Читать книгу Wachsmädchen - Thomas Bosch - Страница 5
Donnerstag, 12. August 2021, 20.44 Uhr
Оглавление„Ich war schon ein oder zweimal hier seit unserer Begegnung, aber ich hab Dich leider nicht mehr gesehen.“ Mit der rechten Schuhspitze male ich Kreise in den Kies vor dem Holzbankerl, auf dem wir beide Platz genom-men haben. „Ich weiß“, lächelt sie vielsagend, ohne mich anzusehen. „Vielleicht war es auch drei- oder viermal“, ergänze ich. Die Kreise sind inzwischen zu einem schiefen Achter geworden. „Möglicherweise“, antwortet sie. Mit der linken Hand wischt sie sich eine Strähne ihres goldenen Haares aus dem Gesicht und wirft dabei den Kopf leicht in den Nacken. Ich bin sicher, dass ich jeden Moment in Ohnmacht falle.
Jetzt, da uns nur wenige Zentimeter voneinander trennen, tasten meine Augen jeden Quadratmillimeter ihres Gesichts ab. Sie muss Anfang zwanzig sein, schätze ich, allerhöchstens 25 Jahre. Ihre Haut ist so makellos wie sie nur sein könnte, unzählige Sommersprossen haben sich auf und um ihre Nase herum verteilt. Ihr Blick ist auf den Kiesweg gerichtet, nachdenklich, unnahbar. Sie wirkt so zerbrechlich – und gleichzeitig kühl und hart, so wie es typisch für junge Osteuropäerinnen ist. In den vergangenen zwei Wochen habe ich viele Worte gesammelt für den Fall unseres Wiedersehens. Aber jetzt will mir kein einziges davon einfallen. Also blicken wir beide stumm vor uns hin, allerdings ohne dass das Schweigen einem von uns irgendwie unangenehm wäre. Ich gestehe mir ein, dass ich mich wohl fühle, hier neben dieser unbekannten jungen Frau. Von mir aus könnte dieser Moment bis in alle Ewigkeit andauern.
„Du fragst Dich, was ich hier mache, stimmt’s?“ Ihr Akzent deutet wieder auf die Russische Föderation oder die Ukraine hin. Viel Ahnung habe ich zugegeben nicht, aber meine gescheiterte Ehe mit einer Frau aus St. Petersburg und die langjährige Bekanntschaft mit Irina haben mir eine Art Grundwissen über slawische Sprachen verpasst.
Ich bestätige ihre Vermutung und zucke dabei leicht mit den Schultern. „Letztes Mal bist Du sehr nachdenklich vor einem der namenlosen Gräber da drüben gestanden“, sage ich und deute dabei mit dem Zeigefinger in die ungefähre Richtung von 131. „Da sieht man eher selten jemanden stehen“, füge ich hinzu. Mir wird bewusst, dass es auf eine junge Frau wahrscheinlich merkwürdig wirkt, wenn sich ein Mann meines im Vergleich zu ihr zwar fortgeschrittenen, insgesamt jedoch noch recht rüstigen Alters oft auf Friedhöfen herumtreibt. „Zumindest habe ich noch nie jemanden dort gesehen, wenn ich ab und zu hier vorbeikomme“, ergänze ich deshalb rasch.
Sie dreht den Kopf zu mir. „Das ist sehr traurig. Auch diese Menschen haben es verdient, dass jemand sie besucht. Denkst Du nicht?“ Ich stimme ihr zu und berichte wahrheitsgemäß, dass ich sogar manchmal dort etwas Unkraut zupfe oder ein Grablicht aufstelle. Okay, ein einziges Mal bisher. Aber immerhin. Letzteres behalte ich natürlich für mich.
„Und das Grab, vor dem Du neulich so lange innegehalten hattest, war ein Besuch?“, versuche ich an meine ursprüngliche Frage anzuknüpfen. „Es liegt eine Frau dort“, entgegnet sie knapp. Ein leichter Wind kommt auf und lässt das Laub in den Bäumen über uns rascheln. „Und…“, fährt sie nach kurzem Zögern fort, „ich habe sie schon mal gesehen.“
Sie registriert wohl den erstaunten Ausdruck in meinem verschwitzten Gesicht und erklärt mir mit gesenkter Stimme: „Ich war dabei, als die Leiche gefunden wurde. Vor einigen Jahren, im Frühsommer, am Wasser. Ich habe alles gesehen. Die Polizei. Die Männer in den weißen Schutzanzügen. Das schwarze Auto mit dem großen Kreuz an der Seite.“
Sie spricht jetzt schnell. Die Worte kommen stoßweise aus ihrem Mund. Und während sie spricht, knetet sie die Hände in ihrem Schoß. Es sind makellose Hände mit heller Haut und manikürten Fingernägeln. Hände, die keine körperliche Arbeit gewohnt sind. Ich spüre ihre innere Unruhe, während sie erzählt, und bin in Versuchung, meine Hand auf die ihre zu legen, um sie zu beruhigen. Aber so mutig bin ich dann doch nicht. Stattdessen lausche ich einfach ihrer Erzählung.
„Bestimmt steckt ein trauriges Schicksal hinter diesem schrecklichen Ereignis“, meint sie und nickt wie zur Bestätigung heftig mit dem Kopf. Als ich die einzelne Träne bemerke, die ihr über die linke Wange rollt, bricht es mir fast das Herz. „Eine unerfüllte Liebe… vielleicht… bestimmt… ein geplatzter Traum… zerstörte Hoffnung… wer weiß…“ Dann fängt sie sich wieder, fährt sich mit dem Handrücken über die Wange und richtet den Blick wieder starr geradeaus.
„Als ob sie mehr wüsste als sie sagt“, schießt es mir durch den Kopf. Ich verwerfe den Gedanken aber schnell wieder. Definitiv hat der Anblick einer Toten eine Wunde auf ihrer jungen Seele hinterlassen, und wahrscheinlich tut es ihr gut, alles zu erzählen. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander, und ich spüre, dass für den Augenblick alles gesagt ist. Verstohlen werfe ich einen Blick auf meine Apple Watch. Es ist bereits weit nach 21.00 Uhr, und die Dunkelheit bricht über den Haidhauser Friedhof herein. Trotzdem zieht es mich nicht nach Hause, selbst wenn ich genau weiß, dass um 4.45 Uhr mein Wecker läuten wird. Die junge Frau scheint es auch nicht eilig zu haben.
Plötzlich fällt mir etwas ein: „Ich muss gestehen, dass ich mich nicht an Deinen Namen erinnere“, gebe ich kleinlaut zu. Sie lächelt mich an: „Ich hatte ihn Dir noch gar nicht gesagt. Ich bin Katja.“ Logisch. Katja. Alle Osteuropäerinnen heißen Olga, Svetlana, Evgenia, Maria oder eben Katja, wobei das in der ehemaligen Sowjetunion eher selten ein eigenständiger Name ist, sondern vielmehr die Kurzform von Katharina. Und natürlich ist das nur ein Klischee. Frauen aus Russland meinen wahr-scheinlich auch, dass deutsche Männer alle Peter, Michael, Robert oder Stefan heißen. Jedenfalls… ich mag ihren Namen auf Anhieb.
Mein Freund Dennis hat mal gesagt, dass allein schon der Name einer russischen Frau pure Erotik sei. Eine blöde Aussage, aber sie passt zu Dennis wie die Faust aufs Auge. Wir kennen uns seit mehr als 20 Jahren, haben einiges gemeinsam erlebt und in vielerlei Hinsicht denselben Geschmack – zum Beispiel was Frauen angeht. Meine geschiedene Ehefrau hab ich damals über eine Kontaktbörse im Internet kennengelernt. Die Empfehlung dazu kam von Dennis, der dort ebenfalls lange Zeit auf Partnersuche war. Bei ihm blieb es jedoch bei einem Beinahe-Date, denn die Dame seiner Wahl, die er nach kurzem Briefwechsel zu sich nach München eingeladen hatte, war schlichtweg nicht aufgetaucht. Danach wollte Dennis nie wieder etwas mit Frauen zu tun haben – und traf sechs Monate später seine heutige Lebensgefährtin Yulia aus Krasnodar, die in München Sprachwissenschaften studierte. Yulia und ich verstanden uns leider von Anfang an überhaupt nicht, was auch die Freundschaft zwischen Dennis und mir auf eine harte Probe stellte. Erst nach einiger Zeit haben wir uns wieder aneinander angenähert und zu alter Form zurückgefunden. Aber das ist eine andere Geschichte.
„Weißt Du, Thomas, immer wenn ich vor dem Grab stehe, frage ich mich, welches Schicksal die tote Frau wohl ertragen musste“, reißt mich Katja aus meinen Ge-danken. „Ich verstehe, dass es verrückt klingt, aber ich würde alles dafür geben zu erfahren, ob sie leiden musste, bevor sie gestorben ist. Und überhaupt, warum sie sterben musste.“
Katja zieht die hellblaue Strickjacke fester um ihre Schultern und schlingt ihre Arme um sich. Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Und die Luft ist kühl. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund.
„Ich muss jetzt gehen“, sagt Katja unvermittelt und erhebt sich. Ich tue es ihr gleich, dann stehen wir uns gegenüber. Einige endlose Sekunden verstreichen, ohne dass einer von uns etwas sagt. Ich suche krampfhaft nach Worten, um sie zu einem Wiedersehen zu überreden. Eine Idee hätte ich sogar, aber das damit verbundene Angebot kommt mir dermaßen schäbig vor, dass ich es nicht auszusprechen wage. Ich könnte sie schlicht und einfach klassisch zum Essen einladen. Oder zu einem Spaziergang. Aber wäre das überhaupt angemessen? Ich bin gut doppelt so alt wie sie. Außerdem haben wir uns gut und – wie ich finde – vertrauensvoll unterhalten, aber Katja hat keinerlei Signale gesendet, die als Interesse an einem geplanten privaten Treffen interpretiert werden könnten.
„Ich kann Dir vielleicht dabei helfen, dass Deine Seele ein bisschen Ruhe findet.“ Die Worte verlassen wie von selbst meinen Mund, und ich schäme mich sogleich dafür. Doch Katjas Interesse scheint geweckt, denn sie schaut mich neugierig an. Scheiße, jetzt gibt’s wohl kein Zurück mehr.
Ich hebe beide Hände und drehe die Handflächen nach oben. Eine absolut sinnfreie Geste, aber sie gibt mir ein paar Sekunden mehr Zeit, um meinen Vorschlag in die richtigen Worte zu fassen. „Also“, beginne ich schließlich, „ich kenne jemanden bei der Polizei, der mir viel-leicht unter der Hand ein paar Details verraten könnte. Vielleicht machst Du Dir dann künftig weniger Gedanken um diese Frau, wenn Du ihr Schicksal kennst.“
Natürlich wird auch dieser „jemand bei der Polizei“ das Schicksal der Toten nicht kennen, denn sonst läge die Frau nicht in einem namenlosen Grab. Natürlich sage ich das Katja nicht. Irgendetwas werde ich schon erfahren, egal was. Hoffe ich zumindest.
Katja blickt mich unverwandt an. Dabei umspielt ein fast unsichtbares Lächeln ihre blutroten Lippen. Und ich würde schwören, dass ich gerade ein Blitzen in ihren Augen gesehen habe.