Читать книгу Leander und die Stille der Koje - Thomas Breuer - Страница 9

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»Scheiße!«, fluchte Polizeioberkommissar Hinrichs und knallte den Hörer auf die Gabel. »Wenn uns da einer verarscht, dann kann er sich warm anziehen.«

»Was ist denn los?«, fragte Polizeihauptmeister Jens Olufs gelassen, der derartige Ausbrüche seines Chefs schon gewohnt war.

»Eine Leiche in der Boldixumer Vogelkoje«, antwortete Hinrichs knapp.

»Ja, klar. Warum nicht gleich ein Amoklauf mit fünfzehn Toten in der Lembecksburg?«

»Vorsicht, Jens. Treib’s nicht zu weit«, knirschte Hinrichs mit einem gefährlichen Unterton, so dass Olufs schlagartig den Ernst der Lage erkannte.

In diesem Moment klingelte die Mikrowelle. Hinrichs öffnete die Tür und zog einen Teller mit dem Backfisch heraus, den er sich gerade aufgewärmt hatte. Er bugsierte das heiße Fischfilet direkt vom Teller zurück zwischen die beiden Baguettehälften auf dem Tisch, zupfte das Salatblatt zurecht und wickelte die Serviette drum herum. Jetzt sah das Backfischbrötchen wieder aus wie vor zwei Stunden, als er es im Fischerhus in der Mühlenstraße gekauft hatte. Und es war wieder exakt genauso heiß, denn auch da war es aus der Auslage zuerst in die Mikrowelle gewandert.

Hinrichs angelte den Autoschlüssel vom Schreibtisch, warf ihn Olufs zu und setzte sich die Dienstmütze auf. »Du fährst«, bestimmte er. »Sonst wird mein Abendessen wieder kalt.«

Während der Fahrt im blau-silbernen Passat durch die Marsch biss Hinrichs herzhaft in sein Backfischbrötchen und störte sich nicht im Mindesten daran, dass sich die Remoulade auf seinen Wangen, dem Doppelkinn und im Schnauzbart verteilte. Erst als sie fett auf sein Hemd tropfte, quetschte er ein »Scheiße, Mann!« zwischen Fisch- und Brötchenstücken heraus, wodurch sich das Tropfen beschleunigte und die Sauce auf dem Hemd eine stückige Konsistenz annahm. An der Boldixumer Vogelkoje angekommen, stieg er aus dem Auto und wischte mit der fettigen Serviette an seinem Hemd herum. Das machte alles noch schlimmer, so dass Hinrichs das Papiertuch zerknüllte und wütend in den Graben warf.

»Vorsicht, Chef«, sagte Olufs. »Das ist ein Tatort. Nachher findet die Spusi die Serviette, und die Spuren auf Ihrem Hemd führen dann direkt zu Ihnen.«

Er fing sich einen vernichtenden Blick seines Vorgesetzten ein, der nun in die Knie ging und die Serviette schnaufend wieder aus dem Graben angelte. Dann schritt Hinrichs gefolgt von Olufs über die Brücke und betrat als Erster das in tiefem Dunkel gelegene Gelände der Vogelkoje. Vor den Beamten erstrahlte das Kojenwärterhaus hell erleuchtet unter den nächtlich schwarzen Bäumen. Sie erkannten eine zitternde Gestalt, die ohne Schuhe neben der offenen Tür auf der Erde kauerte und sich nun erhob.

»Na endlich!«, rief der Mann und machte humpelnd ein paar Schritte auf sie zu. »Wissen Sie eigentlich, was es heißt, neben einer Leiche hier in der Dunkelheit zu warten?«

»Sie haben uns angerufen?«, überhörte Hinrichs routiniert die Kritik.

»Baginski«, stellte der Mann sich vor. »Heinz Baginski aus Bottrop. Da drin liegt ein Toter.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe ihn gesehen!«

»Nein, ich meine, woher wissen Sie, dass er tot ist?«

Heinz Baginski stutzte. Die Frage war berechtigt. Er hatte der Leiche wirklich nicht den Puls gefühlt. Aber dann sah er das scheußliche Bild im Geiste wieder vor sich. »Das Blut«, stammelte er. »Überall ist Blut.«

»Na gut, Sie warten hier, wir sehen uns das mal an.«

Hinrichs machte ein paar vorsichtige Schritte auf die offene Tür zu, Jens Olufs folgte ihm. Und dann sahen auch sie, dass es da keinen Zweifel gab. Der Tote musste ein geradezu klaffendes Loch im Hinterkopf haben, denn er lag in einer Blutlache, die mit gelbweißen Stücken vermischt war. Hinrichs hatte zwar noch nie Gehirnmasse gesehen, aber so hatte er sie sich immer vorgestellt. Und dann erkannte er etwas, das ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, und er wusste, dass er handeln musste. Schließlich hatte er als Chef der Inselpolizei eine Verantwortung für das große Ganze.

Auch Jens Olufs trat nun einen Schritt näher heran, da sein Vorgesetzter ihm mit seiner Leibesfülle den Blick versperrte.

»Pass auf das Blut auf«, ranzte Hinrichs. »Latsch da bloß nicht rein!«

Olufs achtete genau darauf, wo er hintrat, und versuchte, das zur Seite gedrehte Gesicht des Toten zu erkennen.

»Mann«, entfuhr es ihm dann. »Das ist ja der Rickmers. Was macht der denn nachts in der Vogelkoje?«

»Genau die Frage stellt sich«, brummte Hinrichs und fügte wie nur für sich selbst bestimmt hinzu: »Und deshalb müssen wir jetzt handeln. Der Mann hat einen Ruf zu verlieren. Nahmen Rickmers ist nicht irgendwer!«

»Ich glaube, sein guter Ruf ist im Moment seine geringste Sorge«, wandte Olufs ein.

»Und Hilke?«, brüllte Hinrichs.

»Welche Hilke?«

»Hilke Rickmers, verdammt noch mal! Was glaubst du wohl, was das hier für sie bedeutet?«

In einem musste Jens Olufs seinem Vorgesetzten recht geben: Die Familie Rickmers hatte einen Namen auf der Insel. Wie man den allerdings schützen sollte, nachdem der Mann nun einmal unwiderruflich tot war, leuchtete ihm nicht so ganz ein. »Was haben Sie vor, Chef?«, erkundigte er sich unsicher.

»Lass das meine Sorge sein«, erwiderte Hinrichs abweisend. »Bring diesen … wie heißt der doch gleich?«

»Baginski«, antwortete Olufs.

»Bring diesen Baginski zum Auto und warte da auf mich.«

Olufs sah seinen Vorgesetzten fragend an, folgte dann aber dem Befehl und ging hinaus. »Kommen Sie, Herr Baginski«, forderte er den zitternden Zeugen auf. »Setzen Sie sich in unseren Dienstwagen, bis wir hier einen ersten Überblick haben.«

Heinz Baginski wankte hinter dem Polizisten her. Jeder Meter, den er zwischen sich und die Leiche brachte, konnte für sein seelisches Gleichgewicht nur gut sein. Aber dann fiel ihm etwas ein. »Meine Schuhe«, rief er, »und meine Ausrüstung.«

»Wie bitte? Welche Ausrüstung?«

»Meine Kamera ist noch am Teich. Deshalb bin ich doch hier. Ich wollte Enten fotografieren. Und die Kamera lasse ich nicht einfach so zurück.«

Olufs überlegte kurz. »Gut«, bestimmte er dann. »Holen Sie den Krempel. Ich warte am Auto.«

Heinz Baginski lief zum Kojenteich, zog sich seine Schuhe an und baute seine Kamera und sein Stativ ab. Dann schulterte er alles und stolperte den Weg zurück. Als er an der offenen Tür des Kojenwärterhäuschens vorbeikam und einen vorsichtigen Blick hinein warf, sah er den anderen Polizisten vor der Leiche knien. Schnell setzte er seinen Weg fort, um nicht noch einmal länger als nötig mit dem schrecklichen Anblick des Toten konfrontiert zu werden. Olufs stand neben der offenen Beifahrertür und half dem verstörten Zeugen auf den Sitz. Dann drückte er sanft die Tür zu und wartete, wie sein Vorgesetzter es angeordnet hatte.

Der kam einige Minuten später und steuerte diensteifrig auf den Wagen zu. Schon aus einigen Metern Entfernung wedelte er heftig mit den Armen. »Wo ist die Kamera?«, fragte er. »Ich mache ein paar Tatortfotos. Dann verständigen wir die Kollegen aus Flensburg. Das ist eine Sache für die Mordkommission.«

»Chef«, druckste Olufs herum. »Die Kamera …«

»Was ist damit?«

»Der Akku ist leer.«

»Woher willst du das wissen?«

»Die Geburtstagsfeier gestern.«

»Mann, kannst du nicht einmal in ganzen Sätzen reden? Welche Geburtstagsfeier?«

»Von meiner Schwiegermutter«, erklärte Olufs verlegen, wurde aber dann deutlicher, als er das gefährliche Glimmen in Polizeioberkommissar Hinrichs’ Augen sah. »Die hatte gestern Geburtstag, und da habe ich ein paar Fotos … und, na ja, ich bin noch nicht dazu gekommen, den Akku wieder …« Er machte einen Schritt zurück, weil Hinrichs’ Gesicht jetzt die Züge Frankensteins annahm.

»Das ist eine Dienstkamera, verdammt noch mal! Wie kannst du es wagen …?«

»Baginski«, fiel Olufs ihm ins Wort und wurde mit einem Mal sehr diensteifrig.

»Wie, Baginski?« Hinrichs platzte fast der Kragen.

»Unser Zeuge!«, erklärte Olufs und deutete auf die kauernde Gestalt auf dem Beifahrersitz.

»Was ist mit dem?«, brüllte Hinrichs.

»Der hat doch eine Kamera. Die borge ich mir aus.«

Bevor Hinrichs nachfragen konnte, hatte Olufs schon die Tür aufgerissen und sprach leise auf den Zeugen ein, der immer noch am ganzen Körper zitterte. Als Olufs ihn bat, noch einmal mit in die Vogelkoje zu kommen, schüttelte er entgeistert den Kopf. Nur mühsam konnte der Polizei­beamte ihn dazu bewegen, den Schutz des Fahrzeugs wieder zu verlassen.

»Was gibt das denn jetzt?«, erkundigte sich Oberkommissar Hinrichs aufgebracht.

»Chef«, erklärte Olufs, »am besten macht der Mann die Fotos selbst. Ich kenne mich mit diesen technischen Spitzenteilen nicht aus. Oder wollen Sie …?«

Hinrichs spießte Olufs mit seinen Blicken auf, entgegnete aber nichts.

»Warte hier, wir kommen, wenn wir fertig sind«, ordnete er an und begleitete den bebenden Zeugen zurück in die Vogelkoje. »Machen Sie ein paar Bilder vom Tatort und von dem Toten«, befahl er. »Aber passen Sie auf, dass Sie keine Spuren zertrampeln.«

Heinz Baginski war sichtlich schockiert, dass er der Leiche nun so nah kommen sollte, aber da der Polizist offenbar kurz vor einer Explosion stand, ging aus seiner Sicht von dem Toten die geringere Gefahr aus. Er schoss ein paar Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln, ohne sich die Leiche dabei wirklich anzusehen – quasi aus professioneller Distanz im Vorbeigucken –, vergaß auch den übrigen Innenraum der Hütte nicht und war froh, als er schließlich wieder draußen in der frischen Nachtluft stand.

Hinrichs klopfte ihm auf die Schulter und deutete mit dem Kopf an, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen sie durch den dunklen Tunnel unter den Bäumen auf den Ausgang zu, wo Jens Olufs immer noch an den Wagen gelehnt auf sie wartete.

»Du fährst jetzt mit dem Mann aufs Revier«, befahl Hinrichs, wobei Stimme und Mimik Entschlossenheit ausdrückten. »Ich bleibe hier und verständige Dr. Hecht, damit er den Tod von Rickmers feststellt. Die Kollegen in Flensburg rufst du an. Die können nicht vor morgen Vormittag hier sein, und so lange wird die Leiche ja wohl nicht vor sich hinmodern müssen.«

Olufs wollte etwas einwenden, aber Hinrichs brüllte: »Lass gehen! Ich weiß, was ich mache.«

Der Polizeihauptmeister half seinem Zeugen wieder auf den Beifahrersitz, stieg dann selber auf der Fahrerseite ein, wendete den Wagen vor dem Tiergatter am Deich und raste so schnell, wie es die Dunkelheit zuließ, auf der Straße durch die Marsch in Richtung Wyk davon.

Polizeioberkommissar Hinrichs zog sein Handy aus der Tasche und rief den Arzt Dr. Hecht an. »Uli? Torben hier. Du musst sofort zur Boldixumer Vogelkoje kommen. Hier ist die Kacke am Dampfen, aber so richtig. … Wie? … Nein, alles Weitere erkläre ich dir hier. Ich sage nur eins: Es geht um Mord!«

Leander und die Stille der Koje

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