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Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (Mittwoch, 5. August)

«Dass ich das noch erleben darf, das ist unglaublich!»

Fiona Decorvet konnte ihre Begeisterung nicht für sich behalten, wollte – ja musste – sie mit ihren vier Freundinnen teilen. Grund ihrer Freude war das Gemälde Die Heimkehr des verlorenen Sohnes von Rembrandt Harmenszoon van Rijn, der Weltöffentlichkeit hauptsächlich durch seinen Vornamen bekannt.

Das Werk des niederländischen Malers aus dem Barock (1606–1669) zeigt dem Betrachter einen Vater, der seinem Sohn das sündhafte Leben vergibt. Es bezieht sich auf die Geschichte des verlorenen Sohns im Lukas-Evangelium, Kapitel 15, Verse 11–32, und lässt vermuten, dass der dargestellte Vater im Grunde genommen ein Selbstporträt von Rembrandt sein könnte. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes ist eines der letzten Werke des Malers und, nebst Der Mann mit dem Goldhelm oder Die Nachtwache, eines der bekanntesten Gemälde Rembrandts, der es wie kein Zweiter verstand, in seinen Bildern mit dem Effekt von Licht und Dunkelheit Einzigartiges und Atemberaubendes zu schaffen.

Die 59-jährige Fiona Decorvet, Berner Altstadt-Galeristin mit einer zweiten Niederlassung an der Zürcher Bahnhofstrasse, stand nicht zufälligerweise vor dem Bild. Zusammen mit ihren vier Freundinnen hatte sie noch vor den letzten Weihnachtstagen beschlossen, den jährlich stattfindenden Mädels-Ausflug dieses Mal nach Sankt Petersburg zu unternehmen. Vorletztes Jahr waren die Damen in Breslau, europäische Kulturhauptstadt 2016, im vergangenen Sommer in Bordeaux, das sich in den letzten Jahren zum eigentlichen Kulturtipp entpuppt hatte. Begleitet wurde Fiona Decorvet, die nach zweifacher Scheidung alleine in Schwarzenburg lebte, von ihren vier Freundinnen: Von Luzia Cadei, einer Bündnerin, die als Direktionssekretärin arbeitete; von der Schauspielerin Prisca Antoniazzi; von Ruth Bär, Mäzenin, mit einem Multimillionär verheiratet, und von Ruth Gnädinger, Kunstschaffende aus Schaffhausen und weithinaus noch mit dem verstorbenen Schauspieler Mathias Gnädinger verwandt.

Vor allem die Galerie in Zürich hatte sich in den letzten Jahren – nachdem sich der Kunsthandel von einer weltweiten Schwindsucht erholt hatte – für Fiona Decorvet als Goldgrube erwiesen. Werke von Andy Warhol, Keith Haring und Roy Lichtenstein wechselten via Galerie Avantgarde ebenso die Besitzer wie Arbeiten von Franz Gertsch, Gerhard Richter oder Annie Leibovitz. Geführt wurde die Galerie von der 43-jährigen Victorija Rudenko, die 1986 nach dem Super-GAU in Tschernobyl aus der Nachbar- und heutigen Geisterstadt Prypjat mit ihren Eltern zuerst nach Kiew, wenig später nach Zürich zügelte, wohin ihr Vater ans Physik-Institut der Universität Zürich als Dozent berufen wurde. Aber auch die Erfolge der Berner Galerie Avantgarde – nicht mit der tatsächlich existierenden Boutique gleichen Namens an der Kramgasse zu verwechseln – konnten sich sehen lassen, obwohl die Kunstsammlerinnen und -sammler in der Bundesstadt – bekannte Politiker, ranghohe Beamte und Diplomaten – weit mehr auf Diskretion aus waren als die Käuferschaft in der Limmatstadt. Dort gehörte es zum guten Ton, den neuesten Ankauf gezielt unter die Leute zu bringen, um auf sich aufmerksam zu machen, meistens per Boulevardzeitung und Hochglanzmagazin.

«Nur einmal im Leben so ein Werk vermitteln zu können …», Fiona Decorvet stiess dabei am frühen Nachmittag einen Seufzer aus, «das wäre schon ein Riesending!», war jedoch den bekannten Auktionshäusern wie Christie’s oder Sotheby’s vorbehalten. Die Galeristin wollte ausführlich über das Bild referieren, sah sich aber mit ihren Begleiterinnen gezwungen, der russischen Reiseführerin Tatyana mit ihrer gut sichtbaren Tafel Imperator 8 zu folgen. Follow the guide.

Die Reise nach Sankt Petersburg hatte die kleine Truppe durch Vermittlung einer bekannten Schweizer Reiseagentur gebucht. Es handelte sich um eine kulturelle Kurzreise mit jeweils zwei zweitägigen Aufenthalten in Sankt Petersburg und in Stockholm, am Mittwoch/Donnerstag respektive Freitag/Samstag. Die Hinreise erfolgte mit Aeroflot ab Zürich nach Sankt Petersburg, die Rückreise vom ehemaligen Leningrad nach Hamburg via Stockholm mit dem erst vor wenigen Wochen eingeweihten Kreuzfahrtschiff Alberta Imperator, welches aus Riga und Tallinn einfuhr und Platz für knapp 800 Passagiere und etwa 500 Crewmitglieder bot. Es handelte sich dabei um ein schwimmendes Luxushotel der Extraklasse, gegen andere Kolosse der Weltmeere vergleichsweise klein. Entsprechend teuer schlugen die Passagen zu Buche, die sich die fünf Damen allerdings nicht vom Munde absparen mussten, hatten sie alle doch ein genügend grosses finanzielles Polster. Das Kommando an Bord lag bei Capitano Enrico Tosso, einem 45-jährigen Genuesen aus einer bekannten Seefahrerfamilie.


Die Heimkehr des verlorenen Sohnes von Rembrandt in der Eremitage St. Petersburg. Foto: Fiona Decorvet, die das Bild ihren vier Freundinnen zeigt. Mit freundlicher Genehmigung von The State Hermitage Museum, St. Petersburg.

Während der beiden Tage in Sankt Petersburg bekam das Quintett all das zu sehen, was man in und um die zweitgrösste Stadt Russlands mit fünf Millionen Einwohnenden in so kurzer Zeit besichtigen konnte, unter anderem den Winterpalast mit der Eremitage, den Katharinenpalast in Puschkin mit dem nachgebauten Bernstein-Zimmer, Schloss Petershof mit einem 150 Hektaren grossen Park, die Peter-Paul-Kirche oder die Bluterlöser-Kirche.

«Auch wenn wir immer in Bewegung sind hier im Winterpalast und der Eremitage», stellte Luzia Cadei fest, «zum Glück haben wir eine offizielle Gruppe gebucht. Nicht auszudenken, wenn wir als Privatpersonen vor dem Eingang warten müssten.» In der Tat: Touristengruppen wurden, offiziell angemeldet, innerhalb eines ganz bestimmten Zeitfensters eingelassen, sodass die Wartezeit jeweils kaum mehr als eine Viertelstunde betrug, trotz Tausenden von Besucherinnen und Besuchern vor den klassischen Sehenswürdigkeiten. Schlüssel zum Erfolg bei derart vielen Besuchern war, dass die Gruppen von ihren Führerinnen ständig in Bewegung gehalten wurden, sodass sich keine Staus bilden konnten. Aber eben: Sich vor einem Kunstwerk Zeit nehmen, das konnte man nicht. Im Gegensatz dazu standen sich private Gäste nicht selten bis zu vier Stunden die Füsse in den Bauch, bevor ihnen Einlass gewährt wurde. Wenn überhaupt. Und ohne Russischkenntnisse wäre es ohnehin sinnlos gewesen, aufbegehren zu wollen.

Die fünf Reisenden hatten für die erste Nacht die Qual der Wahl ihrer Übernachtung in Sankt Petersburg: entweder auf dem Schiff oder aber im Hotel. Die Alberta Imperator lag zwei Tage im Cruiseterminal in unmittelbarer Nähe des modernen, mit einer Milliarde Euro für die Weltmeisterschaften 2018 gebauten Fussballstadions vor Anker. Genauso konnten sie im Park Inn Pribaltiyskaya nächtigen, welches ebenso in der Nähe vom Schiffshafen lag und mit fast 1200 Zimmern das grösste Hotel der Stadt war. Die Schweizerinnen entschieden sich – wenn schon, dann schon – erwartungsgemäss für das Schiff, mit zwei Aussenkabinen und Balkon und einer Aussenkabine mit Balkon zur Alleinbenutzung durch Fiona Decorvet, wobei ihre Kabine nicht auf der gleichen Etage wie jene ihrer Mitreisenden lag, sondern ein Deck höher. Registriert wurden Luzia Cadei, Prisca Antoniazzi, Fiona Decorvet, Ruth Bär und Ruth Gnädinger unter den Passagiernummern 2017–2021, dies als Folge der chronologisch erfolgten Reservationen seit Buchungsbeginn. Eingecheckt hatte die Gruppe am späteren Vormittag, da das Flugzeug bereits um 10 Uhr in St. Petersburg gelandet war.

An diesem Abend unterliessen es die Damen, für ihr Nachtessen auf das Kreuzfahrtschiff zurückzukehren, und assen in der Stadt. Danach stand nämlich ein weiterer Höhepunkt an: das Ballett Cinderella in drei Akten von Sergei Prokofjew im Mariinsky-Theater mit dem Kirov-Ballett.

Am nächsten Tag, Donnerstag, 6. August, verliess die Alberta Imperator bei schönstem Wetter um 17 Uhr das Cruiseterminal in St. Petersburg, um Kurs auf das 363 Seemeilen entfernte Stockholm zu nehmen. Unübersehbar in den ersten Minuten nach dem Ablegen: der neue Hauptsitz von Gazprom am Rande der Stadt, ein Turm von über 450 Meter Höhe, den das Unternehmen nur zu gerne im Zentrum als neues Wahrzeichen Sankt Petersburgs gebaut hätte, was zum Glück jedoch verhindert werden konnte.

Die fünf Freundinnen standen auf dem obersten Deck, alle mit einem Glas Champagner in der Hand, in grosser Vorfreude auf die schwedische Hauptstadt, die am nächsten Morgen um 10 Uhr erreicht werden sollte. Vor allem die letzten beiden Stunden vor dem Anlegen in Stockholm boten Natur vom Schönsten, führten sie doch an vielen kleinen Schären und Inseln vorbei.

«Fiona, zum Mitschreiben für uns», scherzte Prisca Antoniazzi, ihren Freundinnen zuprostend, «in welcher Reihenfolge genau werden wir in Stockholm die Sehenswürdigkeiten beehren?» Ihrer Frage hängte sie – in korrektem Schwedisch und zur grossen Überraschung – gleich ein weltbekanntes Lied an, das mit Tjolahopp tjolahej tjolahoppsan-sa, här kommer Pippi Långstrump, ja, här kommer faktisk jag endete und zu einer einarmigen Ola-Welle ihrer Mitreisenden führte, was wiederum nichts anderes bewies, als dass die Frauen in aufgeräumter Stimmung waren, was definitiv nicht auf das eine Glas Champagner zurückzuführen war.

«Also, ihr Lieben – nein, ihr Liebsten! –, gut aufpassen: Zieht eure Sportschuhe an, denn morgen und übermorgen werden wir zusammen zwischen 20 und 30 Kilometer zu Fuss absolvieren», verkündete Fiona, was zu Erstaunen führte. «Die Stadt kann man vom Schiff aus gut zu Fuss erreichen, wie mir eine schwedische Künstlerin erzählt hat, das Zentrum liegt nur knapp drei Kilometer entfernt. Und einmal dort angelangt, werden wir die Altstadt besichtigen, die Gamla Stan, sicher aber auch das Vasa-Museum, das ABBA-Museum, den Königspalast.»

«Kein Museum für Pippi Langstrumpf?»

«Nein, Prisca, von einem eigentlichen Museum für Pippi oder Astrid Lindgren in Stockholm selber weiss ich nichts. Allerdings gibt es im Vergnügungspark Junibaken ein Kindermuseum, wo man auf seine Kosten kommt, auch in Bezug auf Pippi Langstrumpf», führte Fiona aus.

«Nein, muss nicht sein, ich vermute ohnehin, dass zu Vasa, ABBA und dieser Gamla noch einige Kirchen dazukommen werden», weissagte Prisca.

«Prisca, du bist eine Schlaue, wie immer», kam es lachend von Fiona zurück, worauf sich die Frauen nach einigen Minuten in Richtung ihrer Kabinen zurückzogen.

Abends wurde den Passagieren ein Gala-Diner serviert, wobei diese Feststellung nur die Kleidung der Gäste betraf, denn die Abendessen waren jeden Tag Gala-Essen an sich. Um 21 Uhr liess sich das helvetische Trüppchen von einer stündigen Show im grossen Theatersaal, von einem Bauchredner und einer Tanzgruppe begeistern, bevor man sich zum Schlummerbecher in einer der vielen Bars traf.

Es war keine eigentliche Überraschung, dass am nächsten Morgen Fiona, Luzia, Prisca und die beiden Ruth sich – ohne dies untereinander abgesprochen zu haben – bereits um 7 Uhr auf dem obersten Deck der Alberta Imperator trafen, um die grossartige Landschaft vor Stockholm nicht zu verpassen.

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