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Donnerstag, 12. August 2021, 15.30 Uhr

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Mit schnellen Schritten eile ich die kurze Treppe zum Westeingang des Haidhauser Friedhofs hinauf. So wie jeden Tag nach der Arbeit. Gegen 15 Uhr verlasse ich mein Büro in der Nähe des Alten Botanischen Gartens, laufe die circa 400 Meter bis zum Stachus und fahre mit der U-Bahn drei Stationen zum Max-Weber-Platz. Ich nehme den in Fahrtrichtung gelegenen östlichen Ausgang und laufe etwa zwei Minuten die Einsteinstraße entlang bis zum Mehrfamilienhaus, in dessen dritter Etage sich meine kleine Wohnung befindet. Normalerweise zumindest, denn seit einiger Zeit laufe ich an meinem Haus vorbei, vor zum Friedhof. Könnte ja sein, dass sie heute wieder dasteht, an dem namenlosen Grab auf Feld 131, den Kopf leicht gesenkt und mit einer goldenen Haarsträhne im Gesicht. Aber seit unserer Begegnung am letzten Tag im Juli habe ich die hübsche junge Frau nicht mehr gesehen.

Logischerweise treibe ich mich nicht nur am späten Nachmittag auf dem Friedhof herum. Auch am frühen Abend, kurz bevor ein privater Sicherheitsdienst die Tore verschließt, und manchmal sogar am ganz frühen Morgen, bevor ich zum Dienst gehe, zieht es mich zu Gräberfeld 131. Ich glaube, in den letzten zwei Wochen war ich mehr als doppelt so oft auf dem Friedhof als in all den Jahren zuvor. Aber vergeblich.

Enttäuscht lasse ich mich also auch heute wieder auf einem Bankerl nieder. Da ich noch arbeitsmäßig in einer dunklen Jeans und einem dunkelblauen Hemd gekleidet bin, kommen mir die aktuell 29 Grad beinahe doppelt so heiß vor. Die Sonne hat sich allerdings bereits hinter den ersten Wolken versteckt, denn der Wetterbericht hat für den späten Nachmittag Gewitter angekündigt, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Die damit einhergehende Abkühlung wird nicht nur mir selbst guttun, sondern auch hoffentlich die inzwischen beachtlichen 27 Grad Innentemperatur meiner Wohnung etwas herunterschrauben. Fast alle Fenster sind nach Westen ausgerichtet, was bedeutet, dass ab dem frühen Nachmittag die Sonne unbarmherzig auf die Scheiben knallt und auch die Verdunkelungsrollos nicht verhindern können, dass sich Wohn- und Schlafzimmer sowie die geräumige Küche in einen Backofen verwandeln. Entsprechend wenig erholsam ist mein Schlaf im Sommer.

Während ich gedankenversunken auf das meinem Bankerl gegenüberliegende Grab von Simon Selmeier starre, das nebenbei bemerkt auch mal wieder frische Blumen vertragen könnte, nehme ich im rechten Augenwinkel eine Bewegung wahr. Hans schlendert den Weg entlang und trägt doch tatsächlich einen langen schwarzen Regenmantel. „Gleich geht’s los“, deutet er nach oben, „da muss man vorbereitet sein.“ Ich verkneife mir den Hinweis, dass die Wolken derzeit noch überwiegend weiß gefärbt sind und Hans es deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem Gewitter zurück zu seinem Aufenthaltsraum schaffen wird. Stattdessen nutze ich die Chance und frage den alten Friedhofswärter, was mir seit fast zwei Wochen auf der Seele brennt.

„Ist mir nicht aufgefallen.“ Hans muss nicht lange überlegen. Kein Wunder, seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist der Haidhauser Friedhof sein zweites Zuhause. Jedes Grab inclusive individueller Historie kennt er wie seine Westentasche. Trotzdem lasse ich nicht locker: „Sie hat gesagt, sie hat mich schon öfter hier gesehen“, entgegne ich, „also muss sie logischerweise auch öfter hier sein.“

Hans schaut mich an, als wäre ich geistesgestört, obwohl er derjenige ist, der bei 29 Grad im Schatten in einem schwarzen Regenmantel vor mir steht. „Das muss ja nicht zwangsweise hier direkt auf dem Friedhof gewesen sein“, meint er. „Könnte ja auch auf der Straße davor passiert sein.“

Wir wechseln noch ein paar Worte, dann macht sich der Friedhofswärter davon – nicht ohne mir zu versichern, Feld 131 im Auge zu behalten und mir sofort Bescheid zu geben, wenn die junge Osteuropäerin wieder auftaucht. Ich hab ihm meine Handynummer gegeben und kann jetzt nur hoffen, dass Hans Wort hält.

Ich vernehme ein leises Grollen und registriere gleichzeitig, dass der Friedhof mittlerweile komplett im Schatten dunkler Gewitterwolken liegt. Jetzt wird’s tatsächlich nicht mehr lange dauern, bis sich die Hitze der vergangenen Wochen in einem reinigenden Unwetter entlädt. Die vielen Friedhofsbesucher, die gerade eben noch mit Gießen oder Bepflanzen ihrer Grabstätten beschäftigt waren, packen eilig ihre Sachen zusammen und machen sich auf den Weg nach Hause. Ich schließe mich ihnen an und wähle den mittleren Weg in Richtung Norden, dort wo sich der Ausgang nahe meinem Haus befindet.

Als ich meine Wohnung betrete, kommt es mir drinnen fast noch schwüler vor als draußen. Das elektronische Thermometer, das ich nahe der Tür zum Wohnzimmer befestigt habe, informiert mich über eine Innentemperatur von 27,4 Grad. Es herrscht eine stickige Luft, aus der man Würfel herausschneiden könnte. Im selben Moment kracht es draußen gewaltig, und ein Blitz taucht meine Bude für einen kurzen Augenblick in gleißendes Licht. Dann prasseln auch schon die ersten Tropfen gegen die Scheiben.

Ich öffne sämtliche Fenster und sichere sie gegen Zuschlagen. Sekunden später bricht draußen die Hölle los, und schon nach kurzer Zeit fühle ich eine angenehme Kühle auf meiner verschwitzten Haut. Ich trete ans Küchenfenster, schließe die Augen und sauge dankbar die feucht-kalte Luft in meine Lungen. Zu schade, dass morgen schon wieder Sonne und Badewetter angekündigt sind.

Nach zwei Stunden ist alles vorbei. Die Wolken lichten sich, und die ersten Sonnenstrahlen benetzen die nasse Einsteinstraße. Ich habe geduscht und stehe nun wieder am Fenster, beobachte das bunte Treiben draußen und überlege, einen Spaziergang zu machen. Lang wird es eh nicht dauern, bis die Schwüle zurückkehrt.

Eine Straßenbahn der Linie 19 bimmelt sich den Weg frei, als ein unachtsamer Autofahrer nach links über die Gleise in die Seeriederstraße abbiegen will. Erschrocken steigt er in die Eisen, und der 40 Tonnen schwere Zug rauscht nur knapp an seiner Stoßstange vorbei in Richtung Max-Weber-Platz.

„Jetzt oder nie“, denke ich mir. Wenn ich jetzt nicht gehe, sondern stattdessen auf meiner alten grauen Ikea-Couch Platz nehme und den Fernseher einschalte, stehe ich heute garantiert nicht mehr auf. Diesmal bin ich stärker als der innere Schweinehund und schlüpfe in meine Sneakers, die auch schon bessere Tage gesehen haben.

Die Uhr zeigt kurz vor acht, als ich das Haus verlasse, die Einsteinstraße und die mittig liegenden Straßenbahngleise überquere und den schmalen Weg zwischen den schmucklosen Mehrfamilienhäusern aus den 1960er Jahren wähle. Der Jahreszeit entsprechend ist es noch taghell, die Sonne aber hat sich bereits hinter dem Horizont versteckt.

Wenn ich stärker war als mein innerer Schweinehund – und das ist bedauerlicherweise weniger oft der Fall, als ich es mir selbst wünschen würde – genieße ich diese abendlichen Spaziergänge ungemein. Im Sommer ist um diese Zeit die größte Hitze vorbei. Und im Winter knirschen Frost und Schnee unter den Füßen. Vor allem aber hilft mir die etwa drei Kilometer lange Runde über Prinzregentenplatz, Steinhausen, Haidenauplatz und Alt-Haidhausen dabei, den Kopf freizubekommen und die Eindrücke meiner manchmal doch recht stressigen Büro-tage zu vergessen.

Ich fische die Airpods aus meiner linken Hosentasche und drücke die weißen Stöpsel in die Ohren. Die In-Ear-Kopfhörer verbinden sich innerhalb von Sekunden au-tomatisch mit meinem iPhone. Vor einiger Zeit hab ich mich endlich mal mit der Kurzbefehle-App des Smartphones beschäftigt, mit der sich bestimmte Abläufe programmieren lassen. Die Bedienung der App finde ich schlichtweg unterirdisch, aber nach einigem Gefrickel hatte ich den Bogen raus. Seitdem startet mein iPhone nach dem Verbinden mit den Airpods gleich selbständig mein aktuelles Hörbuch an der Position, an der ich zuletzt unterbrochen hatte.

Kapitel 47 der „Tochter des Präsidenten“ aus der Feder von Ex-US-Präsident Bill Clinton und James Patterson lässt mich sogleich eintauchen in die beklemmende Situation irgendwo in einem düsteren Kellerloch, in der Terroristen die Tochter des früheren Führers der freien Welt gefangen halten. Gemeint ist damit natürlich nicht Bill Clinton, sondern ein erfundener Matt Keating, aber spannend ist die Story trotzdem. Wenngleich ich ziem-lich sicher bin, dass den überwiegenden Teil der Geschichte James Patterson geschrieben hat und nicht der Herr mit dem prominenten Namen, der auf dem Cover an erster Stelle genannt wird. Aber egal.

Als ich gegen 20.30 Uhr den Haidenauplatz überquere und die Kirchenstraße entlang schlendere, dämmert es. Normalerweise würde ich jetzt einfach geradeaus gehen, bis rechts die Seeriederstraße abzweigt. Von dort aus sind es nur noch zwei Minuten bis zu meinem Haus. Als jedoch der Haidhauser Friedhof in Sichtweite kommt, ändere ich meinen Plan spontan. Wer weiß, ob… ein Versuch ist es wert. Zumal das Friedhofstor noch sperrangelweit offensteht, obwohl es normalerweise kurz nach 20.00 Uhr von dem privaten Sicherheitsdienst verschlossen wird.

Während der Kies unter meinen Schuhen knirscht, sehe ich mich um, aber ich scheine der einzige Besucher zu sein. Keine Menschenseele weit und breit. Kein Wunder, schließlich sollte bereits geschlossen sein.

Die kleine Aussegnungshalle, an deren einen Ende Hans sein Büro hat und an deren anderen Ende sich öffentliche Toiletten befinden, kommt mir gerade recht. Ich öffne die grünlackierte Holztür mit dem Männchen-Symbol und lasse der Natur freien Lauf. Höchste Zeit. Es war auch verdammt viel Kaffee heute, trotz der Hitze.

Der Geruch frisch gemähten Grases steigt mir in die Nase, als ich beim Überqueren des Friedhofs Gräberfeld 129 passiere. Ich liebe es. Einen Großteil meiner Kindheit habe ich auf einem Bauernhof im Chiemgau ver-bracht, in einem kleinen Weiler mit nur drei Anwesen, direkt an der Bundesstraße zwischen Grabenstätt und Chieming gelegen. Meine Eltern hatten sich dort eine kleine Einliegerwohnung gemietet, dauerhaft, von meinem fünften Lebensjahr bis irgendwann kurz nach meinem 20. Geburtstag. Jedes Wochenende haben wir dort verbracht. Ich half den Bauersleuten im Stall, lernte Bulldogfahren und unterstützte später sogar bei der Feldarbeit. Der intensive Kontakt zu Tieren und zur Natur hat mir sicher nicht geschadet. Jedenfalls gibt es schlechtere Arten, seine Kindheit zu verbringen.

Ich halte gerade meine Hände in den Brunnen rechts von Gräberfeld 130 und genieße das kühle Nass auf meiner noch immer viel zu sehr erhitzten Haut, als ich ein langsam lauter werdendes Motorengeräusch hinter mir vernehme. Kurz darauf stoppt neben mir – mitten auf dem Friedhof – ein dunkelblauer BMW mit dem Logo einer Münchner Sicherheitsfirma an den Türen. Der Fahrer fordert mich durch das heruntergelassene Seitenfenster freundlich zum Verlassen des Areals auf, weil er nun die Tore schließen werde. Ich erkläre ihm, dass ich an der Nordseite über das nur knapp 80 cm hohe Türchen klettern werde, was dem Security-Mann recht ist. Ich blicke dem Auto noch ein paar Sekunden hinterher und wundere mich wieder mal, warum die Stadt es dem Schließdienst genehmigt, mitten zwischen den Grabreihen mit dem Auto herumzufahren. Dann mache ich mich auf den Weg Richtung nördlichem Ausgang.

Keine fünf Sekunden später erstarre ich in der Bewegung. Weniger als zehn Meter entfernt von mir, inmitten des rechter Hand gelegenen Gräberfeldes 131, steht die junge Frau. Sie schaut mir genau in die Augen, und für einen kurzen Augenblick huscht ein schüchternes Lächeln über ihr hübsches Gesicht. Sie hebt leicht die Hand zum Gruß, während ich wie ein Dummkopf dastehe und sie anglotze.

Wie bei unserer ersten Begegnung trägt sie Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber die hellblaue Weste. Wie in Trance schreite ich auf sie zu. Mein Gott, sie ist so unsagbar hübsch. Etwa einen Meter vor ihr bleibe ich stehen und versuche ein Lächeln.

Sie legt den Kopf leicht schief: „Hallo Thomas.“

Wachsmädchen

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