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Samstag, 31. Juli 2021, 13.25 Uhr

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Der Juli verabschiedet sich mit stolzen 35 Grad aus der bayerischen Landeshauptstadt. Die Wetter-App auf meinem iPhone hatte ja bereits von dieser für mein Empfinden subtropischen Temperatur gesprochen, aber wie weit kann man diesen Softwaremeteorologen schon trauen… Als ich das vierstöckige Mehrfamilienhaus an der Einsteinstraße verlasse und gegen eine regelrechte Hitzewand pralle, werfe ich im Vorbeigehen einen Blick auf das gute alte analoge Thermometer, das einer meiner Nachbarn außen auf seinem Fenstersims im Erdgeschoss angebracht hat. Tatsächlich, 35 Grad.

Sommer und Sonne waren noch nie meine besten Freunde. Meine Mitmenschen schauen mich immer bisschen schräg an, wenn ich von meiner Vorliebe für Kälte, Schnee und Eis erzähle. Und das, obwohl ich mit Wintersport nie etwas anfangen konnte. Aber ich fühl mich bei Temperaturen über 20 Grad einfach nicht wohl. Das war schon immer so und wird auch immer so sein. Punkt.

„Don’t pay attention to it“, hatte mir meine Bekannte Irina mal geraten, als wir irgendwann einen Spaziergang bei knapp über 30 Grad machten und ich neben ihr regelrecht dahinschmolz – nicht wegen ihres zugegeben atemberaubenden Aussehens in diesem Kirschmusterkleidchen, sondern weil mir die Hitze so zusetzte, dass ich kaum ihren Worten folgen konnte. Und Irina, die ursprünglich aus Russland stammt und trotz ihrer bereits mehrjährigen Verweildauer in München nach wie vor fast nur Englisch mit mir spricht, hat immer besonders viele Worte parat.

Grundsätzlich bestens gelaunt, sprudelt das Leben nur so aus ihr heraus. Und bei den entgegenkommenden Passanten, insbesondere bei meinen Geschlechtsgenossen, bin ich mir eigentlich nie sicher, ob ihre Blicke in unsere Richtung bewundernd oder mitfühlend gemeint sind.

Nun ja, wie auch immer, Irina ist schon ein Schneckerl. Ich hatte sie mal bei Tinder gedatet, aber es stellte sich beim ersten Treffen heraus, dass wir zwar auf einer Wellenlänge lagen, jedoch der gewisse Funke nicht nur nicht übersprang, sondern überhaupt nicht vorhanden war. Übrig blieben dafür regelmäßige und wirklich angenehme Spaziergänge. Zumindest bei Temperaturen bis maximal 20 Grad Celsius.

Schon wenige Meter nach der Haustür läuft mir der Schweiß den Rücken hinab. Ich folge der Einsteinstraße etwa hundert Meter in stadtauswärtiger Richtung, dann schleppe ich mich die gefühlten 500 Stufen zum Haidhauser Friedhof hinauf. Der Plan ist, die wunderschön angelegte letzte Ruhestätte mit ihren großen schattenspendenden Bäumen zu durchqueren und dann den Lidl-Discounter in der angrenzenden Kirchenstraße aufzusuchen, um die Leere meines Kühlschranks durch allerlei schmackhafte Köstlichkeiten zu ersetzen. Tatsächlich komme ich nur etwa 75 Meter weit, bevor ich mich erschöpft auf einem Bankerl unter einer mächtigen Rotbuche niederlasse.

Ich mag den Haidhauser Friedhof. Erstens hat meine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung keinen Balkon, so dass ich öfter hier sitze und lese, wenn mich nach frischer Luft, allerdings nicht nach körperlicher Anstrengung verlangt. Gut, die Maximiliansanlagen wären zwar landschaftlich reizvoller und auch nicht weit, vielleicht zehn Minuten zu Fuß – aber der Friedhof liegt eben direkt neben meinem Haus. Und zweitens übt dieser Ort irgendeine Art Magie auf mich aus. Wenn ich auf den Feinkieswegen dahinschlendere oder einfach nur, so wie jetzt gerade, auf einer Holzbank sitze, fühle ich immer eine angenehme Ruhe in mir aufsteigen. Ja, ich bin wirklich gern hier, auch wenn es Freunden immer schwer zu vermitteln ist, dass mein Münchner Lieblingsort ausgerechnet ein Friedhof ist, noch dazu einer der eher kleineren.

Ein älterer Herr, der zu meinem Erstaunen über dem langärmeligen Hemd noch eine Strickjacke trägt, geht vorbei und grüßt freundlich. Ich schenke ihm ein Lächeln und hebe die Hand. Ich weiß, dass der Herr noch etwa zwanzig Meter geradeaus gehen und danach zwischen zwei Grabstätten hindurch in die zweite Reihe treten wird. Ich hab ihn schon paarmal hier gesehen. Seinen Namen kenne ich nicht, aber er besucht immer eine Ruth Sibling, die vor mehr als zehn Jahren von dieser Welt gegangen ist. Vom Alter her könnte es seine Frau gewesen sein. Oder seine Schwester. Ich beobachte ihn, wie er ein bisschen Unkraut zwischen den Blumen zupft. Dann erhebt er sich mühevoll und verharrt mit gesenktem Kopf im Gedenken. Aus Respekt wende ich den Blick ab.

Ein Schweißtropfen läuft mir genau ins rechte Auge. Aus der Tasche meiner dunkelblauen Bermuda-Shorts fische ich ein sorgfältig zusammengefaltetes Zewa-Papiertuch hervor und wische mir damit übers Gesicht.

Direkt neben dem Zugang an der Südseite, an der Ecke Flurstraße und Kirchenstraße, befindet sich ein kleines gemauertes Mehrzweckgebäude mit öffentlichen Toiletten und einem Büro für den Friedhofswärter. Hans ist gerade dabei, den ebenfalls integrierten Aufbahrungsraum abzusperren. Wie immer trägt er seine schwarze Dienstkleidung samt Schirmmütze mit dem Logo des Städtischen Bestattungsdienstes. Trotzdem ist kein Tropfen Schweiß auf seinem Gesicht zu sehen. Faszinierend. Ich rufe ihm im Vorbeigehen ein freundliches Grüß Gott zu. Mit einer Geschwindigkeit, die man ihm angesichts seines fortgeschrittenen Alters gar nicht zutrauen würde, wirbelt er herum und erwidert den Gruß. Man kennt sich, ich bin ja öfter hier. Und er eigentlich immer.

Im Lidl ist wie immer die Hölle los. Die Menschen laden Mehl-, Fleisch- und Fischprodukte in die Einkaufswägen, als seien ab morgen alle Lebensmittelgeschäfte in München dauerhaft geschlossen. Ich stopfe etwas Gemüse, Joghurt, Nudeln und einige Fertigsaucen im Glas in meinen örtlich hier nicht ganz passenden Aldi-Stoffbeutel, lasse dafür 17,92 Euro an der Kasse zurück und trete den Heimweg an.

Als ich den klimatisierten Discounter verlasse und ins Freie schreite, verschlägt mir die heiße Luft erneut fast den Atem, und der Stoffbeutel fühlt sich schlagartig einige Kilo schwerer an. Da ich nichts Tiefgefrorenes gekauft hab, gönne ich mir auf dem Rückweg, der wieder über den schattigen Friedhof führt, eine kleine Pause auf einem meiner Lieblingsbankerl, direkt an der Ostmauer zwischen den Ruhestätten eines Oskar Garmond und einer Cecilia Schneiderreuth. Letztere weist der Grabstein als „Maurermeisterswitwe“ aus, so wie es früher üblich war.

Cecilia hat uns schon vor mehr als 50 Jahren verlassen, und oft hab ich beim Vorbeikommen den Eindruck, dass sich die Nachkommen eher schlecht als recht um die Grabpflege kümmern. Weswegen ich schon einige Male ein paar Minuten geopfert und Unkraut ausgerissen hab. Oskars Grabstätte hingegen wirkt immer wie gestern erst frisch angelegt.

Während ich mir ein weiteres Mal den Schweiß von der Stirn wische, bemerke ich zum ersten Mal, dass Cecilia und Oskar im selben Jahr und zudem im selben Monat gestorben sind. Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen, obwohl ich nach all den Jahren mit den Geburts- und Sterbedaten der meisten Friedhofsbewohner recht gut vertraut bin.

In etwa 40 Metern Entfernung fällt mir eine junge Frau auf, die andächtig inmitten der Gräber steht, den Kopf leicht gesenkt. Das Gräberfeld mit der Nummer 131 gehört zum ältesten Teil des Friedhofs und beinhaltet auch einige letzte Ruhestätten von Menschen, die zum Zeitpunkt ihres Todes entweder keine Verwandten mehr hatten oder deren Identität unklar war, so dass gemäß Bestattungsgesetz die Kommune, also die Landeshauptstadt München, die Beerdigung übernehmen musste. Entsprechend schlicht wirken die Grabsteine oder einfachen Holzkreuze, in denen teilweise nicht mal ein Name eingraviert ist.

Manchmal kommen ältere Menschen hierher, pflanzen ein paar Blümchen oder stellen eines der roten Grablichter auf, die sie für zwei Euro aus dem Automaten am Nordeingang gezogen haben. In der Regel jedoch besteht der einzige Grabschmuck aus einem regelmäßigen Schnitt des überdeckenden Rasens. Sogar Friedhofswärter Hans verirrt sich nur selten nach Nummer 131. Einsamkeit über den Tod hinaus.

Während mir selbst hier auf meinem schattigen Bankerl der Schweiß inzwischen in Strömen von der Stirn läuft, registriere ich erstaunt und bewundernd zugleich, dass sich die junge Frau überhaupt nicht zu bewegen scheint – und das schon seit Minuten, obwohl Gräberfeld 131 eines der wenigen Fleckchen des Haidhauser Friedhofs ohne Beschattung durch einen der mächtigen Bäume ist. Sie trägt Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber eine hellblaue Weste. Die Hände hält sie nach wie vor gefaltet, der Kopf wiegt leicht hin und her.

Die Frau scheint hart im Nehmen zu sein, denke ich. Gleichzeitig fallen mir meine Einkäufe ein. Vor allem der Joghurt braucht langsam, aber sicher ein kühleres Plätzchen. Ich stehe auf, hänge mir meinen Stoffbeutel über die rechte Schulter und mache mich auf den Weg.

Als ich an Nummer 131 vorbeikomme, riskiere ich verstohlen einen Blick auf das Gesicht der Frau. Sie scheint jünger zu sein, als es auf die Entfernung gewirkt hatte. Ich schätze sie auf etwa 23 Jahre. Eine Strähne ihres blonden Haars ist ihr ins Gesicht gefallen, doch sie scheint es nicht zu bemerken. Ihr Blick ruht auf dem Grabstein direkt vor ihr. „Ruhe in Frieden“ steht darauf geschrieben. Aus rund zehn Metern Distanz kann ich das natürlich nicht lesen, aber ich weiß es eben, weil mich meine unzähligen Spaziergänge über den Haidhauser Friedhof auch diverse Male quer über Nummer 131 geführt haben. „Ruhe in Frieden.“ Sonst nichts. Etwas einfallslos, aber besser als nichts. Kein Name. Kein Geburtsdatum, kein Sterbetag. Die junge Frau mit den – wie ich jetzt eindeutig erkenne – osteuropäischen Gesichtszügen verharrt vor einem der namenlosen Gräber.

Ich verlangsame meine Schritte und bleibe schließlich stehen. Von der nahen vielbefahrenen Einsteinstraße dringt Verkehrslärm durch das Friedhofsgrün herüber. Ein älteres Ehepaar flaniert an mir vorbei, sie mit zwei Blumentöpfen in der Hand, er mit einer der grünen Gießkannen bewaffnet, die an den vielen kleinen Brunnen für die Bewässerung der letzten Ruhestätten bereitstehen. Die Frau blickt mich etwas missmutig an, wahrscheinlich weil ich mitten auf dem Weg herumstehe. Der Mann indessen scheint mich nicht mal zu bemerken. Wer weiß, wo seine Gedanken gerade sind.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich die junge Frau auf Nummer 131 wie ein Idiot anstarre. Ich komme mir blöd vor, erinnere mich an meine Einkäufe und will mich gerade wieder auf den Weg machen, als sie unvermittelt den Kopf in meine Richtung dreht. Unsere Blicke treffen sich, und ein wohliger Schauer läuft mir den Rücken hinunter.

Die Frau ist unglaublich hübsch. Ihre Gesichtszüge sind weich wie Seide. Obwohl kein Lüftchen geht, scheint es als würde ein sanfter Wind durch ihr Haar dringen. Das Faszinierendste an ihrer schlanken Erscheinung sind die Augen, die mich durchdringend mustern. Dunkle Seen, in die man eintauchen möchte, mit einem seltsamen Flackern. Wie ein Leuchtfeuer am Horizont.

Für eine Weile scheint die Zeit stillzustehen. Dann verzieht sie den Mund zu einem schüchternen Lächeln, das perlweiße Zähne entblößt. Obwohl ich schwören könnte, dass ich absolut bewegungsunfähig bin, registriere ich, dass ich langsam auf sie zu gehe. Ich lächle ebenfalls, wobei ich sicher bin, dass es bei mir eher ein dümmliches Grinsen ist. Jedenfalls nicht zu vergleichen mit dem ihrigen. Nach einigen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit scheinen, stehe ich schließlich vor ihr. Sie lächelt immer noch.

„Hallo“, krächze ich, weil mir sonst nichts einfällt. Mein Kopf ist wie leer. Der Stoffbeutel fühlt sich mit einem Mal an wie Blei und drückt auf meine Schultern. Diese Augen… Ich suche in meinen Gehirnzellen nach einem ansatzweise passenden Vergleich, finde aber keinen.

„Ich habe Dich schon oft gesehen.“ Ihre Stimme jagt mir augenblicklich eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Sie klingt deutlich erwachsener als die Frau zu sein scheint. Der osteuropäische Akzent ist unverkennbar. Ich tippe auf Russland, bin mir aber nicht sicher.

„Ja, ich bin regelmäßig hier“, erwidere ich, „ich wohne gleich da drüben.“ Der Zeigefinger meiner rechten Hand deutet in die vollkommen falsche Richtung. „Und Du? Bist Du auch aus der Gegend?“, frage ich. Sie sagt nichts, sondern blickt mich weiter unverwandt an. Nach einer Weile haucht sie ein „Ja“. Es klingt irgendwie traurig, und das Lächeln auf ihren Lippen erstirbt. „Seit ein paar Jahren. Ursprünglich komme ich aus der Russischen Föderation“, erklärt sie mir. Dann wendet sie sich ab, blickt wieder auf das Grab zu ihren Füßen und senkt leicht den Kopf.

Ich folge ihrem Blick. „Ruhe in Frieden.“ Der Grabstein ist deutlich verwittert. Er lag schon hier, als ich vor etwas mehr als zwei Jahren nach Haidhausen gezogen war. Verstohlen wische ich mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Eine Weile sagt keiner von uns ein Wort. „Weißt Du, wer hier begraben ist?“, frage ich schließlich. Sie nickt, etwas zögerlich. „Jemand, der sein Glück gesucht hat, aber nicht erfolgreich war“, antwortet sie leise. Die Antwort erstaunt mich, weil meines Wissens niemand die Menschen kennt, deren Gebeine in den namenlosen Gräbern auf Nummer 131 ruhen.

Ich erinnere mich an einen kleinen Plausch mit Hans, irgendwann im Spätsommer 2019. Er bereitete sich gerade auf den Feierabend vor, als ich an seinem Büro vorbeispazierte und mich eigentlich nur nach den Schließzeiten des Friedhofs im Winter erkundigen wollte. Hans hatte noch einen Rest Kaffee in der altersschwachen Maschine auf dem wackeligen Regal und lud mich ein. Einen scheußlicheren Kaffee hatte ich bis dato nur bei meinem besten Freund Dennis getrunken, aber natürlich sagte ich ihm das nicht, sondern schüttete das pechschwarze Gebräu tapfer in mich hinein. Hans unterhielt mich unterdessen mit Geschichten über den Friedhof – und davon kannte er eine ganze Menge, arbeitete er doch schon mehr als 25 Jahre hier.

Irgendwann kam unser Gespräch auf Gräberfeld 131. „Vor Gott sind alle Menschen gleich, also dürfen sie auch alle hierher zu uns“, meinte Hans damals. „Auf 131 findet jeder eine letzte Heimat, ganz gleich, wer er früher war.“ Was man ja in der Regel sowieso nicht wusste, da die meisten Toten ohne geklärte Identität waren.

„Und woher weißt Du, wer hier liegt?“, frage ich die Frau, doch ich bekomme keine Antwort. Stattdessen schaut sie mich stumm an. Ihre dunklen Augen leuchten, so intensiv, dass ich den Blick abwenden muss. „Ich muss jetzt gehen“, sagt sie, dreht sich ohne ein weiteres Wort um und geht langsam zwischen den Grabreihen hindurch in Richtung Ausgang.

Jemand ruft „Warte!“, und zu meinem eigenen Erstaunen bemerke ich, dass ich es selbst war. Sie bleibt stehen, hält mir aber weiter den Rücken zugewandt. Jetzt oder nie. Sie sagte, sie hat mich schon öfter hier gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich selbst ihr hier schon mal begegnet war. Aber ich weiß eins ganz sicher: Ich muss sie wiedersehen.

„Sehe ich Dich wieder?“, frage ich in einem Anfall grenzenlosen Mutes. Sie dreht sich langsam zu mir herum und schaut mich durchdringend an. Der Hauch eines Lächelns zeigt sich auf ihren Lippen, und das Feuer in ihren Augen lodert gewaltig.

„Wenn Du es möchtest“, zwinkert sie mir zu. Einige Sekunden später ist sie verschwunden.

Wachsmädchen

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