Читать книгу Leander und die Stille der Koje - Thomas Breuer - Страница 10

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Heinz Baginski saß auf der Kante des Stuhles, auf dem er bereits die halbe Nacht zugebracht hatte, die Hände zusammen­gekrampft im Schoß, und zitterte am ganzen Körper. Vor ihm stand der Tisch, der ihn von dem zornbebenden Oberkommissar Hinrichs trennte. In der Ecke des Raumes neben der Tür zur Wachstube stand Polizeihauptmeister Jens Olufs mit verschränkten Armen und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die ihm mit Bleigewichten an den Augenlidern zu hängen schien.

»Noch mal von vorne«, befahl Hinrichs, wie er es seinerzeit auf der Polizeischule im Seminar »Psychologie des polizeilichen Verhörs« gelernt hatte. »Sie sind also verbotenerweise über den Zaun an der Rückseite der Vogelkoje geklettert.«

»Genau«, bestätigte Baginski, der nicht hätte sagen können, wie oft er seine Geschichte schon erzählt hatte, mit matter Stimme. »Ich bin den Weg zum Kojenwärterhäuschen gegangen und von da zum Teich.«

»Sie sind also nicht zuerst in das Häuschen gegangen?«

»Nein, das habe ich doch schon gesagt.«

»Warum nicht? War das Häuschen abgeschlossen?« Hinrichs begriff in dem Moment, in dem er die Frage stellte, wie genial sie war, denn wenn Baginski sie mit ja oder nein beantworten würde, dann hätte er ihn überführt.

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Baginski stattdessen gereizt.

»Sie haben doch an der Türklinke gerüttelt«, wagte sich Hinrichs vor.

»Nein, das habe ich nicht. Ich habe das Haus gar nicht beachtet, sondern bin sofort weiter zum Teich gegangen.«

»Nachdem Sie an der Türklinke gerüttelt haben?« Mit mir nicht, Freundchen, dachte Hinrichs. Typen wie dich knacke ich mit links.

Aber dieser Baginski war hartnäckig. »Ich habe nicht an der Türklinke gerüttelt, verdammt noch mal. Ich wollte Enten fotografieren, warum sollte ich da ins Häuschen gehen?«

»Sagen Sie mir das. Warum sind Sie in das Häuschen gegangen? Haben Sie Licht gesehen? Haben Sie Geräusche gehört? Warum haben Sie Herrn Rickmers erschlagen? Hat er Sie erwischt, als Sie unerlaubt in die Vogelkoje eingebrochen sind?«

»Ich habe den Mann nicht erschlagen«, wimmerte Baginski jetzt. Das war ein Albtraum. Er machte Kur-Urlaub auf Föhr, um sich zu erholen und einen drohenden Herzinfarkt abzuwenden, und stattdessen war er nun der Hauptverdächtige in einem Mordfall. Und all das nur, weil er sich auf nicht ganz vorschriftsmäßige Weise Zugang zu einer Vogelkoje verschafft hatte.

»Wie ist es dann passiert?«, fuhr Hinrichs fort, der offenbar ein Geständnis erzwingen wollte. »Haben Sie Rickmers gestoßen? Ist er unglücklich gefallen? War alles nur ein Unfall? Nun, Herr Baginski, kann es nicht sein, dass alles nur ein Unfall war und Sie gar nicht wollten, dass Rickmers stirbt?« Genial. Bau ihm eine Brücke und warte ab, ob er hinübergeht. Und dann fasse nach. Hatte Baginski erst einmal den Unfall zugegeben, war es nur noch ein kleiner Schritt, um ihm den Mord nachzuweisen.

»Neinneinnein! Ich habe den Mann doch gar nicht gesehen. Als ich in die Vogelkoje gekommen bin, war da noch gar keiner. Ich bin direkt zum Teich gegangen, und da bin ich eingeschlafen, und dann habe ich einen Schrei gehört und bin zum Häuschen gelaufen. Da haben mich zwei Leute umgerannt, und dann habe ich die Leiche gefunden. Ich habe mit dem Mord nichts zu tun. Ich bin einfach nur ein Zeuge!«

»Woher wissen Sie denn, dass da keiner war, wenn Sie doch angeblich gar nicht nachgesehen haben?«, lauerte Hinrichs mit dem Grinsen eines Fuchses, denn jetzt hatte er ihn!

Baginski sank nun auf dem Tisch zusammen, den Kopf auf seine Arme gelegt, und schluchzte laut auf. »Ich habe nicht nachgesehen! Ich bin unschuldig«, nuschelte er resigniert.

»Chef«, mischte sich Olufs nun ein, wurde aber mit einem ruppigen Handzeichen sofort zum Schweigen gebracht.

Das wäre doch gelacht, wenn er, Oberkommissar Torben Hinrichs, dieses Weichei nicht knacken würde. Wenn die Kollegen von der Kripo ihren Fuß auf die Insel setzten, wollte er ihnen den Mörder präsentieren. Diese arroganten Fuzzies brauchte er nicht. Das war seine Insel hier.

»Also, Herr Baginski, jetzt noch mal ganz von vorn«, beharrte Hinrichs mit einem beruhigenden Unterton.

Als der Morgen graute, sank Heinz Baginski völlig erschlagen auf der Pritsche des einzigen Zellenraumes in der Zentralstation zusammen. Hinrichs hatte ihn vorläufig festgenommen, nachdem das Verhör erfolglos verlaufen war. Jetzt waren die beiden Polizisten auf dem Weg zur Vogelkoje. Zum Glück hatten sie irgendwann einen Anruf bekommen, der sie dorthin beordert hatte. Nun hatte Baginski ein paar Stunden Zeit, um sich zu erholen, und dann würde er einen Rechtsanwalt verlangen, der ihn hier herausholte. Das war doch einfach alles lächerlich, was hier abging!

Erschöpft fiel Heinz Baginski in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Henning Leander steuerte zunächst wie jeden Morgen die Bäckerei Hansen in der Mittelstraße an, bevor eine Touristenschlange entstand, die sich wie immer weit in die Fußgängerzone erstrecken würde, und kaufte die üblichen zwei Brötchen für sein Frühstück: einen Kornkracher und ein Dünenkrusti. Die fünf Verkäuferinnen hinter der Theke bereiteten sich offenbar mental auf den nahenden Ansturm vor, der sie während der gesamten Saison immer zwischen halb neun und halb elf Uhr überrollte. Sie wirkten irgendwie in sich gekehrt, als lauschten sie wie einst Boris Becker vor einem großen Match einem inneren Yogi.

Dann führte Leanders Weg wie üblich über den Sandwall auf die Mittelbrücke. Vor dem Frühstück musste er jeden Morgen einen Blick auf das Wattenmeer geworfen und einen Ausblick auf das Wetter gewonnen haben, sonst fing der Tag irgendwie nicht richtig an. Das war zu einem derart verfestigten Ritual geworden, dass sich Leander gar nicht mehr vorstellen konnte, wie es jemals anders hatte sein können, obwohl er gerade erst ein gutes halbes Jahr auf der Insel Föhr lebte und derartigen Luxus früher überhaupt nicht gewohnt gewesen war.

Die Mittelbrücke war leer an diesem Morgen, und über dem Meer glitzerte die Sonne durch den Dunst. Die Hallig Langeneß wirkte seltsam entrückt. Die Ebbe war vorbei, das Wasser lief gerade erst wieder auf, so dass der Strand für die Badegäste momentan recht uninteressant war. Auch auf dem Sandwall herrschte zwischen den Bäumen, die die Grünflächen beschatteten, die Ruhe vor dem Sturm. Jens Hoss, genannt Bubu, der Inhaber des Buchladens, der in der Langform Bunter Buchladen hieß, hatte bereits seine Karten- und Zeitungsständer auf den Gehweg geschoben, saß nun draußen auf dem Fenstersims und konzentrierte sich auf das belegte Brötchen, das er allmorgendlich beim Bäcker holte. Er grüßte zu Leander herüber, als der den Steg verließ und auf die Mittelstraße zusteuerte.

Bei Metzger Friedrichs kaufte Leander die Wurst für seine Brötchen: Zwei Scheiben Hähnchen in Aspik und zwei Scheiben Mortadella, mehr brauchte er für sich alleine nicht. Wie übersichtlich sich sein Leben gestaltete, seit er allein wohnte! Er erinnerte sich an die Klagen seiner Frau Inka, die nie wusste, was sie vom Metzger holen sollte und vor allem wie viel, denn bei den beiden Kindern konnte man einfach nicht einkalkulieren, ob sie überhaupt frühstückten, und wenn ja, was. Das führte regelmäßig dazu, dass die schmierig gewordene Wurst weggeworfen werden musste und Inka erneut klagte, diesmal über die Schande und das zum Fenster hinausgeworfene Geld. Überhaupt hatte Inka sehr viel geklagt. Daran war auch Leander sicher nicht ganz unschuldig, denn zufrieden war wohl keiner mit dem Alltag in der Familie gewesen. Aber alle hatten sich immer nur auf sich selbst und ihre Ansprüche konzentriert, Leander noch dazu über Gebühr auf seine Arbeit.

Vor seinem Haus in der Wilhelmstraße steckte der Insel-Bote im Zeitungshalter des Briefkastens. Leander zog ihn heraus und betrat das Fischerhäuschen.

Nach dem Frühstück überlegte er kurz, ob er die Zeitung in seinem frisch gerodeten Garten lesen sollte, entschied sich aber dagegen. Dort wurde er nur mit der Tatsache konfrontiert, dass er eigentlich mit der Gartenarbeit hätte fortfahren müssen, und dazu hatte er schlicht zu viel Muskelkater und zu wenig Lust. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass Frau Husen sich wieder seiner Arbeitsmoral annahm. Also klemmte er sich die Zeitung unter den Arm und ging zum Park an der Mühle in der Mühlenstraße. Dieses Kleinod hatte ein Künstler angelegt, und zwar nach Kriterien, die so esoterisch wie wirkungsvoll waren. Alles im Park, angefangen bei dem Teich und seiner ihn umgebenden Bepflanzung, über den Brunnen, der aus vier nach den Himmelsrichtungen ausgerichteten gebogenen Rohren Wasser spendete, bis zu dem alles überragenden Storchennest, war nach energetischen Gesichtspunkten gestaltet und sollte den Besuchern Ruhe schenken und die Gelegenheit, ihren Energiehaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Leander jedenfalls konnte hier stundenlang auf einer der Bänke sitzen und lesen oder einfach nur die Libellen beobachten, wie sie einzeln oder in Form eines Paarungs-Rades über den Teich surrten – über sich das Klappern der Störche auf ihrem Nest, um sich herum nur Frieden und Stille.

Er betrat den Bereich des Parks, der nach Märchen­motiven gestaltet war, und ließ sich auf der schmiedeeisernen Bank nieder. Die Windmühle auf der dem Park gegenüber gelegenen Straßenseite, ein wunderschön erhaltener Galerieholländer, der von Rechtsanwalt Petersen bewohnt wurde, spiegelte sich vollständig auf der glatten Wasseroberfläche zwischen den Seerosen. Nur der Flügel, dessen Stummel jetzt unten rechts feststand, war bei einem der letzten Stürme zum größten Teil abgebrochen. Leander hoffte, dass Petersen genügend Sinn für Geschichte und für Ästhetik hatte, um ihn wieder reparieren zu lassen, auch wenn das eine wenig Gewinn versprechende Investition wäre.

Über seinem Kopf hob ein lautes Klappern an. Als Leander den Blick hob, sah er zwei Störche auf dem Nest sitzen, das hoch oben auf einer Stange thronte. Die Störche gehörten zum Stadtbild Wyks. Ständig sah man sie in der Luft, auf Hausdächern, auf den umliegenden Wiesen oder bei Ebbe am Strand, wo sie auf Nahrungssuche durch die Priele stolzierten. An einem Abend hatte Leander dreiundzwanzig gezählt, aber es konnten auch mehr sein, zumal sie sich jedes Jahr dank des Schutzes, der ihnen in Wyk gewährt wurde, vermehrten.

Die Sonne hatte bereits eine erstaunliche Kraft, so dass Leander froh über den Schatten war, der auf eine Hälfte der Bank fiel. Er entfaltete seine Zeitung und informierte sich über die anstehenden Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Stadt. Die entscheidende Woche stand kurz bevor. Neben einem Hafenfest mit großem Höhenfeuerwerk waren Aktionen wie der Bau eines Leuchtturms aus Sand an der Promenade geplant, der sogar ein funktionstüchtiges Leuchtfeuer erhalten sollte. Außerdem wurde ein Open-Air-Konzert der Band Stanfour angekündigt, deren Gründer, die Brüder Rethwisch, von der Insel kamen. Leander beschloss, dies zum Anlass zu nehmen, seine Freundin Lena wieder einmal nach Föhr zu locken.

Da der Insel-Bote sonst nichts Interessantes zu berichten hatte, schlug er die Zeitung zu und schloss die Augen. Er erinnerte sich an seine ersten Tage und Wochen hier auf der Insel. Es war kalt gewesen, Winter eben, und er hatte sehr viel Energie gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Verdammt, was war er damals fertig gewesen! Auf der Suche nach der Wahrheit über seinen Großvater und seine eigene Familiengeschichte hatte er begriffen, dass er während der letzten vierzig Jahre völlig falschen Idealen und Zielen nachgelaufen war. Er hatte Forderungen erfüllt, die nicht seine eigenen gewesen waren und eigentlich seiner inneren Struktur zuwiderliefen. Kein Wunder also, dass er krank geworden war. Niemals zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob die vorgegebenen Bahnen auch tatsächlich befahren werden mussten. Natürlich mussten sie das nicht, vorausgesetzt man hatte eine Alternative. Mit dem Tod seines Großvaters hatte sich dann dank des üppigen Erbes die große Chance geboten, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Das war eine Stabübergabe im rechten Moment gewesen, vielleicht sogar im letzten.

Lena hatte zunächst Mühe gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von nun an die meiste Zeit des Jahres getrennt leben würden. Inka und den Kindern hingegen war das vollkommen egal gewesen, was Leander wiederum einen Stich versetzt hatte. Er würde noch einige Zeit brauchen, um den Zeitpunkt nachvollziehen zu können, an dem sie sich so gründlich verloren hatten. Vor allem sein Verhältnis zu seinem Sohn Hanno, der Rechtsanwalt werden wollte, machte ihm zu schaffen, denn es wies große Parallelen auf zu dem Verhältnis, das Leanders Vater Bjarne zu dessen Vater Hinnerk gehabt hatte. Aber auch seine Tochter Pia, die in Kiel Ozeanografie studierte, hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet. Sie ähnelte Inka so sehr, dass sich der Hass ihrer Mutter auf ihren Vater quasi eins zu eins übertragen zu haben schien. Leanders anfängliche Hoffnung, das schon wieder geradebiegen zu können, hatte sich bislang nicht erfüllt. Die kurzen Telefonate mit seinen Kindern waren allesamt unerfreulich verlaufen.

Wie konnte man im Zustand abgerissener Kommunikation seinen Kindern erklären, warum man sich so hatte verhalten müssen, wie man sich verhalten hatte? Dafür waren Gespräche nötig, lange Gespräche und vis-à-vis, nicht am Telefon. Solche Gespräche gab es aber nicht mehr zwischen Leander, seiner Frau und seinen Kindern.

Er schlug die Augen auf und blickte auf das Wasser des kleinen Teiches. Auf der glatten Oberfläche las er im Spiegelbild der Mühle die Worte Venti Amica, nur auf dem Kopf. Er hob den Blick, so dass er beide betrachten konnte, Original und Spiegelbild. Trotz des abgebrochenen Flügels wirkte die Mühle stattlich. Als ein leichter Windhauch aufkam, bekam das Spiegelbild ein Eigenleben, entfernte sich die Kopie vom Original. Je stärker der Wind wurde, desto mehr verwischte sich das Bild, das eben noch so klar und deutlich gewesen war. Wind of change, dachte Leander. Der Wind des Wechsels, der wechselhaften Geschichte, war in der Lage, scheinbare Übereinstimmungen durcheinanderzubringen, Unterschiede deutlich werden zu lassen. Kleine Jungen sind die Abbilder ihrer Väter – bis die Pubertät kommt, dann entwickeln sie eine eigene Richtung. Und wenn schon die Pubertät derartige Planänderungen herbeiführen kann, wie heftig schlagen dann geschichtliche Ereignisse ins Kontor?

Die Protestbewegung von 1968 hatte Leanders Vater Bjarne eine Richtung gegeben, die dessen Vater Heinrich niemals vorhergesehen hatte. War Bjarnes Weg automatisch der richtige gewesen, nur weil er moderner war, emotionaler? War Heinrich Leander automatisch verpflichtet gewesen, diesen Weg mitzugehen oder zumindest zu akzeptieren, nur weil der, der ihn einschlug, sein Sohn war? Wann hörte die Selbstverleugnung auf, die mit der Geburt der Kinder begann? Hatte ein Vater kein Eigenleben mehr, stand er nur noch in der Verantwortung für seine Kinder?

Weshalb, verdammt noch mal, musste Leander ununterbrochen dafür sorgen, dass seine Kinder ein gutes Leben hatten? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein eigenes? Schließlich war der Umzug auf die Insel seine Rettung gewesen. Wer weiß, wie lange er sonst noch durchgehalten hätte. In einem Jahr vielleicht hätte sich der Deckel über seinem Sarg geschlossen, und dann hätten sie an seinem Grab gestanden – Inka, Hanno und Pia. Sicher, sie hätten Tränen vergossen, aber wie lange? Sie hätten ihm die Schuld selbst zugewiesen – aus ihrer Sicht durchaus verständlich. Sie hatten längst jeder ihr eigenes Leben, in das sie zurückgekehrt wären. Und niemand hätte auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ob er, Henning Leander, auch ein eigenes Leben gehabt hatte – niemand. Umso wichtiger, dass jeder selbst dafür sorgte, dass er sein Recht bekam, sein Recht auf ein eigenes Leben.

Der kurze Windhauch ließ wieder nach, der Wasserspiegel beruhigte sich, Abbild und Original deckten sich wieder, und Henning Leander beschloss, die Zeit für sich laufen zu lassen. In Zukunft wollte er sein eigenes, unabhängiges Leben führen. Wenn seine Kinder etwas von ihm wollten, würden sie sich melden. Wenn nicht, auch gut. Der Neubeginn auf Föhr war ein Befreiungsschlag. Wenn es in seinem weiteren Leben Verpflichtungen gab, dann nur solche, für die er sich freiwillig entschied. Verantwortung für seine Kinder – okay. Selbstaufgabe – niemals wieder!

Leander erhob sich von seiner Bank, rieb sich den schmerzenden Hintern und schlenderte auf dem schmalen Plattenweg einmal um den Teich herum. Die Seerosen, die ihre Köpfe durch den Spiegel steckten, und die Schmetterlinge auf den Blüten der am Rand wachsenden Stauden hatten mit einem Mal viel grellere Farben – oder kam ihm das nur so vor? Er würde Lena fragen. Genau. Lena hatte einen Blick für das Leben. Er würde sie anrufen, sobald er nach Hause kam. Und dann würde er zur Kurverwaltung gehen und Karten für das Stanfour-Konzert kaufen.

Kriminaloberkommissar Dernau stand im Rahmen der Tür des Kojenwärterhäuschens und tobte. Dabei ließ er keine Beleidigung aus, kein Angriff war ihm zu scharf. Polizeioberkommissar Hinrichs blickte Hilfe suchend auf Dernaus Vorgesetzten Kriminalhauptkommissar Bennings, aber der stand betont teilnahmslos daneben und ließ das Geschehen an sich vorbeirauschen.

Bennings und Dernau waren ein eingespieltes Team, die klassische Kombination guter Bulle / böser Bulle sozusagen, aber das allein war es nicht. In Dernau brodelte es un­unter­brochen, der Kessel stand ständig unter Dampf, und irgendwann musste der Druck nun mal raus. Davon abgesehen war Dernau genau die Art von Kollege, die man sich an seiner Seite nur wünschen konnte: erstklassig ausgebildet, intelligent, durchtrainiert, draufgängerisch und reaktionsschnell. In Gefahrensituationen konnte eine solche Persönlichkeitsstruktur beiden das Leben retten.

Zudem hatte Dernau ja recht: Da hatte dieses Inselei die Leiche abtransportieren lassen, bevor die Spurensicherung sich ein Bild hatte machen können. Wenn der schlicht und einfach das getan hätte, was die Kommissare aus Flensburg für die Hauptbeschäftigung der Inselpolizei hielten, nämlich gar nichts, dann wäre der Fall vielleicht schnell gelöst gewesen. So aber waren wichtige Spuren verwischt worden, erste Eindrücke unmöglich gemacht und nicht mehr rekonstruierbar. Da änderten auch die Fotos nicht viel, von denen Hinrichs jetzt faselte. Allein das Argument, die Leiche wäre heute ohnehin nicht mehr in dem Zustand der letzten Nacht gewesen, weil es hier Dachse, Marder, Ratten und dergleichen gebe, zeigte, mit was für einem geistigen Niveau die Fachkräfte aus Flensburg auf so einer Insel konfrontiert wurden.

»Dann stellt man Wachtposten auf«, wetterte Dernau, »lässt das Licht an, bewaffnet sich mit Knüppeln, wenn man schon zu blöde ist, zu merken, dass man eine Pistole trägt. Mann, das darf doch alles nicht wahr sein!«

»Wachtposten?«, beharrte Hinrichs. »Woher soll ich denn die Leute …«

»Dann stellen Sie sich halt selber eine Nacht lang hier hin!«, brüllte Dernau jetzt. »Schließlich hatten Sie letzte Nacht Dienst, Sie Wachtmeister! Und jetzt raus hier, bevor Sie noch mehr Schaden anrichten!«

»Ich habe die ganze Nacht lang den Tatverdächtigen verhört«, begehrte Hinrichs noch einmal auf.

»Raus!«, brüllte Dernau, anstatt auf den Einwand einzugehen.

Bennings machte wortlos einen Schritt zur Seite und ließ den niedergeknüppelten Leiter der Inselpolizei an sich vorbeischleichen. Als der außer Hörweite war, wandte er sich an Dernau. »Jetzt ist es gut, Klaus. Wir brauchen ihn noch für die Laufarbeit. Außerdem denke ich, dass er seine Lektion begriffen hat.«

»Zu Befehl, Chef«, antwortete Dernau und grinste wie jemand, der gerade seinen Spaß gehabt hatte.

Im grünen Tunnel vor der Hütte tauchte Hinrichs dienstbeflissen wieder auf und meldete, dass sich Fahrzeuge näherten.

»Das ist die Spurensicherung«, antwortete Bennings und nickte ihm zu. »Zeigen Sie den Kollegen den Weg, Herr Hinrichs.«

Hinrichs verschwand wieder und kam wenige Minuten später mit einem ganzen Trupp von Männern zurück, die alle in weißer Schutzkleidung steckten und schwere Alukoffer schleppten.

»Das ist ja der Arsch der Welt, hier möchte ich nicht tot über dem Zaun hängen«, begrüßte Paul Woyke, der Leiter der Spurensicherung, die beiden Kommissare.

»Na ja, der Arsch der Welt ist wohl übertrieben, aber zumindest kann man ihn von hier aus schon ganz gut sehen«, antwortete Bennings und schüttelte Woyke die Hand.

Drei weitere Männer in weißen Overalls und mit Alukoffern in den Händen drückten sich nickend an ihnen vorbei und machten sich wortlos an die Arbeit. Draußen sperrte ein Mann den Tatort weiträumig mit Trassierband ab, dann wandte sich jeder seiner festen Aufgabe zu.

»Was ist das denn für ein Teil?«, erkundigte sich Dernau, den die Kriminaltechnik faszinierte. Er deutete auf einen Kasten, der aussah wie ein Messgerät und den einer der Männer mit einem Gurt über der Schulter trug. Oben ragte wie eine Antenne ein Stab heraus, auf den eine Art Taschenlampe gesteckt war. Ein Kabel verband Lampe und Kasten.

»Das ist eine Lumatec Superlite 400«, antwortete der Mann, machte aber keinerlei Anstalten, das Gerät näher zu erklären.

»Aha«, höhnte Dernau. »Damit dir ein Licht aufgeht, oder was?«

»Kann man so sagen«, entgegnete der Mann und ließ Dernau auflaufen, indem er ohne weitere Erklärungen das Gerät einschaltete und mit der Arbeit begann.

»Das ist unsere neue Wunderwaffe«, schaltete sich Woyke nun ein. »Eine Multispektrallampe, mit der wir mittels Fluoreszenzprüfung nach Spuren wie Blut und dergleichen suchen können.«

»Hattet ihr sowas nicht schon immer?«, zeigte sich Dernau enttäuscht.

»Genau, Kollege, und jetzt mach dich dünn, du stehst im Weg«, rüpelte der Spurensicherer mit der Lampe zurück.

Paul Woyke lachte und schob die beiden Kommissare aus der Hütte ins Freie. »Bis vor Kurzem hatten wir einfach nur eine blaue Lampe, mit der wir eine bestimmte Farbtemperatur abdecken konnten. Das Besondere an der Superlite 400 ist, dass sie auf alle Farbtemperaturen umstellbar ist. Außerdem lässt sie sich mit Farbfiltern bestücken, und dann finden wir einfach alles – von Blut angefangen über Fingerabdrücke, Speichel, Hautschuppen, Fußabdrücke auf glatten Flächen, Faserspuren und so weiter. Kommt, Freunde, lasst uns unsere Arbeit machen. Ich melde mich später in der Polizeistation und berichte euch über unsere ersten Funde.«

»In Ordnung, für uns war es das hier ohnehin erst mal«, antwortete Bennings und tippte Hinrichs auf die Schulter, der fasziniert zusah, wie ein Kriminaltechniker den Boden der Hütte mit blauem Licht ausleuchtete und so Blutspuren sichtbar machte, und das auch an den Stellen, an denen die Leiche nicht gelegen hatte. »Wir fahren zur Wache, und Sie führen uns den Mann vor, der die Leiche aufgefunden hat.«

Hinrichs wollte etwas erwidern, aber Dernau fuhr ihn an: »Abmarsch!«

Hinrichs zuckte zusammen und trollte sich zu seinem Dienstfahrzeug. So musste man sich in einer Strafkolonie fühlen. Die nächsten Wochen konnten ja heiter werden! Aber das würde er sich nicht mehr lange gefallen lassen. Der Mann hatte gar kein Recht, ihn so herumzukommandieren. Schließlich war die Schutzpolizei eine vollständig unabhängige Truppe und der Kripo nicht unterstellt. Diesem Dernau würde er noch zeigen, wo der Hammer hängt!

Heinz Baginski war völlig durch den Wind. Kaum hatte er ein paar unruhige Stunden geschlafen, hatte Hinrichs ihn schon wieder aus der Zelle zum Verhör geholt und an zwei Kriminalbeamte übergeben. Konnte man ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Schließlich war er zur Erholung hier auf der Insel und nicht, um von zwei unfreundlichen Polizisten in Zivil wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden. Der Ältere von den beiden, dieser Bennings, ging ja noch. Immerhin brachte er hin und wieder ein freundliches Lächeln zustande und bot ihm sogar Kaffee und Wasser an. Aber der andere, dieser junge Schnösel, dessen Namen er gleich wieder verdrängt hatte, konnte nur Gift und Galle spucken. Wie der allerdings mit dem Leiter der Inselpolizei umging, mit diesem Hinrichs, das war Baginski nach der nächtlichen Tortur eine Genugtuung!

»Also noch mal«, ranzte Dernau ihn an. »Und jetzt reißen Sie sich mal zusammen und berichten in ganzen Sätzen. Sonst sitzen wir morgen früh noch hier.«

»Ich habe doch schon alles gesagt«, verteidigte sich Baginski und leierte seinen ganzen Bericht noch einmal ab.

Oberkommissar Hinrichs brachte zwei Tassen Kaffee in das kleine Besprechungszimmer, das seine Leute den Flensburger Kommissaren als provisorisches Büro eingerichtet hatten, und stellte sie vor den Kriminalbeamten auf den Tisch. Bennings schob seine Baginski hinüber, der ihm dankbar zunickte. Hinrichs wollte neben dem Zeugen stehen bleiben und der Vernehmung folgen, zumal die ohnehin genau so ablief, wie er sie in der letzten Nacht begonnen hatte, aber ein Blick von Dernau sorgte dafür, dass er den Raum fluchtartig wieder verließ.

»Und wer Sie da umgerannt hat, haben Sie nicht erkennen können?«, fuhr Dernau fort.

»Nein, es war dunkel, und der Typ hat mir die Tür vor den Kopf geknallt.«

»Das merkt man«, kommentierte Dernau.

»Aber dass es ein Mann war«, ging Bennings nun mit einem tadelnden Blick auf seinen Kollegen dazwischen, »das haben Sie erkannt?«

»Ich habe ihn weglaufen gesehen. Von der Statur her war es ein Mann; kein alter Mann, so sportlich, wie er war. Höchstens vierzig oder fünfundvierzig, wenn überhaupt, eher jünger. Und als ich gefallen bin, habe ich, glaube ich, einen weiteren Schatten gesehen. Es könnten also zwei gewesen sein. Aber sicher bin ich mir da nicht.«

»Und beide sind direkt auf den Haupteingang zugelaufen?«

»Genau.«

»Also wussten sie, dass die Klappbrücke offen war, und sind vermutlich auch dort hereingekommen und nicht über den geheimen Zugang auf der Rückseite«, stellte Bennings an seinen Kollegen gewandt fest. »Gut, Herr Baginski, wenn Sie sich an nichts Weiteres erinnern, können Sie jetzt gehen. Kommen Sie bitte morgen im Laufe des Tages, um das Protokoll zu unterschreiben. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, wissen Sie ja, wo Sie uns finden. Und bitte verlassen Sie die Insel nicht, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben.«

Heinz Baginski ergriff die Gelegenheit, bevor sich dieser unerträgliche Dernau oder der Depp Hinrichs noch eine Gemeinheit einfallen lassen und ihn dabehalten konnten. Er stürmte an den Inselpolizisten vorbei und verließ die Wache.

Hinrichs sprang auf und stürzte wütend in den Vernehmungsraum. »Wieso lassen Sie den Mörder denn laufen? Ich hatte ihn letzte Nacht fast so weit. Noch ein paar Stunden, und wir hätten sein Geständnis.«

»Ach ja?«, fuhr Dernau ihn an. »Und was für ein Motiv sollte der Mann haben?«

»Rickmers hat ihn überrascht. Reicht das nicht?«

»Und darum bringt er ihn einfach um? Sagen Sie mal, Herr Hinrichs, wie kommt es, dass Sie hier die Polizeistation leiten, wo Sie doch offensichtlich auf der Polizeischule durchgefallen sind? Oder hat man Sie aus Mitleid im dritten Anlauf endlich bestehen lassen?«

»Ich glaube nicht, dass er der Täter ist, Herr Hinrichs«, erklärte Bennings mit tadelndem Blick auf Dernau. »Er musste von hinten in die Vogelkoje eindringen, weil der Zugang an der Straße versperrt war. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Opfer zu dem Zeitpunkt noch nicht in der Vogelkoje war. Die Täter müssen ebenfalls später gekommen sein, denn sie wussten im Gegensatz zu Baginski von dem offenen Hauptzugang.«

»Und wenn Baginski sich das alles nur ausgedacht hat?«

»Das glaube ich nicht. So abgebrüht ist der nicht.«

Hinrichs wollte noch etwas erwidern, aber ihm fiel offensichtlich nichts Überzeugendes mehr ein, und so verließ er den Raum wieder.

»Tja.« Bennings setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch ihr Zeuge gesessen hatte. »Das hat uns ja nun nicht gerade weitergebracht. Bevor wir jetzt überlegen, wie es weitergeht, schließ doch bitte mal die Tür. Unser Sherlock Holmes muss nicht alles mitbekommen.«

Dernau sah ihn erstaunt an, folgte aber der Aufforderung und knallte grinsend die Tür zur Wachstube vor den erstaunten Inselpolizisten zu. Dann setzte er sich auf die Kante des Tisches vor seinem Vorgesetzten und wartete.

»Ich verstehe eins nicht«, begann der. »Dieser Hinrichs ist doch seit über fünfundzwanzig Jahren im Dienst. Wieso beißt der sich so in dem Baginski fest, obwohl offensichtlich ist, dass der nichts mit dem Mord zu tun hat? Nicht mal Totschlag im Affekt traue ich dem Wicht zu. Klar, viele Morde gibt es hier auf der Insel nicht, aber … wenigstens das ABC der Tatortsicherung müsste Hinrichs doch aus dem Effeff beherrschen. Warum begeht so ein erfahrener Beamter den Fehler, die Leiche wegschaffen zu lassen? Das heißt, wenn es ein Fehler war.«

»Du meinst, es war Absicht? Ich glaube, der Typ ist einfach nur doof.«

»Nein, mein Lieber, da machst du es dir zu leicht. Der hat zwar sicher nicht die Elektrizität erfunden und auch nicht in der ersten Reihe gestanden und ›Hier!‹ gerufen, als seinerzeit das Gehirn verteilt wurde, aber die Jungs auf den Inseln ersetzen mangelnde Erfahrung durch praktische Intelligenz. Bauernschläue, sozusagen. Wenn so einer gegen alle Dienstvorschriften verstößt, dann nicht, weil er es nicht besser weiß oder weil ihm gerade danach ist. Normalerweise ist dieser Typ Dienststellenleiter ein Rückversicherer. Wenn der so eine Entscheidung fällt, dann hat er dafür triftige Gründe.«

»Und die wären?«, fragte Dernau, der genau wusste, wann er zuzuhören hatte.

»Er vertuscht etwas. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann hat das mit dem Toten selbst zu tun, vielleicht mit seiner sozialen Stellung hier auf der Insel. Aber das kriege ich raus.« Er stand auf, öffnete die Tür und rief jovial: »Herr Kollege Hinrichs, kommen Sie bitte mal, wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Klar«, murmelte Hinrichs, allerdings so leise, dass Bennings es nicht mitbekam. »Ohne uns seid ihr hier auf der Insel nicht mal in der Lage, euren eigenen Arsch zu finden.«

Er schlenderte betont lässig in das Verhörzimmer, griff sich unaufgefordert einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. »Womit kann ich dienen?«, fragte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er mit den Kollegen vom Festland am liebsten gar nicht mehr geredet hätte.

Bennings gab Dernau ein Zeichen, woraufhin der sich von der Tischkante erhob und sich ebenfalls etwas abseits auf einen Stuhl setzte.

»Kollege Hinrichs«, begann Bennings freundlich. »Uns ist natürlich klar, dass wir hier auf der Insel ohne Sie keine Chance haben. Sie kennen sich hier aus, wir nicht. Mit Ihnen reden die Leute, uns verraten sie kein Sterbenswort. Deshalb brauchen wir von Ihnen alle Informationen, die Sie uns über den Toten und sein soziales Umfeld geben können.«

Hinrichs genoss die Situation und schwieg. So leicht wollte er es den arroganten Schnöseln nicht machen.

»Also, Kollege, wer ist der Tote?«

»Nahmen Rickmers«, antwortete Hinrichs und überlegte einen Moment, ob er es zunächst dabei belassen sollte, beschloss dann aber, den Bogen nicht zu überspannen. »Er ist … war Leiter des Hegerings Föhr.«

»Hegering, soso«, kommentierte Dernau.

»Was, bitte, ist ein Hegering?«, erkundigte sich Bennings geduldig.

»Das ist eine Abteilung der Kreisjägerschaft Südtondern.«

»Abteilungsleiter also. Das hört sich so an, als sei er schon eine relativ große Nummer auf der Insel gewesen«, hakte Bennings nach. »Er war ja dann quasi der Chefjäger hier, oder?«

»Das kann man wohl so nennen. Im letzten Jahr hat er sich sogar auf einen Posten im Vorstand der Kreisjägerschaft auf dem Festland beworben. Und das hätte er auch geschafft, wenn da nicht dieses Theater wäre.«

»Welches Theater?«

»Na ja, hier auf der Insel gibt es seit ein paar Jahren Streit zwischen den Bauern und so ein paar Öko-Spinnern. Das ist ein Verein, der mit Spendengeldern Land aufkauft und es unter Wasser setzt, damit die Möwen genug Nistplätze haben. Klar, dass das den Bauern stinkt. Da müssen wir ansetzen, oder bei diesem Baginski, wenn Sie mich fragen.«

»Und was hatte Rickmers mit dem Streit zwischen den Umweltschützern und den Bauern zu tun? War er hauptberuflich Landwirt?«

»Nee, aber die Jäger dürfen in der Nähe der Flächen, die von diesem Verein gekauft werden, nicht mehr jagen, weil die Möwen und das ganze andere Viehzeugs von den Schüssen vertrieben wird. Je mehr Land dieser Verein aufkauft, desto weniger Weide- und Jagdflächen gibt es. Ist doch logisch, dass das Ärger gibt.«

»Gut, Herr Hinrichs, schreiben Sie mir den Namen des Vereins und seines Vorsitzenden auf. Noch eine Frage zu Rickmers: War er nur als Jäger eine große Nummer, oder zählte er auch sonst zur High Society hier auf der Insel?«

»Klar, Nahmen war hier nicht irgendwer. Das Geld hatte zwar eigentlich nicht er, sondern die Hilke, seine Frau, aber der drehte damit am großen Rad, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Eigentlich verstehe ich das nicht«, gab Bennings zu.

»Na ja, auf seinen Partys waren nur die reichen Leute, die auch die politische Richtung hier vorgeben. Einmal im Jahr hat er eine Entenjagd ausgerichtet, zu der auch einflussreiche Leute vom Festland kamen – Kiel, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da durfte dann jeder schießen, egal ob er Jäger war oder nicht. Das ist zwar eigentlich nicht ganz legal, aber wir wollen hier keinen Ärger, deshalb haben da alle weggeschaut.«

»Mit ›alle‹ meinen Sie vor allem sich selbst, oder? Und? Haben Sie auch gestern Abend weggeschaut, als Sie die Leiche abtransportiert haben? Wollten Sie den großen Nahmen Rickmers schützen?«

Hinrichs lief rot an, sagte aber nichts.

»Was verheimlichen Sie uns?«, donnerte Dernau jetzt los.

Hinrichs sprang auf, lief nach nebenan und kam mit einer Speicherkarte zurück. »Das ist die Karte aus der Kamera von diesem Baginski. Ich habe ihn angewiesen, Fotos zu machen, und die sind da drauf. Gucken Sie doch selbst, ob ich Ihnen irgendetwas verheimliche!«

»Schon gut, Kollege«, besänftigte Bennings ihn. »Mein Kollege Dernau hatte eine schwere Kindheit. Nehmen Sie ihm sein schlechtes Benehmen nicht übel. Und jetzt schreiben Sie mir bitte alle Namen und Adressen von den Leuten auf, die mit Nahmen Rickmers zu tun hatten. Danke für Ihre Mithilfe.«

Als Hinrichs sich wegdrehte, um das Büro zu verlassen, hakte Dernau nach: »Sagen Sie mal, Hinrichs, so ein Hegeringleiter, kann der von dem Job eigentlich leben?«

»Quatsch!« Hinrichs grinste verächtlich über so viel Dummheit. »Natürlich nicht. Nahmen Rickmers hat eine Fleischereikette geleitet; das heißt, er war der Geschäftsführer in der Firma seiner Frau. Die hat ja keine Ahnung vom Geschäft, hat die Läden von ihrem Vater geerbt. Fleischerei Bendicks, die haben in jedem Dorf hier ihre Läden und auf Amrum auch. Ich glaube, die handeln sogar auf dem Festland mit Fleisch, seit Nahmen den Laden führt.«

»Danke, Herr Hinrichs.« Dernau grinste genauso arrogant zurück. »Sehen Sie, Sie sind ja doch zu was nütze, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht merkt.«

Hinrichs verließ wortlos das Zimmer und zog die Tür krachend hinter sich ins Schloss.

»Gut«, begann Bennings, »auch wenn wir noch keine Beweise haben, bin ich sicher, dass er uns etwas verheimlicht. Wir halten ihn bei den Ermittlungen so kurz wie möglich und lassen ihn nur noch die Kontakte herstellen. Keine wichtigen Informationen an die Inselpolizei, die nicht nach außen dringen sollen, bevor wir wissen, wem wir hier trauen können, okay?«

Dernau nickte grinsend. Solche Spielchen machten ihm Spaß. Er würde diesen Hinrichs an der Leine führen und selbst bestimmen, wie lang sie war und wann er das Stachelhalsband anlegte.

Die Tür öffnete sich, und der Leiter der Spurensicherung betrat den Raum. »Mann, Mann, Mann«, stöhnte er und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. »Was für eine Sauerei. Da suche ich lieber im Matsch nach Spuren als in so einer Syph-Bude.«

»Das hört sich gut an, dann hat eure Wunderlampe also etwas gefunden«, entgegnete Dernau. »Leg los, Aladin, was habt ihr?«

»In der Hütte sind überall Blutspuren«, berichtete Paul Woyke. »Das muss aber nicht alles Menschenblut sein, könnte auch von Enten oder anderem Viehzeugs stammen, das wird die Untersuchung im Labor zeigen. Aber der Hammer war das, was überall gelb aufleuchtete, als wir den Blaufilter vorgesetzt haben: Auf dem Bettzeug waren massenhaft Spermaflecken.«

»Dann haben die Enten dort wohl heftig gevögelt, bevor sie abgemurkst wurden«, sagte Dernau und grinste umso breiter, je länger er über seinen Witz nachdachte und letztlich auch den Kojenwärter in seinen geistigen Film mit einbezog.

»Oder der Tote«, überlegte Bennings.

»Auf jeden Fall muss in der Hütte häufiger High Life sein«, fuhr Paul Woyke fort, griff nach Dernaus Kaffeetasse und warf einen Stapel Fotos auf den Tisch. »Das Sperma kann auch nicht von einem Kerl alleine sein. Frisch waren außerdem nur zwei Spuren, die anderen waren älter und verkrustet. Ich sage ja: Syph-Bude. Da fängst du dir schon vom Hingucken aus hundert Metern Entfernung etwas.«

Bennings beugte sich über die Fotos und betrachtete sie der Reihe nach, bevor er sie an Dernau weiterreichte. Die Bilder zeigten das Feldbett im Kojenwärterhäuschen, das im Licht der Spektrallampe regelrecht mit gelben Farbklecksen überzogen war.

»Dazu gibt es unzählige Fingerabdrücke, die wir mit Cyano­acrylat sichtbar gemacht haben«, fuhr Paul Woyke fort, der Dernaus spezielles Interesse an allem, das mit Kriminaltechnik zu tun hatte, gerne ausführlich bediente. »Im Labor werden wir versuchen, sie mit einem neuen Verfahren mit dem Blut und dem Sperma zu vergleichen. Wir können nämlich inzwischen aus dem Fett der Fingerabdrücke Rückstände von Drogen, Medikamenten und so weiter extrahieren. Die Flecken überall dazwischen haben wir mit dem Gelbfilter sichtbar gemacht: Scheidensekret. Von wie vielen Frauen die sind, werden wir noch herausfinden. Die schwarzen Flecken auf dem Boden neben dem Bett sind Blut. Das ist eine Menge Arbeit, kann ich euch sagen. Wenn wir Pech haben und noch mehr finden, sind wir die nächsten zwei Wochen rund um die Uhr beschäftigt. Aber zuerst einmal müssen alle Spuren in der Hütte gesichert werden. Das Laken geht ohnehin komplett ins Labor. Das Beste wisst ihr aber noch gar nicht: Wir haben Hautspuren unter den Fingernägeln des Toten gefunden. Er muss den Täter gekratzt haben. Näheres erfahren wir aus der KTU. Ich hab meine Jungs in der Vogelkoje alleine weitermachen lassen und bin zu diesem Doktor Hecht nach Boldixum gefahren. Der Tote liegt in seinem Behandlungszimmer und blockiert ihm die ganze Praxis. Gleich nachher lasse ich ihn abholen, damit der Doc weiterarbeiten kann.«

»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«, hakte Bennings nach.

»Erschlagen, mit einem stumpfen, runden Gegenstand, vermutlich aus Holz. Ich habe sofort per Handy in der Koje Bescheid gesagt, die Jungs drehen jeden Ast danach um. Die Leiche weist zwei Wunden auf, eine kleinere an der Stirn, eine große mit deutlichen Frakturen seitlich auf dem Schädel. Ich lehne mich, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass der Schlag auf den Schädel zum Tode geführt hat und vermutlich als zweiter Schlag ausgeführt worden ist. Genaueres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen, auch ob das frische Sperma im Laken von ihm stammt. Jetzt brauche ich erst mal etwas Pause, dann fahre ich gleich wieder raus.«

»Gut.« Bennings knetete seine Unterlippe. »Dann lass uns mal ein paar Hypothesen aufstellen. Hypothese eins: Rickmers trifft sich mit seiner Geliebten in der Vogelkoje, es kommt zum Streit, in dessen Folge er unglücklich stürzt oder sie ihn erschlägt. Vielleicht wollte er sich nicht von seiner Frau trennen, oder so – klassisches Schema halt. Hypothese zwei: Die Geliebte ist die Ehefrau eines anderen, der die beiden in flagranti erwischt und Rickmers erschlägt. Hypothese drei: Rickmers und ein weiterer Mann streiten sich um die Frau, der andere gewinnt.«

»Hypothese vier«, ergänzte Dernau, »Rickmers ertappt seine eigene Frau mit einem anderen Kerl, es kommt zu besagtem Streit, der andere oder seine eigene Frau erschlägt Rickmers.«

»Hypothese fünf: Das Motiv liegt im Umfeld des Streits mit diesem Ökoverein«, fuhr Bennings fort, »oder – Hypothese sechs: Es hat etwas mit der Fleischereikette zu tun, also mit dem beruflichen Umfeld Rickmers’.«

»Hypothese sieben: All das ist Quatsch, und es war ganz anders«, unkte Paul Woyke, erhob sich wieder von seinem Stuhl und zwinkerte Dernau zu. »Auf jeden Fall wünsche ich euch fruchtbare Ermittlungen.« Er verließ grinsend den Raum.

»Sollte aber doch etwas an unseren Beziehungs-Hypothesen sein, liegt der Schlüssel bei der betreffenden Frau«, erklärte Dernau. »Lass uns zuerst zu Frau Rickmers fahren. Vielleicht erübrigt sich danach schon alles andere.«

»So machen wir’s«, stimmte Bennings zu.

Er öffnete die Tür zur Wachstube und ging hinaus. Hinrichs hockte hinter seinem Schreibtisch und hatte sichtlich mit seiner Müdigkeit zu kämpfen, denn immerhin hatte er seit gestern Abend durchgehend Dienst geschoben.

»So, Kollege Hinrichs, jetzt geben Sie mir mal die Adresse des Mordopfers«, ordnete Bennings an, »und dann fahren Sie nach Hause und hauen sich auf’s Ohr. Vor morgen früh will ich Sie hier nicht mehr sehen.«

»Die Dienste auf dieser Wache teile immer noch ich ein«, begehrte Hinrichs auf. »Und mein nächster Dienst beginnt heute Abend um achtzehn Uhr. Ich habe in dieser Woche Nachtschicht. Hier ist die Adresse von Nahmen Rickmers. Da Sie mich ja offenbar dazu nicht brauchen, fahre ich jetzt nach Hause und ruhe mich aus, wenn Sie nichts dagegen haben. Falls Sie noch weitere Fragen haben, stehen Ihnen die Kollegen Vedder und Groth sicher gerne zur Verfügung.«

Er schob den Zettel über den Schreibtisch und ließ ihn am anderen Ende liegen, anstatt ihn Bennings in dessen ausgestreckte Hand zu geben.

»Und das ist die Information über den Verein, die Sie brauchen«, sagte er und warf einen zweiten Zettel hinterher. Dann erhob er sich, schnappte sich seine Uniformjacke und rauschte an dem erstaunten Hauptkommissar vorbei und zur Vordertür hinaus.

»Da habe ich aber jemandem auf die Füße getreten«, bemerkte Bennings, woraufhin die beiden übrig gebliebenen Polizisten nur die Schultern hochzogen und wieder fallen ließen, als wollten sie sagen: ›Was geht uns das an?‹ oder: ›Das kommt gelegentlich vor.‹

Bennings griff nach den beiden Zetteln und verließ ebenfalls, gefolgt von dem grinsenden Dernau, die Zentralstation.

Leander und die Stille der Koje

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