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Himmel über der Halbstadt

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Eines Tages in den 1970er-Jahren – kurz nach der Entdeckung des katholischen Sonnenhauses – fand auch ich mich plötzlich in luftiger Höhe wieder: Dabei spürte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Immerhin hatten wir innerhalb weniger Sekunden fast 207 Meter überbrückt. Das erinnerte uns, Mädchen und Jungen aus meiner Schulklasse in einem überfüllten Fahrstuhl, an so etwas wie einen „Raketenstart“. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Aber es mussten noch bange Momente vergehen, ehe die Stahltür aufsprang und wir laut lärmend losrennen konnten. Die halbe Klasse – und ich mittendrin – stürmte auf die kreisrunde Aussichtsplattform. Wir waren überwältigt. Mit einem Mal wurde es still. Die ungewohnte Höhe, der wunderbare Ausblick, dazu ein sanftes, sachtes Schwanken und Schwingen des ganzen Baus. Diese Herrlichkeit machte uns geradezu andächtig.

In einem Kinderlied über den Fernsehturm heißt es: „Wollt ihr hinauf zum Turmcafé, / Turmcafé, Turmcafé, / fahrt mit dem Aufzug in die Höh', / Steigt alle ein Raketenstart! / Gleich kommt der Aufzug groß in Fahrt. / Turmcafé, in die Höh, Aufzug groß in Fahrt.“ Der Besuch des monumentalen Bauwerks, den wir damals absolvierten, war zu meiner Zeit obligatorisch. Die himmelstürmende Architektur des Turms mit der markanten Kugel sollte uns, formbare Mädchen und Jungen, von der Überlegenheit des Systems überzeugen. Beim rasanten Hochfahren hatte ich tatsächlich an so etwas wie „Raketenstart“ mit gezündeten Triebwerken gedacht. Allerdings musste ich mir ernüchtert eingestehen, dass sich mein Magen dabei nicht sonderlich weltraumtauglich verhalten hatte. Jedenfalls war der äußere Rahmen unserer Exkursion zur „Stadtkrone“ ganz darauf ausgerichtet, sich tief ins Gedächtnis einzugraben. Und so habe ich diesen Augenblick in Erinnerung behalten – anders allerdings, als sich das die Ideologen ausgedacht hatten.

Ausgerechnet Walter Ulbricht war es, der mir, dem vorlauten Schüler, hoch über den Dächern der Halbstadt eine Lektion erteilte. Dass ich unter dem geteilten Berliner Himmel damals was fürs Leben lernte, halte ich heute für eine List der Geschichte. Der formidable Vorsitzende, für den Architektur gebaute Weltanschauung war und der darum Kirchen als Relikte der Vergangenheit hasste – die Leipziger Universitätskirche, die Potsdamer Garnisonkirche und die Christuskirche in Rostock ließ er bedenkenlos zerstören –, hatte sein Prestigeprojekt zum Ruhm des jungen Staates, aber mehr noch für die eigene Unsterblichkeit erbauen lassen. Zugleich konnte der Mauer-Erbauer aber nicht verhindern, dass der von der Peripherie (Müggelberge) ins Zentrum transferierte Fernsehturm zwar sein Ansehen steigerte, aber auch verdrängte Probleme der beiden Berliner Halbstädte offenkundig machte.

Der Historiker und Korrespondent Peter Bender hat das, was ich als Kind diffus wahrnahm, in begrifflicher Klarheit beschrieben: „Oft vergessen wird schließlich das Dauerproblem, das die Enklave [West-Berlin] ihrem Umland bereitet. Vom Tage der Staatsgründung bis heute [1987] hat die DDR nur eine halbe Hauptstadt – halb im geografischen Sinn, der größte Teil Berlins gehört nicht dazu; halb auch im rechtlichen Sinn, Ost-Berlin ist nach westlicher Auffassung nach wie vor der sowjetische Besatzungssektor der Viermächtestadt. Das gab es noch nie: eine Hauptstadt, die nicht einmal ihren Namen ganz für sich hat, sondern erst durch einen Zusatz, ,Ost‘ oder ,DDR‘, identifizierbar wird. Eine Hauptstadt, die bis in die jüngste Zeit im Schatten einer attraktiveren Schwester stand […]. Eine Hauptstadt, die von den Diplomaten, Korrespondenten und Handelsleuten einfach verlassen wird, wenn die Damen und Herren einkaufen, sich amüsieren oder ungestört bleiben wollen. Eine Hauptstadt, die eine Mauer braucht, um sich von der Konkurrenz abzugrenzen. Eine Hauptstadt auch, in der fremde Soldaten Kontrolle fahren und die eigene Armee nicht paradieren kann, ohne dass nebenan eine Weltmacht protestiert.“29

Am 3. Oktober 1969 kam der große Augenblick. Im Vorfeld des 20. Jahrstages der DDR-Gründung, also auf dem Höhepunkt ihrer Existenz, „konnte Walter Ulbricht sein persönliches Großprojekt einweihen. Dass Ulbricht dabei von den wichtigsten Funktionären der Partei- und Staatsführung der DDR begleitet wurde, unterstreicht die Bedeutung, die man diesem Bauwerk beimaß. Euphorisch titelte das Neue Deutschland: ,Der Turm – ein Meisterwerk der Republik‘.“30 Beim Aussteigen im 207 Meter hoch gelegenen Telecafé konnte sich der Parteichef mit Recht dem Gefühl überlassen, im Berliner Stadtbild eine unverrückbare Konstante geschaffen zu haben.

Was ich damals beim Turmbesuch fühlte, ging mir unter die Haut: Zum ersten Mal erblickte ich den „Westen“ und sah eine Welt, die gar nicht wirklich existierte. Diese Entdeckung konnte ich kaum für mich behalten. Darum habe ich sie an eine vertraute Mitschülerin verraten. Aber vor unseren Kinderaugen wurde bald etwas sehr Trostloses sichtbar: Mitten durch Berlin zog sich die Mauer. Mit ihrem frisch geeggten Spurensicherungsstreifen sah das aus wie eine Wunde im Gesicht der doppelten Halbstadt. Uns wurde klar, dass es da unten schlimme Dinge gab, auch wenn wir damals noch keine Begriffe dafür parat hatten: Kontaktzaun mit Akustik- und Lichtsignalen, Minenfelder, Patrouillenwege, Hundelaufzonen, Stacheldraht und Spanische Reiter. Jahre später erkannte ich bei einem weiteren Besuch, dass die tödliche Grenze am Abend von Peitschenlampen angestrahlt wurde. Die urbane Welt unten zeigte sich von oben deutlich zweigeteilt in hell und dunkel. Hinter dem Brandenburger Tor begann die Halbstadt zu leuchten.

Im Westen gab es also etwas zu sehen, was eigentlich gar nicht existierte: quirliges Leben. Aus Stadtplänen und Schulbüchern war uns der unzugängliche Teil der Halbstadt nämlich nur als weißlich-beiger Farbton vertraut. Jenseits der Spree – suggerierten die Landkarten – befanden sich allenfalls Seen und Wälder, die in Umrissen angedeutet waren. Diese fremde Welt schien eine Art Reservat für wilde Tiere zu sein. Aber als Kind erblickte ich damals eine einzige Berliner Silhouette.

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