verhältnisse in der überbevölkerten Stadt Rom und in anderen Städten nahmen breite Kreise der wohlhabenden Bevölkerung im Sommer einen Domizilwechsel an ihre „Sommerfrischen“ in den Hügeln des Appenins oder an die Küsten vor.

MITTELALTER

Im Mittelalter verfiel aufgrund der partikularisierten Herrschaftsverhältnisse das römische Straßennetz. Mit dem Fehlen einer militärischen Präsenz wurde das Reisen zudem unsicherer. Neben Beamten und Studenten reisten deshalb im Mittelalter vor allem Wallfahrer, welche die großen physischen und finanziellen Opfer auf sich nahmen. Entsprechend dominierten bei den Unterkünften auch Hospize und Klöster neben einzelnen, vor allem kleineren Herbergen. Während im Mittelalter große Teile der damaligen Gesellschaft ihre direkte Umgebung zeitlebens nicht verließ, wagten sich erste Händler (vgl. auch die Reisen Vasco da Gamas um 1497) und Entdecker auf Reisen. Handwerker reisten zum Teil, um neue Märkte für ihre Fähigkeiten zu erschließen. Währenddem das Reisen zu den ältesten und allgemeinsten Verhaltensweisen des menschlichen Lebens gehörte und der Mensch eigentlich schon immer reiste, erfüllte es im Altertum und vor allem im Mittelalter selten einen Selbstzweck (vgl. auch Enzensberger 1958, 705ff). Es wurden vor allem „Muss-Reisen“ gemacht.

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AUFKLÄRUNG

Mit der Aufklärung und dem Aufbruch in der Gesellschaft lockerte sich auch die strenge Zweckhaftigkeit des Reisens. So begann ab dem 18. Jahrhundert ein intensiver Bildungstourismus, insbesondere junger Adeliger. Ihr Interesse richtete sich oft auf die Natur und das einfache Leben. Nachhaltig dürfte sich der Ruf Jean-Jacques Rousseaus nach Rückkehr zur Natur in seinem Werk „Nouvelle Héloïse“ (1756) ausgewirkt haben. Auch andere Dichter und Schriftsteller wie Byron, Ruskin und Goethe warben und lobpreisten fremde Länder, deren Natur und Lebensformen. Die Zahl der Herbergen erhöhte und die Qualität der Straßen verbesserte sich. Mit den inzwischen stabilen Nationalstaaten war auch Ruhe, Ordnung und militärische Sicherheit wieder hergestellt worden.

INDUSTRIALISIERUNG

Mit der Industrialisierung wurde der Tourismus immer mehr zu einem Standardprodukt. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts erleichterten Massentransportmittel wie moderne Passstrassen, ab den 20er Jahren des vorletzten Jahrhunderts die Dampfschifffahrt sowie ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Aufkommen der Eisenbahnen das Reisen massiv. Auch in der Beherbergung wurde in Form von Grandhotels eine „industrialisierte“ Form gefunden, welche die Unterbringung der inzwischen größeren Touristenzahlen erlaubte. Triebkraft der Nachfrage war zum ersten Mal auch das durch die Industrialisierung zum Wohlstand gekommene Bürgertum. Die Industrialisierung wurde vor allem in Mitteleuropa durch einen Spezialeffekt überlagert. Die sogenannte „Belle Epoque“ war geprägt durch Langzeit-Aufenthalter in Form des Adels. Dieser hatte die Mittel, wurde aber durch das erstarkte Bürgertum immer mehr in seinen Funktionen beschnitten. In dieser Zeit entstanden Palast-Hotels an den schönsten Lagen Europas, am Meer oder in der Schweiz an Seen und auf einigermaßen leicht erreichbaren Berggipfeln. Im Gegensatz zu den teilweise bescheidenen Hotels der Industrialisierung wie beispielsweise der 1812 eröffnete Gasthof Rigi Klösterle oder das 1832 als erstes Hotel im Berneroberland auf dem Faulhorn auf 2600 Meter erbaute Hotel, waren diese Palast-Hotels mit jeglichem Komfort ausgestattet. Architektur und Dekor wurden den Heimunterkünften der Hauptkundengruppe, des Adels, nachgebildet. Die Hotels selbst respektive ihre Gesellschaftsräume waren Bühnen für den Auftritt der Noblesse der Zeit. Da die Schweiz von den beiden Weltkriegen nicht versehrt wurde, bestehen noch viele Zeugnisse der Belle Epoque. Beispiele dafür sind das Hotel Schweizerhof in Luzern oder das Hotel Giesbach am Brienzersee. Diese Hotels wurden mit großem Aufwand renoviert |46◄ ►47| und werden heute als moderne Hotels im Vier- und Fünf-Stern-Bereich weitergeführt.

Zur Unterhaltung des Adels und auch des Wohlstands-Bürgertums wurde einiges unternommen, da die Aufenthaltszeit dieser Gäste oft auch mehrere Monate betrug. So sprechen Zeugnisse beispielsweise davon, dass im Hotel Maloja im Engadin regelmäßige venezianische Nächte durchgeführt wurden, für die jeweils der Hauptspeisesaal geflutet wurde (vgl. Bener/Schmid 1983). Natursehenswürdigkeiten wie Wasserfälle wurden bengalisch illuminiert. Die Gäste aßen auf Booten und wurden ebenfalls von auf Booten vorbeifahrenden Kellnern bedient. Je nach Jahreszeit hielt sich diese internationale Schicht aus „heimatlosem“ Adel und neureichem Bürgertum jeweils für längere Zeit an der französischen oder italienischen Riviera (im Winter), in den Thermalbädern und Großhotels der Alpenrandseen (im Sommer) und auf ausgedehnten Bildungsreisen nach Nordafrika, Ägypten oder Griechenland auf.

Mit den Veränderungen in Gesellschaft und Umwelt in Form von sozialen Unterschieden, Armut, größeren Städten oder Umweltzerstörung durch Industriegebiete, verklärte sich das Freizeitbewusstsein. Die geistigen Wurzeln des Tourismus- und Freizeitbildes liegen in der englischen und deutschen Romantik. Idealbild im Sinne einer Imagination war das Bild einer zivilisationsfernen Natur, zeitliche Bilder der Geschichte, die zu Denkmälern oder Folklore erstarrt sind. Solche Leitbilder des Tourismus sind heute noch für verschiedene Tourismusformen wirksam (vgl. auch Enzenberger 1964).

Organisatorisch „industrialisiert“ wurde der Tourismus mit der Erfindung der Pauschalreisen. So entstanden in Deutschland die ersten Reisebüros ab 1886, in England gründete Thomas Cook bereits 1841 sein erstes Reisebüro.

TOURISMUS WÄHREND UND NACH DEM 1. WELTKRIEG

Während dem ersten Weltkrieg kam der internationale Tourismus praktisch vollständig zum Erliegen. Zahlreiche Infrastrukturen, z. B. Luftseilbahnen oder Hotels, erlitten Konkurs und wurden definitiv aufgegeben. Einzig in der Schweiz erhielt sich eine Art Langzeitaufenthalts-Tourismus in Form heimatloser Adeliger und internierter Offiziere.

In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich durch die Umverteilung des Einkommens die breite Mittelschicht. Diese Bevölkerungsschichten unternahmen jedoch oft nur kürzere Reisen. Damit ging es Jahre, bis die großen Zentren in den Alpen wieder auf die Logiernächtezahl der Vorkriegszeit kamen. So wurde beispielsweise die im Rekordjahr 1910 erreichte Zahl der Hotellogiernächte erst wieder 1957 überschritten. In den Zwischenkriegsjahren entstand gleichzeitig auch ein neues Tourismusphänomen, der aktive Sporttourismus. Im |47◄ ►48| Sommer stand Golf, Tennis und auch Wassersport im Vordergrund. Nachdem 1863 der alpine Wintersporttourismus durch eine Wette von einem Hotelier in St. Moritz lanciert wurde, entwickelte sich aus dem ursprünglichen Schlittel-und Eislauftourismus immer mehr der Skitourismus. Für diesen entstanden in den Zwischenkriegsjahren die ersten Infrastrukturen, beispielsweise die 1932/33 erbaute Parsenn-Bahn in Davos.

TOURISMUS WÄHREND UND NACH DEM 2. WELTKRIEG

In praktisch allen Ländern kam während dem zweiten Weltkrieg, mit Ausnahme des „Militärtourismus“ und eines geringen Handelstourismus, das Reisen praktisch vollständig zum Erliegen. In der vom Krieg verschonten Schweiz entwickelten sich jedoch neue Formen des Tourismus in Form des Ausflugstourismus. Mit zum Teil verbilligten Tickets wurden der Bevölkerung, die nun im Vergleich zum ersten Weltkrieg über den Erwerbsersatz trotz Militärdienstpflicht der Männer durch ein bescheidenes Einkommen verfügte, Reiseangebote unterbreitet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der in der Vorkriegszeit entstandene Sporttourismus weiter. Im alpinen Raum wurde der Wintersport zu einem eigentlichen Motor der Entwicklung neuer Regionen und Orte. Im internationalen Tourismus führte der Ausbau des Flugverkehrs, vor allem auch des Charter-Luftverkehrs, zur Entwicklung des Badetourismus und zu ersten Ansätzen eines internationalen Sightseeing-Tourismus. Die traditionellen Tourismusländer im Einzugsgebiet der westlichen Industriestaaten erlebten in dieser Zeit eine eigentliche Boomphase, die durch die Elemente Motorisierung, Verstädterung (und damit verbunden mit Flucht aus dem eigenen Wohnumfeld) und Zunahme des Wohlstandes (vgl. auch Beratende Kommission für Fremdenverkehr 1979 und Krippendorf 1984) geprägt war.

GLOBALISIERUNG UND TOURISMUS

Ab ca. 1980 entwickelte sich die vorderhand letzte Phase des internationalen Tourismus, die Globalisierung. Treiber der Entwicklung waren auf der Angebotsseite der Ausbau des internationalen Flugverkehrs. Nicht zuletzt dank dem Aufkommen zweistrahliger Großraum-Langstrecken-Jets seit Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts verbilligte sich der Flugverkehr massiv. Während in den Nachkriegsjahren im Ferntourismus der Charter-Flugverkehr dominierte, können jetzt Touristen von immer günstigeren Apex- und Superapex-Tarifen (APEX als Abkürzung für Advanced Purchased Excursion Fare) der Linienfluggesellschaften als Individualtouristen profitieren. Internationale Hotelketten sorgen weltweit für berechenbare Qualitäten im Unterkunftsbereich.|48◄ ►49| Flüge und Hotels können dank internationaler Reservationssysteme (GDS - Global Distribution Systems) maßgeschneidert und individuell gebucht werden. Neue Destinationsformen wie Themenparks, Kreuzfahrtschiffe oder einheitlich geführte Resorts, z.B. nordamerikanische Skiorte oder asiatische Badeferieninseln, sorgen für eine durchgehende Dienstleistungsqualität aus einer Hand. Der interkontinentale Sightseeing-Tourismus, der Kulturtourismus aber auch der Kurzerlebnistourismus mit seinen Risikosportarten nahmen zu.

Enzensberger charakterisiert den Fortschritt des Tourismus mit den drei Kategorien Normierung, Montage und Serienfertigung. Mit dem im Jahre 1836 von John Murray veröffentlichten ersten „red book“ entstand das erste Reisebuch, das die Grundelemente jeder Reise, die „Site“ normiert und ihrem Wert nach in eine, zwei oder drei Sterne unterteilt (vgl. Enzensberger 1964, 13). Die Bilder, die mit der Reise verkauft werden, sind „montierte“ Bilder. Sehenswürdigkeiten werden eingepackt in Bilder der Ferne, der Romantik, Natur und Geschichte. Reiseplakate, Reiseprospekte werden entsprechend vielfach mit konstruierten oder gestellten Bildern geschmückt. Die normierte und mutierte Welt wird schließlich serienmäßig durch moderne Reisemittler an Gruppen oder modulartig an Individuen verkauft. Diese Charakterisierung der Entwicklung des Tourismus dürfte auch im Zeitalter der Globalisierung noch relevant sein.

Die laufende Veränderung der Bedürfnisse und Treiber der Nachfrage führte die einzelnen Tourismusorte zu einem Zwang, sich immer wieder zu restrukturieren und neu auszurichten. Das Beispiel von St. Moritz zeigt schön den Übergang von einem traditionellen Badeort über ein Hauptort der Belle Epoque zu einem Sommersportort bis zum modernen Wintersportort und internationalen Rundreiseziel.

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2.4. Forschungsfall: Tourismus-Satellitenkonto – Impact Messung am Beispiel Österreich (E. Smeral)1

2.4.1. TSA – Einführender Überblick

Die Bedeutung des Tourismussektors als wirtschaftliches und soziales Phänomen ist in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich gewachsen. In Bezug auf die Einschätzung der Grössenordnung lagen jedoch im Hinblick auf die monetär-wirtschaftliche Komponente nur unzureichende Informationen vor, da sich die Statistik zum überwiegenden Teil nur auf wenige quantitative Indikatoren wie Ankünfte, Übernachtungen, Anzahl der Reisen oder Daten aus der Leistungsbilanz (Tourismusexporte und -importe) konzentrierte. Weiter waren die tourismusrelevanten Informationen nur innerhalb bestimmter makroökonomischer Aggregate (z.B. privater und öffentlicher Konsum) aufzufinden. Dementsprechend erhielt die Öffentlichkeit nur ein unzulängliches Bild von der Bedeutung des Tourismus und dessen Einfluss auf die Gesamtwirtschaft.

2.4.2. Konzept

Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Größe des Tourismussektors liegen primär darin, dass im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) die einzelnen Wirtschaftszweige auf Basis ihrer Erzeugung (ihres Outputs) und nicht auf Basis der Nachfrage erfasst werden, während gerade die Tourismuswirtschaft durch ihre Konsumenten – die Touristen – zum Zeitpunkt des Konsums definiert wird.

Gemäß des TSA-Konzeptes erfolgt eine grundlegende Aufgliederung in eine „tourismusspezifische“, „tourismusverwandte” und „nicht tourismusspezifische“ Produktion, die entsprechend „tourismusspezifische“, „tourismusverwandte“ und „nicht tourismusspezifische“ Güter und Dienstleistungen herstellt. Folglich umfasst der Tourismuskonsum „tourismusspezifische“ (d.h. Unterkünfte, Reisebüros, Seilbahnen) sowie „tourismusverwandte“ (Gaststätten) und „nicht tourismusspezifische“ (z.B. Einzelhandel) Güter und Dienst-leistungen.|50◄ ►51| Letztere sind solche, welche vorwiegend an Nichttouristen geliefert werden.

Das TSA stellt den Versuch dar, den Tourismus als ökonomisches Phänomen in Verbindung mit der VGR und anderen Wirtschaftsstatistiken zu erfassen und zu analysieren. Dabei dient die VGR als Rahmen und Integrationsraster. Trotzdem ist das TSA mehr als nur ein VGR-Subsystem, vor allem, weil je nach Bedarf zusätzliche wichtige Informationen eingebaut werden können.

Das System basiert auf dem Inlands-Konzept, dessen Abgrenzungen im Einzelnen zu definieren sind. Dazu eignet sich im Besonderen das Wohnsitzkonzept und dessen Anwendung auf die Teilnehmer am Tourismusmarkt, nämlich die Anbieter (Produzenten) und die Verbraucher (Nachfrager/Touristen).

2.4.3. Ökonomische Implikationen des Tourismus-Satellitenkontos

Grundsätzlich bezieht sich das TSA-Konzept in seinem Kernbereich auf die „Tourismusindustrien“ (i.e.S.). Das sind vor allem die Bereiche des Beherbergungs-, Restaurant-, Reisebüro- sowie des Kultur-, Unterhaltungs- und Reiseversicherungswesens. Es soll versucht werden, Tourismus als ökonomisches Phänomen eingehender zu erfassen und in Verbindung mit der VGR und anderen Wirtschaftsstatistiken zu analysieren. Obwohl im Allgemeinen immer über die „Tourismusindustrie“ gesprochen wird, ist dieser Ausdruck doch problematisch, denn Tourismus ist keine Industrie im herkömmlichen Sinn, wo die einzelnen Bereiche ein gemeinsames Produkt oder eine Dienstleistung herstellen bzw. die gleiche Produktionsfunktion haben.

Der Begriff „Satellit“ beschreibt das TSA als eine Erweiterung des Input-Output-Grundgerüstes im System der VGR. Im Zusammenhang mit dem Tourismus-Satellitenkonto kann man sich die Input-Output-Struktur als eine Abfolge von Tabellen vorstellen, in denen in den Spalten bzw. in den Zeilen die einzelnen Wirtschaftszweige und die Waren aufgelistet sind. Jede Zelle dieser Tabellen gibt somit Auskunft über den Wert der in einer bestimmten Branche produzierten Ware für jeweils ein Jahr. Ein anderes Tabellenblatt zeigt den Wert jeder von den einzelnen Branchen konsumierten Ware und eine weitere Tabelle fasst die Endnachfrage der Konsumenten, der öffentlichen Hand und der ausländischen Gäste sowie die Investitionen durch die privaten und öffentlichen Haushalte zusammen. Das TSA lässt sich als eine Teilmenge dieser Tabellenblätter verstehen.

Das Hauptproblem bei den „tourismusspezifischen” Branchen liegt vor allem darin, dass der Konsum touristischer Waren nicht immer eindeutig gemessen werden kann. So werden z.B. Speisen im Restaurant auch von Nichttouristen konsumiert und andererseits nicht touristische Waren wie Bekleidung oder |51◄ ►52| Lebensmittel auch von Touristen gekauft. Das bedeutet, es können nicht einfach „tourismusspezifische“ Branchen identifiziert und deren Output-Daten aggregiert werden. Um Aussagen über die Tourismusaktivitäten eines Landes zu machen, muss vielmehr der Output einer touristischen Ware mit jenem Anteil gewichtet werden, der dem Verhältnis der touristischen Ausgaben zu den Gesamtausgaben für das entsprechende Gut entspricht. Im Prinzip hat jedes Produkt ein touristisches Gewicht: Hotelzimmer erreichen z.B. knapp 100% ihres Ouputs, andere Produkte wiederum haben weniger oder fast gar keine touristische Bedeutung.

2.4.4. Definition der Tourismusnachfrage

Massgebend für die Bestimmung der Tourismusnachfrage sind:

• Besucher,

• hauptsächlicher Reisezweck,

• gewohnte bzw. ungewohnte Umgebung und

• touristischer Konsum.

2.4.4.1. Besucher

Ein Besucher wird definiert als „jede Person, die für die Dauer von nicht mehr als zwölf Monaten ihre gewohnte Umgebung verlässt, und deren hauptsächlicher Reisezweck ein anderer ist als die Ausübung einer Tätigkeit, die von dem besuchten Land aus entlohnt wird“.

Dabei müssen zunächst zwei grundlegende Kategorien von Besuchern unterschieden werden:

• Internationale Besucher, die in dem Land der Reisedestination nicht ihren ordentlichen Wohnsitz haben; dazu zählen auch Staatsbürger, die ihren Wohnsitz ständig im Ausland haben;

• Inländische Besucher, deren ordentlicher Wohnsitz sich im Reisezielland befindet, wobei es sich um Staatsbürger oder Ausländer handeln kann.

Ein Besucher kann entweder ein Tagesbesucher oder ein Tourist sein, das ist ein Besucher mit mindestens einer Übernachtung. Ferner kann eine Reise zu Geschäftszwecken oder aus anderen (persönlichen) Gründen stattfinden (wie Besuch des Zweitwohnsitzes oder von Verwandten und Bekannten). Bestimmte Formen der Reise sind jedoch ausgenommen, nämlich jene von Grenzgängern (z.B. Pendler), vorübergehend Zugezogenen, Einwanderern |52◄ ►53| (z.B. Gastarbeiter), Flüchtlingen, Diplomaten (z.B. Konsularvertreter) und Militärpersonen im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeit.

Im Allgemeinen ist die im TSA verwendete Definition von Besuchern und Touristen sehr breit und beinhaltet damit alle Personen, die einen Ort besuchen oder bereisen, an dem sie keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen. Folglich könnte ein Geschäftsreisender entweder Tourist oder Nichttourist sein, je nachdem, an welchem Ort sich seine bezugsauszahlende Stelle befindet und in welcher Art und Weise er seine Aktivitäten unternimmt. Im TSA-Konzept wird damit die gewohnte Umgebung als jener Raum angesehen, in dem jemand lebt bzw. arbeitet und den er damit relativ häufig frequentiert, und/oder der in der Nähe des ordentlichen Wohnsitzes liegt.

2.4.4.2. Hauptsächlicher Reisezweck

Beim Hauptreisezweck von Tagesbesuchern und Touristen kann nach folgenden Kategorien unterschieden werden:

• Freizeit-, Erholungs- und Urlaubsreisen,

• Verwandten- und Bekanntenbesuche,

• Dienst- und Geschäftsreisen,

• Kuraufenthalte,

• Religiös motivierte Reisen/Wallfahrten,

• Sonstige.

2.4.4.3. Gewohnte und ungewohnte Umgebung

Die gewohnte Umgebung bezieht sich auf die geografischen Grenzen, innerhalb derer sich jemand im täglichen Leben bewegt, und setzt sich aus der direkten Umgebung seines Zuhauses, des Arbeitsplatzes oder der Ausbildungsstätte sowie anderen häufig frequentierten Orten zusammen.

Der Begriff „gewohnte Umgebung“ umfasst zwei Dimensionen:

Häufigkeit – Orte, die von einer Person häufig (regelmäßig) besucht werden, sind als ein Teil ihrer gewohnten Umgebung anzusehen, auch wenn sie in erheblicher Entfernung vom Wohnort liegen.

Entfernung – Orte in der Umgebung des Wohnortes einer Person sind Teil ihrer gewohnten Umgebung, auch wenn diese nur selten besucht werden.

Nationale Statistik-Organisationen grenzen den Begriff der gewohnten Umgebung pragmatisch durch Kriterien wie Reisedistanz und Besuchshäufigkeit oder formal nach Gegend oder Verwaltungsgebiet ab.

Der TSA-Philosophie zufolge ist es entscheidend, ob das Reiseziel einer Person („des Besuchers“) außerhalb ihrer gewohnten Umgebung liegt; in diesem |53◄ ►54| Fall zählt diese nicht zu den „einheimischen Konsumenten“. Aus ökonomischer Sicht werden durch den Aufenthalt eines Besuchers/Touristen zusätzliche Ausgaben und somit Wertschöpfung – über jene der einheimischen Konsumenten hinaus – generiert. Dieser von den Besuchern ausgelöste monetäre Effekt kann mit Hilfe des TSA gemessen werden. Die Begriffe „gewohnte“ und „ungewohnte Umgebung“ sind in einem räumlichen Kontext zu verstehen und finden im Rahmen des Tourismus-Satellitenkontos Berücksichtigung.

2.4.4.4. Touristischer Konsum

Für die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus spielen die Ausgaben eine zentrale Rolle. Von UNWTO und OECD wird folgende Definition verwendet: „Ausgaben, die von oder für einen Besucher vor, während und nach einer Reise außerhalb der gewohnten Umgebung getätigt werden und mit dieser in Zusammenhang stehen“.

Außer den üblichen Ausgaben für Transport, Verpflegung oder Unterkunft während oder im Zuge der Vorbereitungen einer Reise beinhalten diese Aufwendungen gleichzeitig auch Kosten, die dem Reisezweck dienen und schon einige Zeit vor der Reise angefallen sein können (z.B. für Koffer oder Film). Andererseits sind Ausgaben von Geschäftsreisenden für Investitionen nicht den touristischen Aufwendungen zurechenbar, selbst wenn dies der Anlass für die Reise ist. Wird die Reise jedoch von einem Nichttouristen finanziert (Eltern bezahlen z.B. dem Freund den Besuch ihres im Ausland lebenden Kindes), gehört dies zu den touristischen Aufwendungen, da die Ausgaben für den Besucher erfolgten.

Entsprechend den Akteuren bzw. den Trägern des touristischen Konsums ergeben sich folgende Komponenten:

• Ausgaben inländischer Haushalte (oder an deren Stelle) für Erholungs-und Urlaubszwecke sowie im Zuge des Besuches von Zweitwohnsitzen und von Verwandten und Bekannten;

• Ausgaben von privaten oder öffentlichen Produzenten (via Geschäfts-und Dienstreisen im Zuge von Reisen im Auftrag ihrer privaten oder öffentlichen Arbeitgeber oder im Rahmen ihrer eigenen Tätigkeit) sowie

• Ausgaben von Ausländern im Inland.

Der im TSA aufscheinende Tourismuskonsum von Geschäftsreisenden beinhaltet nur die vom Unternehmen bezahlten Aufwendungen wie Transport, Unterkunft usw.; ein Theaterbesuch am Abend oder die Verlängerung des Aufenthaltes sind vom Geschäftsreisenden selbst zu finanzieren und daher Teil der privaten (touristischen) Endnachfrage.

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Abbildung 16: Zahlungsströme am Tourismus- und Freizeitmarkt


Quelle: WIFO 2009

Zusammenfassend kann also der Tourismuskonsum weit über die Reiseausgaben eines Besuchers hinausgehen: Er umfasst auch noch sämtliche für ihn getätigten Waren- und Dienstleistungsaufwendungen durch andere Institutionen. Werden Bargeld oder Vermögenswerte an den Besucher zur Finanzierung seiner Reise transferiert, scheinen die damit erfolgten Einkäufe ebenfalls im Konsum auf. Somit beinhaltet das TSA alle direkten, reisebezogenen Transaktionen zwischen Käufer und Produzent/Lieferant.

In Anbetracht der touristischen Erscheinungsformen lassen sich nun verschiedene Aggregate für den Tourismuskonsum ableiten. Da die Ausgaben von In-und Ausländern stammen können, ergibt sich für die Zahlungsströme zunächst folgende Unterscheidung (siehe auch Abbildung 16):

• Touristischer Ausländerkonsum im Inland (= Tourismusexporte);

• Touristischer Inländerkonsum im Inland (= Einnahmen im Binnenreiseverkehr; hierzu zählen nur die Ausgaben in ungewohnter Umgebung; Ausgaben innerhalb der gewohnten Umgebung sind nichttouristischer Freizeitkonsum, der eine erweiterte Sicht des TSA ermöglicht);

• Touristischer Inländerkonsum im Ausland (= Tourismusimporte)2; |55◄ ►56|

• Touristischer Inlandskonsum von In- und Ausländern (= Tourismusexporte + Einnahmen im Binnenreiseverkehr);

• Nationaler touristischer Konsum (= Einnahmen im Binnenreiseverkehr + Tourismusimporte).

Die Tourismusnachfrage von In- und von Ausländern kann unterteilt werden in Ausgaben von

• Tagesbesuchern und

• Touristen (d.h. Besucher mit mindestens einer Übernachtung).

Beide, Tagesbesucher und Touristen, können sein:

• Erholungs- und Urlaubsreisende, Reisende auf Grund von Verwandten-und Bekanntenbesuchen, Kuraufenthalten, Wallfahrten usw.,

• Geschäftsreisende,

• Zeitwohnungsbesucher.

Tagesbesucher und Touristen können Ausgaben tätigen für:

• spezifische Tourismusgüter,

• Tourismusverwandte Güter und

• nicht tourismusspezifische Güter.

2.4.5. Der Zusammenhang zwischen direkten, indirekten und induzierten Effekten

Das TSA berücksichtigt nur die direkte Tourismusnachfrage, die die Aufwendungen umfasst, welche vom Besucher (oder an dessen Stelle) für Waren und Dienstleistungen vor, während und nach einer Reise getätigt werden, wobei diese in Verbindung mit der Reise stehen müssen. Um die wirtschaftliche Rolle des Tourismus im TSA-Kontext zu messen, muss deshalb eine direkte Verbindung zwischen Käufer und Produzent/Lieferant vorhanden sein. Basierend auf der Definition der direkten Tourismusnachfrage zeigt das TSA diese Beziehungen und die daraus resultierende Wertschöpfung auf.

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Die auf direkte physische und wirtschaftliche Beziehungen eingeschränkte Tourismus-Definition laut TSA lässt die verschiedenen indirekten, durch wirtschaftliche Lieferverflechtungen ausgelösten Effekte, außer Betracht. Somit kann die nationale Tourismuswertschöpfung auf Basis eines TSA nur mit den TSA-Ergebnissen anderer Länder oder mit analog errechneten Satelliten anderer Sektoren verglichen werden.

Diese direkten und indirekten Effekte oder die Auswirkungen des Tourismus auf die Gesamtwirtschaft eines Landes können durch die Input-Output-Analyse beschrieben werden. Sie ermöglicht damit neben der Berechnung der direkten zusätzlich auch die Berechnung der indirekten Wertschöpfungseffekte. Die entstandene Wertschöpfung erhöht das Einkommen der ersten Stufe und löst weitere Ausgaben aus – ein Multiplikatorprozess wird in Gang gesetzt.

Im Gegensatz zur Definition der Welttourismus-Organisation (UNWTO) werden die Begriffe „direkt“ und „indirekt“ hier im rein ökonomischen Kontext der Input-Output-Analyse verstanden. „Induzierte“ Effekte werden im Kontext des Multiplikator-Modells nach Keynes aufgefasst.

Aufgrund der Tatsache, dass im TSA-Kontext nur die direkten touristischen Effekte auf Grund physischer und ökonomischer Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer erfasst werden, müssen beim Vergleich der ermittelten TSA-Wertschöpfungsdaten mit der gesamten Wertschöpfung einer Volkswirtschaft zusätzlich auch die indirekten Effekte berücksichtigt werden.

Weiters werden auf TSA-Ebene die Dienst- und Geschäftsreisen (richtigerweise) der touristischen Gesamtnachfrage zugerechnet und sind damit mesoökonomisch wertschöpfungswirksam. Bei einem Vergleich der TSA-Wertschöpfungsdaten mit der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung entsteht damit (ebenso wie bei der Berücksichtigung der indirekten Effekte) ein Korrekturbedarf, da gesamtwirtschaftlich der Intermediärkonsum („Zwischennachfrage“) – im Speziellen die Dienst- und Geschäftsreisen der Inländer – als Vorleistung behandelt wird und daher vom im TSA-Kontext ermittelten touristischen Inländer-Konsum in Abzug gebracht werden muss.

2.4.6. Ergebnisse

In diesem Kapitel werden die Ergebnisse eines TSA am Beispiel Österreichs dargestellt.

Die Einrichtung eines Tourismus-Satellitenkontos bedeutete die Einleitung einer nachhaltigen Veränderung in der monetären Berichterstattung. Die Veränderungen betreffen insbesondere die touristischen Zahlungsströme der Inländer,|57◄ ►58| die Erfassung der Zahlungsströme von ausländischen Gästen bleibt in ihrem Umfang unverändert.

Bisher wurden unter den touristischen Aufwendungen der Inländer für Österreich-Aufenthalte die Ausgaben im Zuge von Übernachtungen nur zum Teil erfasst, da zwar die Aufwendungen im Zuge von Übernachtungen in entgeltlichen Unterkünften zur Gänze einbezogen wurden, die monetäre Bedeutung von Aktivitäten bei Übernachtungen in unentgeltlichen Unterkünften erfolgte jedoch nur teilweise.

Das TSA-Konzept hingegen verlangt

• die vollständige Berücksichtigung von Aufwendungen im Zuge von Aufenthalten in unentgeltlichen Unterkünften (Verwandten- und Bekanntenbesuche, ohne Zweitwohnungen und Wochenendhäuser), sowie zusätzlich die Berücksichtigung von

• Aufwendungen im Zuge von Aufenthalten in Zweitwohnungen bzw. Wochenendhäusern und

• jene im Zuge von Tagesausflügen.

Dadurch erhöht sich die bisher für den Binnenreiseverkehr ausgewiesene Summe deutlich.

Die dargestellten Basisdaten des TSA beziehen sich auf die Jahre 2005 bis 2007. Im Jahr 2007 entfielen laut TSA-Ergebnissen von den Gesamtausgaben für Urlaubs- und Geschäftsreisen sowie Verwandten- und Bekanntenbesuche in der Größenordnung von 30,367 Mrd. EUR (2005: 28,052 Mrd. EUR) 50,3% auf ausländische Besucher, 46,5% auf inländische Reisende und 3,2% auf die Ausgaben der Inländer in Wochenendhäusern bzw. Zweitwohnungen entfallen (Abbildung 17).

Die Ausgaben der inländischen Reisenden für in Österreich gelegene Ziele sind zu 58,9% den übernachtendenden Touristen und zu 41,1% den Tagesbesuchern zuzurechnen, wogegen bei den ausländischen Besuchern rund 87.8% der Aufwendungen auf den Übernachtungstourismus entfallen.

Von den Ausgaben der Österreicher für Inlandsreisen entfallen auf den Reisezweck „Urlaub“ 77,4% und auf Geschäftsreisen 22,6%. Bei den Geschäftsreisenden sind die Aufwendungen für Tagesausflüge dominant, wogegen bei den Urlaubsreisenden die Aufwendungen für Übernachtungsreisen jene für Tagesreisen übersteigen.

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Abbildung 17: Hauptergebnisse des Tourismussatellitenkontos (TSA) für Österreich


Quelle: WIFO (Österreichisches Insitut für Wirtschaftsforschung) 2009

Die Ermittlung der direkten Wertschöpfungseffekte des Tourismus ergab laut TSA-Konzept für das Jahr 2007 ein Volumen in der Größenordnung von 14,553 Mrd. EUR (+5,2% gegenüber 2006). Wird diese Größenordnung zum BIP in Beziehung gesetzt, ergibt sich rein rechnerisch ein Anteil von 5,4% (2006: 5,4%).

In Bezug auf die Verteilung der Gesamtaufwendungen auf die verschiedenen Güter und Dienstleistungen im Jahr 2007 machten die Dienstleistungen des Beherbergungswesens mit über einem Drittel die größte Position aus, gefolgt von den Restaurant- und Gaststättendiensten mit einem Anteil von rund einem Viertel (Abbildung 18).

Für die Dienstleistungen des Transportwesens wurde im Jahr 2007 mit 11,8% der Gesamtausgaben ein höherer Betrag als für die Leistungen des Kultur-, Unterhaltungs- und sonstigen Dienstleistungssektors (insgesamt 7,1%) aufgewendet.

Insgesamt entfielen auf die tourismuscharakteristischen Aufwendungen rund 80% der Gesamtausgaben. Der Anteil der tourismusverwandten und nichttourismusspezifischen Produktionsbereiche machte ca. 20% des gesamten touristischen|59◄ ►60| Konsums aus, wobei davon etwas mehr als die Hälfte (55%) für Dienstleistungen verausgabt wurde.

Abbildung 18: Touristischer Konsum nach Produkten im Jahr 2007


Quelle: Statistik Austria, WIFO 2009. Daten. Rundungen können Rechendifferenzen ergeben. – 1) Urlaubs- und Geschäftsreisen; einschliesslich Verwandten- und Bekanntenbesuche; Aufwendungen bzw. „fiktive“ Miete. – 2) einschliesslich Strassenbahn, Schnellbahn, Autobus, Taxi & Parkhäuser, Betrieb von Bahnhöfen bzw. Flughäfen. – 3) Nur Spannen;Package-Teile sind in den jeweiligen Dienstleistungen enthalten (z. B. bei Buchung einer Schiffskreuzfahrt in einem Reisebüro: Die Dienstleistung wird dem „Wasserverkehr“ zugerechnet, die Position „Spanne“ verbleibt unter „Reisebüros bzw. -veranstalter“).

Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus bzw. sein Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung ist eine wichtige Kennziffer für die Wirtschaftspolitik. Zur Ermittlung dieser zentralen Kennziffer sind die TSA-Ergebnisse mit Berücksichtigung aller durch den Tourismus ausgelösten direkten und indirekten Effekte, aber unter Ausschluss der Dienst- und Geschäftsreisen darzustellen. Bei der Anwendung der Input-Output-Multiplikatoren auf die korrigierten TSA-Ergebnisse ergaben sich für das Jahr 2007 direkte und indirekte Wertschöpfungseffekte von 22,29 Mrd. EUR. Damit belief sich der Beitrag des Tourismus zur gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung (BIP) auf 8,2% (Abbildung 19). Für die Jahre 2008 und 2009 werden 8,4% bzw. 8,2% prognostiziert.

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Abbildung 19: Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Tourismus und Verkehr in Österreich


Quelle: Statistik Austria, WIFO 2009; – 1) Ohne Dienst- und Geschäftsreisen

Obwohl die Input-Output-Analyse durch ihre restriktiven Annahmen (z.B. keine Substitutionsmöglichkeiten und Skalenerträge oder fehlende Auslastungsüberlegungen) Unschärfen für das Ergebnis bedeutet, ist sie dennoch die einzige Methode, die eine systematische Erfassung aller direkten und indirekten Wertschöpfungseffekte des Tourismus erlaubt.

Im Hinblick auf die Ermittlung der volkswirtschaftlichen Bedeutung von Tourismus und Freizeit muss der Freizeitkonsum der Österreicher am Wohnort noch zusätzlich berücksichtigt werden. Der Freizeitkonsum in der gewohnten Umgebung ist eine verborgene Komponente des Inlandskonsums der Österreicher. Dieser besteht aus:

• Ausgaben für Inlandsreisen mit und ohne Übernachtung.

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• Ausgaben im Zuge des Besuchs von Zweitwohnungen (mit und ohne Übernachtung).

• Ausgaben in der gewohnten Umgebung.

Da der Inlandskonsum der Österreicher bekannt ist, können durch Isolierung der Ausgaben für Inlandsreisen sowie der Ausgaben im Zuge des Besuchs von Zweitwohnungen die Ausgaben in der gewohnten Umgebung berechnet werden. Nach der Berechnung des Residuums muss in einem nächsten Schritt die Aufteilung zwischen Freizeitkonsum und sonstigem privaten Konsum vorgenommen werden, wobei nicht nur Niveau-, sondern auch Struktur-Informationen notwendig sind. Um die Aufteilung zwischen Freizeitkonsum und sonstigem privaten Konsum vornehmen zu können, müssen Informationen bezüglich der spezifischen Freizeitanteile der verschiedenen restlichen Konsumpositionen herangezogen werden. Durch die Aufsummierung der einzelnen Positionen des im Detail ermittelten Freizeitkonsums ergibt sich der gesamte Freizeitkonsum der Österreicher in der gewohnten Umgebung bzw. am Wohnort.

Aufgrund fehlender Detailinformationen bezüglich Ausgabenstrukturen und der Freizeitanteile am restlichen privaten Konsum wurden öfters Schätzungen oder pragmatische Annahmen notwendig. Obwohl die meisten Freizeitanteile aus vorhandenen Erhebungen über die Verwendung des Zeitbudgets ableitbar waren, konnte öfters nicht klar ermittelt werden, ob die Freizeitaktivitäten in der gewohnten Umgebung oder woanders ausgeübt wurden. Aus diesen Gründen haben die für den Freizeitkonsum in der gewohnten Umgebung ermittelten Werte eher den Charakter von Größenordnungen als den Charakter von exakten statistischen Maßzahlen.

Laut neuesten Berechnungen wurden im Jahr 2007 für den Freizeitkonsum der Inländer am Wohnort 25,26 Mrd. EUR aufgewendet. Nach Anwendung der Input-Output-Multiplikatoren ergaben sich dadurch direkte und indirekte Wertschöpfungseffekte von 21,04 Mrd. EUR. Der Beitrag des Freizeitkonsums der Inländer am Wohnort zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung betrug damit 7,8%. Im Jahr 2008 dürfte dieser Wert unverändert geblieben sein, für 2009 liegen die Erwartungen bei 7,9%.

Bei einer Gesamtbetrachtung der inlandswirksamen Aufwendungen für den nicht touristischen Freizeitkonsum am Wohnort und den touristischen Konsum wird die beachtliche Dimension der gesamten Tourismus- und Freizeitwirtschaft deutlich:

• Die für das Jahr 2007 ermittelten direkten und indirekten Wertschöpfungseffekte ergaben ein Volumen von 43,33 Mrd. EUR.

|62◄ ►63|

• Der Beitrag der gesamten Tourismus- und Freizeitwirtschaft zum BIP erreichte damit 16%.

• Im Jahr 2008 dürfte das Gewicht des Sektors an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung 16,1% betragen haben. Für 2009 wird mit demselben Wert gerechnet.

Tourismuslehre - Ein Grundriss

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