Читать книгу Verschwörung der Schmetterlinge - Thomas de Bur - Страница 5
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ОглавлениеVier Wochen lang investierte ich jeden meiner Groschen in Blumensträuße. Es war eine wunderschöne, weiche Zeit und Sybille gab sich redlich Mühe, mein regelmäßiges Ungeschick zu ertragen. Irgendwann meinte sie allerdings, dass ich keine Blumen mehr bringen müsste und daraufhin zog ich mich leise, aber bestimmt zurück. Bedauerlicherweise hielten es meine späteren Freundinnen auch nie lange mit mir aus und bald hatte ich den Ruf, dass ich die weiblichen Nervenkostüme recht zügig zum Einsturz bringen konnte. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen, wagte sich ab und zu eine Frau in meine aufregende Welt. Die Schulzeit brachte ich ein Jahr nach den Erlebnissen mit Sybille zu Ende und musste gezwungenermaßen etwas Vernünftiges lernen. Eine Ausbildungsstelle zu finden war auch damals nicht so leicht. Es gab zwar mehr freie Stellen als heutzutage, aber meine Ansprüche waren naturgemäß recht hoch. Alle Berufe mit hoher Verletzungsgefahr kamen nicht in Frage. Es war von Anfang an klar, dass ich weder Tischler, Elektriker, Dachdecker oder Schornsteinfeger werden konnte. Ein Bürojob kam auch nicht in Frage, denn den lieben langen Tag langweilige Papierstapel neu zu schichten, erschien mir nicht als Sinn meines Lebens. Ich brauchte etwas, was mein Gemüt nicht mit Eintönigkeit belastete, sondern mich kreativ befriedigte und mit dem man physisch sowie psychisch etwas anfangen konnte. Der Zufall entschied irgendwann für mich. Dazu muss man wissen, dass ich schon als Kind eine kleine Naschkatze war. Schokolade in allen Varianten brauchte ich täglich. Zum Glück konnte ich es mir leisten, körperlich gesehen. Ich hatte eine ansehnliche, schlanke Figur und die zusätzlichen Kalorien verursachten keinerlei Problemzonen. An besonderen Tagen belohnte ich mich gerne mit feinen Pralinees. Ich kannte irgendwann alle Schokoladenhersteller in Hamburg und besaß dadurch für jede Lieblings-Praline meine spezielle Lieblingskonditorei. An einem verschneiten Wintertag herrschte absolutes Chaos auf den Hamburger Straßen. Ich war beim Sport gewesen und musste zu Fuß nach Hause gehen, weil kein Bus fuhr. Es wurde gerade dunkel und der fallende Schnee saugte die lauten Geräusche auf. Die Lichter der Laternen und der Geschäfte tauchten alles in eine heimelige, ruhige Glitzerwelt. Auf meinem Weg durch die weißen Häusergassen kam ich an einem freundlich beleuchteten Schaufenster vorbei. Die Scheiben waren mit Gold- und Silberfolien beklebt und in den Auslagen strahlten wunderschöne Dekorationen aus leckeren Torten und zauberhaften Pralinees. Ich kannte den Laden nicht, er schien neu zu sein. Neugierig trat ich ein, denn mir war eingefallen, dass ich den ganzen Tag noch nicht gestürzt war, obwohl alle Wege komplett vereist waren. Eine Belohnung hatte ich mir redlich verdient, außerdem wollte ich den Laden und seine feinen Geheimnisse kennen lernen. In dem Geschäft fühlte ich mich wie in einem alten Krämerladen. Eine helle Glocke bimmelte dezent. Der große Verkaufstresen bestand nicht wie üblich aus Glas und Metall, sondern aus massivem, dunklem Eichenholz. Auf dem Tresen glänzten unter Glasglocken die Tortenschätze. An den Wänden lehnten Holzregale und Holzkommoden, auf denen sich die feinen Pralinen in gläsernen Behältern und auf silbernen Tabletts präsentierten. Die Gefäße hatten ganz unterschiedliche Formen und jedes beherbergte eine andere Art von Pralinees, so dass man mit dem Staunen und Gucken gar nicht aufhören konnte. Hinter dem Tresen saß ganz schüchtern ein Mädchen auf einem Drehstuhl. Sie war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich. Sie trug kurze schwarze Haare, hatte helle Augen und eine sehr schlanke Figur. Ich fand sie auf den ersten Blick recht süß, aber ich war ja wegen der Pralinen da, deswegen schaute ich lieber die Glasbehälter ausgiebig an und las die kleinen Kärtchen mit den Beschreibungen durch. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten mich zu entscheiden. Das Mädchen störte mich nicht und meine Auswahl schien ihr auch nicht zu lange zu dauern. Irgendwann hatte ich mir vier Sorten ausgesucht, von denen ich je zwei Pralinen nehmen wollte. Als das Mädchen die Leckereien vorsichtig in einer Tüte verstaute, fragte ich sie, ob sie all diese schönen Pralinen schon probieren konnte. Sie schüttelte daraufhin mit dem Kopf und erklärte mir, dass ihr das Probieren verboten wurde. Ich fand das ziemlich schade, aber verständlich war es natürlich, denn sonst wäre vielleicht schnell nichts mehr zum Verkaufen da gewesen. Beim Bezahlen entdeckte ich auf dem Tresen ein kleines Schild. Mit schnörkeliger Handschrift stand darauf, dass die Konditorei Andresen einen Lehrling suchte. Mein Herz machte einen Hüpfer und ich fragte sofort, wo man sich bewerben konnte. Das Mädchen lächelte ganz lieb und ging sofort nach hinten, um ihren Chef zu holen. In der Schule hatte man uns vor den anstehenden Bewerbungsgesprächen eindringlich gewarnt. Es gab hundert Dinge zu beachten, damit man sich ins rechte Licht rücken konnte. Ungefähr tausend Fallen warteten auf dem Weg zu einer Lehrstelle und nur die wenigsten Bewerber überlebten die Torturen der Verhöre. Grausame Fangfragen musste man umschiffen und niemals durften die Fragesteller gereizt werden. Alles Quatsch, wie ich zehn Minuten später wusste. Der Konditormeister Andresen schaute mich von unten bis oben abschätzend an und stellte gerade mal drei Fragen: »Wie heißt du? Wo wohnst du?« Und: »Warum willst du Konditor werden?« Meine Antworten reichten ihm vollkommen aus und er hatte anscheinend auch keine Angst um seine Pralinen, als ich ihm auf die dritte Frage antwortete, dass ich Schokolade zum Vernaschen gern hatte. Ich bekam die Lehrstelle sofort zugesagt und als ich beim Einpacken meiner gekauften Pralinen dem Mädchen zwei von meinen Schätzen über den Tresen zuschob und meinte, dass sie die zwei Sorten jetzt einmal probieren durfte, begleitete mich das dankbare Lächeln meiner zukünftigen Kollegin aus der Tür hinaus. Ich war total glücklich und tanzte meinen Weg nach Hause, bis ich an der nächsten Ecke auf der Nase lag. Die Pralinen wurden dadurch zwar zerdrückt, aber das tat ihrem Geschmack keinen Abbruch. Sie waren ober-lecker und im Geiste sah ich mich, selig schmatzend, inmitten riesiger Berge aus leckeren Pralinen hocken. Bis zum 1. August, an dem die Lehre anfangen sollte, wurde mir die Zeit recht lang. Den Laden besuchte ich in den darauf folgenden Monaten mehrmals und jedes Mal berücksichtigte ich das süße Mädchen hinter dem Tresen mit einer anderen Sorte der vielen Pralinen. Sie hieß Christine und lernte im ersten Lehrjahr zur Verkäuferin. Die Konditorei Andresen wurde erst kurz vor ihrem Lehranfang eröffnet, deswegen kannte ich das Geschäft auch nicht. Den Laden führte sie eigentlich ganz alleine, nur samstags oder wenn sie Schule hatte, kümmerte sich die Frau des Meisters um die Kunden. Ich war beeindruckt, dass Christine den Laden so selbstständig schmiss und muss zugeben, dass sie mir sehr sympathisch war. Leider konnte ich nie so lange bleiben, um mich mit ihr zu unterhalten, das wäre gegenüber meinem zukünftigen Chef ungehörig gewesen und außerdem hatte Christine blöderweise einen Freund. Arbeitsanfang am 1. August war morgens um sieben Uhr. Ich war heilfroh, dass der Konditor Andresen keine Brötchen backte, denn mitten in der Nacht aufzustehen wäre nichts für mich gewesen. Der Konditormeister schien vordergründig ein ruhiger Mann. Er war stämmig, aber nicht dick und hatte bis hinauf zu seiner Halbglatze eine gesunde Gesichtsfarbe. Nach ein paar Tagen merkte ich, dass sein Gesicht auch ziemlich rot werden konnte und dass er ein bisschen cholerisch veranlagt war. So schlimm wurde es aber nie und seine Ausfälle beschränkten sich auf Situationen, in denen ich mich total ungeschickt anstellte. Seine strenge Frau war ein bisschen hochnäsig und die eigentliche Chefin der Konditorei, denn sie hatte ihren Mann voll im Griff. Glücklicherweise erschien sie nicht so oft im Laden und schon am ersten Tag wusste ich, dass Christine genauso dachte. Meine Ausbildung lief halbwegs problemlos und ich war wirklich zufrieden. Ich bin mir sicher, dass der Chef mit mir auch zufrieden war. Nach gut einem Jahr machte er ja auch meinetwegen ein ausgezeichnetes Geschäft. Zuerst war der Meister gar nicht begeistert, aber Frau Andresen rettete die Situation und kam auf eine glorreiche Idee. Das war nämlich so gewesen. Im September fingen wir immer an, für das Weihnachtsgeschäft zu backen. Ich war inzwischen ein Jahr in der Lehre und konnte schon viele Torten und Pralinen selbstständig herstellen. Ab und zu forderte mich der Meister auf, etwas Neues auszudenken und zu experimentieren. Für das Weihnachtsgeschäft bekam ich den gleichen Auftrag. Mehr aus Schabernack kreierte ich neben ein paar neuen Weihnachtspralinen einen Weihnachtsmann, eine Weihnachtsfrau und zwei Rentiere aus Schokolade, die ich jeweils mit farbigem Zuckerguss bemalte, so dass sie sehr realistisch wirkten. Da mir die bis dahin käuflichen Weihnachtsmänner zu bieder aussahen, testete ich eine witzigere Variante. Den Weihnachtsmann und die Weihnachtsfrau ließ ich ihre roten Mäntel wie Lustmolche lupfen. Darunter waren sie natürlich splitterfasernackt. Die Frau habe ich wunderschön proportioniert hinbekommen, nur bei dem Mann war der steife Johannes, den ich mit rosa Marzipan anbaute, für meinen Geschmack etwas zu groß geraten. Die zwei Rentiere goss ich zeitsparend aus einer Form, weil das Männchen das Weibchen sowieso gerade von hinten bestieg. Die heraushängenden, großen Zungen der Beiden waren aus rotem Marzipan und die verträumt schielenden Augen mit den langen Wimpern bestanden aus Zuckerguss und Zartbitterschokolade. Mir haben meine Werke ziemlich gut gefallen, sie haben mich echt Mühe gekostet. Als mein Chef meine Kreationen erblickte, starrte er zuerst nur sprachlos, aber kurz danach lief er puterrot an und fing an zu schreien. Das Toben rief seine Frau und Christine auf den Plan. Der Meister schimpfte und die beiden Frauen schauten sich mit großen Augen den Weihnachtsmann an. Christine konnte sich ein Kichern kaum verkneifen, Frau Andresen zog nur die Augenbrauen abschätzend hoch. Nach einer Weile, als ich schon ziemlich betreten wegen der Aufregung war, tippte die Frau Konditorin ihren Mann kurz an und stellte ihn dadurch ab. Dann beauftragte sie ihn mit einem spitzbübischen Lächeln, dass er die drei neuen Kreationen bei den Bäckereien in der Nähe der Reeperbahn vorstellen und Bestellungen aufnehmen sollte. Dann rechnete sie im Geiste und legte die Preise fest. Mir wurde ganz schummrig, denn sie wollte für meine Erfindungen wahnsinnig viel Geld haben. Ihr Mann brummte ein bisschen, aber er packte meine drei Weihnachtsphantasien in einen Karton und fuhr umgehend los. Kurz vor Feierabend kehrte er zurück. Ich erkannte schon an seinem Gesicht, dass ich keine Befürchtungen zu haben brauchte, denn er grinste wie ein Honigkuchenpferd. Seine Frau hatte sehnsüchtig gewartet und entriss ihm sofort den großen Zettel, mit dem er beim Eintreten in der Luft wedelte. Meine kopulierenden Rentiere wurden fünfzig Mal bestellt, die sexy Weihnachtsfrau einhundertzwanzig Mal und der lüsterne Weihnachtsmann mit dem steifen Johannes sogar einhundertachtzig Mal. Am nächsten Tag wollte der Meister noch einmal los, um mehr zu verkaufen. Mir wurde total schwindelig, denn von der ungefähren Summe konnte man locker ein Auto kaufen. Acht Wochen lang baute ich jeden Tag die Weihnachtsmänner, Weihnachtsfrauen und Rentiere. Bei den Weihnachtsfrauen half mir der Chef ziemlich oft und optimierte mit glänzenden Augen die Proportionen. Seine Frau kontrollierte währenddessen mit Argusaugen die Herstellung der Weihnachtsmänner und auch Christine war ziemlich häufig in der Backstube, um zu plaudern. Ich vermute, die Aussicht auf die neuen Artikel hat die Chefin etwas in Wallung gebracht, denn kurz vor Weihnachten ergab sich eine überaus verfängliche Situation. Der sprichwörtliche Kater war gerade außer Haus und Christine hatte Schule. Die Chefin schaute mir über die Schulter, während ich einen Weihnachtsmann für die Nachbestellungen vollendete. Das rosa Marzipan hielt nicht richtig an dem Zahnstocher, deswegen wollte ich noch Zuckerguss zum Kleben anrühren. Als ich aufstand und in das Lager ging, um Puderzucker zu holen, rauschte Frau Andresen hinter mir her. Kaum war ich im Lagerraum, schloss sich die Tür und die Maus, die meine Mutter hätte sein können, tanzte quasi auf dem Tisch. Bevor ich fähig war mich zu wehren, klebte sie an mir fest und fingerte an meiner Hose herum. Ich habe mich dermaßen erschrocken, dass ich mitsamt der Chefin rückwärts auf die Säcke mit Mehl plumpste. Es staubte fürchterlich, als die Säcke platzten und das gesamte Lager mit Mehl einnebelten. Ich bekam keine Luft mehr, weil Frau Andresen auf mir drauf lag und meine Lunge mehr Mehl als Sauerstoff inhalierte. Die Chefin sah aus, als ob sie eine weiße Gesichtsmaske trug und nachdem sie mir zu hustete, dass wir ihren ursprünglichen Plan etwas verschieben, dampfte sie von dannen. Ich rettete mich ebenfalls aus der Mehlwolke heraus und klopfte mich draußen vor der Hintertür ab. Als sich das Mehl im Lager gelegt hatte, fing ich an sauber zu machen. Natürlich nahm ich abends, als der Konditor zurückkam, alle Schuld auf mich und erklärte ihm, dass ich unglücklich gestolpert war. Der Chefin ging ich danach sorgfältig aus dem Weg und rettete mich sogar zweimal zu Christine in den Laden. Irgendwann im darauf folgenden Herbst war es nicht mehr so drückend heiß in der Konditorei, Christine wurde nach der Prüfung übernommen und schmiss den Laden jeden Tag alleine. Ich beendete ein Jahr später meine Ausbildung ohne Schwierigkeiten, ich wurde jedoch nicht übernommen und musste mir anderweitige Beschäftigungen suchen. Allerdings kam ich dazu erst einmal gar nicht, denn der Staat zeigte großes Interesse an mir. Ich sollte zur Musterung und die Wahrscheinlichkeit war ziemlich groß, dass ich ein paar Wochen später irgendwo im Schlamm liegen musste. Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Mir graute vor diesen Simpeln in Uniform. Je kleiner, desto fieser wurden mir die Menschenschinder von Bekannten geschildert. Zudem malte ich mir aus, was ich für ein Inferno anrichten könnte, falls ich scharfe Munition in meine linken Hände bekam. Mir war klar, dass ich um die Quälerei herum kommen musste. Der so genannte Ersatzdienst war allerdings auch nicht mein Ziel, ich hatte besseres mit meiner Zeit im Sinn und schon eifrig geplant. Aber zuerst musste ich mir für die Bundeswehr etwas einfallen lassen. Normalerweise hätte es keinen Grund gegeben mich auszumustern. Ich war körperlich und geistig vollkommen intakt. Ich wälzte sämtliche Bücher im Laden meines Vaters, aber ich fand nirgends einen brauchbaren Hinweis, wie ich es anstellen konnte, ausgemustert zu werden. Selbstverstümmelung kam für mich nicht in Frage und Drogen wollte ich deswegen auch nicht nehmen. Ich interviewete daraufhin alle Bekannten, um den Ablauf der Musterung in Erfahrung zu bringen und man glaubt es nicht, ausgerechnet bei Cousin Detlef, dem HSV Fan, wurde ich fündig. Der Detlef wurde nämlich zwei Jahre zuvor von der Bundeswehr ausgemustert und zwar, weil er unter starker Migräne litt. Er bekam ein Attest von seinem Arzt und wurde daraufhin von den Bundeswehrärzten als untauglich eingestuft. Nun litt ich eigentlich nie unter Kopfschmerzen, aber ich stieß mir schon öfter auf den Kopf. Mein genialer Plan stand schnell fest. Ich machte einen Termin beim Neurologen und gab an, dass ich unter starken Kopfschmerzen litt. An dem Tag vor dem Arztbesuch fing ich schon morgens an zu saufen. Ich hatte mir eine Flasche extra schlechten Fusel aus dem Supermarkt, einen billigen Rotwein, ein Rätselheft, verschiedene Räucherstäbchen und eine Packung Kaugummis besorgt. Den ganzen Tag über nippte ich in meinem Zimmer an dem Schnaps, nebelte mich mit asiatischen Duftwolken ein und löste nebenbei die Kreuzworträtsel. Abends setzte ich zusätzlich Kopfhörer auf und beschallte mein Hirn mit hämmerndem Rock. Um Mitternacht hörte ich nach drei Gläsern Rotwein auf zu trinken, denn ich musste morgens ja halbwegs nüchtern sein. Die ganze Nacht löste ich die Rätsel aus dem Heft und hörte laut Musik. Morgens um sechs sah ich aus wie eine Leiche, aber ich hatte erfreulicherweise wahnsinnige Kopfschmerzen. Zum Frühstück aß ich die Packung Kaugummis. Um halb neun stattete ich dem Neurologen meinen Besuch ab. Die Kaugummis schienen meine Fahne zu übertünchen, denn der Arzt erwähnte nichts in der Richtung. Ich gab an, dass ich etwa ein bis zwei Mal pro Woche unter den starken Schmerzen leiden musste. Es wurde ein EEG von meinen Hirnströmen angefertigt und nachdem mich die Sprechstundenhilfe freundlicherweise weckte, führte der Arzt ein ernstes Gespräch mit mir. Meine Hirnwellen verursachten große Ausschläge auf dem EEG-Protokoll und deuteten unwiderlegbar auf schwere Verkrampfungen hin. So eine starke Ausprägung war ihm noch nicht vorgekommen und über die Ursachen konnte er nur spekulieren. Er verschrieb mir Tabletten gegen die Schmerzen und empfahl mir viel frische Luft, sowie regelmäßigen Schlaf. Ich fragte ihn dann ganz unbekümmert, ob ich das bei der Musterung der Bundeswehr angeben müsste, weil die bald anstehen würde. Das war für den Arzt überhaupt keine Frage. Er wollte mir auch sofort ein Attest schreiben, denn er bezweifelte stark, dass ich mit solch quälenden Kopfschmerzen überhaupt dienen konnte. Darüber war ich natürlich sehr traurig, aber auch nach erneuter Nachfrage fiel ihm keine Therapie ein, die mir helfen würde. Mit dem Attest in der Hand schlenderte ich dann leise pfeifend nach Hause und verschlief den restlichen Tag. Am Morgen der Musterung wollte ich auf Nummer sicher gehen und aß ein ganzes Glas Honig, damit mein Blutzuckerspiegel in die Höhe schoss. Zuversichtlich betrat ich genau um zehn Uhr das Kreiswehrersatzamt und buchstabierte dem diensthabenden Schreiberling, der am Eingang die Testpersonen abhakte, meinen Namen. Ich kann schon einmal verraten, dass diese angebliche Untersuchung auf Tauglichkeit ein ziemlicher Witz ist und auch einige grundsätzliche Fragen in Bezug auf die Persönlichkeitsrechte aufgeworfen werden. Ich meine damit nicht die Urinabgabe, denn wenn man Glück hatte, konnte man sich bei vorherigen Arztbesuchen daran gewöhnen, dass man eine halbe Stunde mit dem alten Becher in der Hand vor der Kloschüssel stehen muss und auf Tröpfchen wartet. Was das Bundeswehrlabor aus den gepressten Tropfen dann ableitete, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings fragte mich der Arzt in meinem Fall, ob ich morgens Honig zum Frühstück gegessen hatte, die Blutzuckerart können die Spezialisten also recht eindeutig bestimmen. Im Arztzimmer der Musterung wurde es anschließend sehr merkwürdig und dort wurden auch diese besagten Fragen aufgeworfen. Zuerst fühlte ich mich wie auf dem Sklavenmarkt, weil der Arzt meinen Körper abschätzend betatschte und mir dann im Mund herum fummelte, um mein Gebiss genau zu inspizieren. Für diese kleinen, abgewinkelten Zahnarzt-Spiegel fehlte dem Staat leider das Geld, er überließ die Zahnkontrolle lieber den dicken Wurstfingern seiner Helfershelfer. Stethoskope gab es auch nicht genug. Den Test, ob meine Lunge in Ordnung war, mussten die Bundeswehrärzte aus dem Mittelalter übernommen haben. Anders kann ich mir nicht erklären, warum der Typ meine Eier packte und mich dann mehrmals husten ließ. Zu dem Zeitpunkt war ich schon ziemlich sauer, doch die Krönung kam, als ich mich bücken sollte und ein Gummifinger analytisch tätig wurde. Da hätte ich dem Weißkittel am liebsten eine gelangt. Bei der Musterung wird wohl die Bundeswehrrealität schon mal vorweg genommen. Zuerst wird man geschockt und erniedrigt, um dann im Kreuzverhör hinterhältigen Fragen ausgesetzt zu werden. Deswegen gab es im Kreiswehrersatzamt auch zwei Arzträume. In dem Ersten musste man die geschilderte Prozedur zur Sklavenkörperbeurteilung über sich ergehen lassen und beim zweiten Arzt testeten sie die Widerstandskraft gegen Suggestivfragen und ob man ein Querulant oder Opportunist war. Als Ablenkungsmaßnahme sollte ich während der vielen Fragen eine kleine Treppe hoch und runter laufen. Treppe ist zu viel gesagt, es waren zwei Stufen. Das ich da durcheinander kam, ist für mich vollkommen logisch. Man halte sich das einmal bildlich vor Augen. Zwei Stufen hoch laufen, zwei Stufen herunter und dann wieder hoch. Ich möchte den Menschen kennen lernen, der eine Treppe mit lediglich zwei Stufen hinauf und hinunter laufen kann. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn jeder Fuß hat bei so einer Minitreppe ja nur eine Stufe zur Verfügung. Aber nichts desto trotz, so schnell man konnte sollte das Treppchen laufen gemacht werden, die ganze Zeit, ohne Pause und währenddessen wurden Fangfragen gestellt. Bei mir dauerte es nur Sekunden und ich lag auf der Nase, im wahrsten Sinne des Wortes. Die blöde, kleine Treppe schlug so heftig gegen mein empfindliches Riechorgan, dass beide Stufen rot wurden. Wenn man jetzt denkt, dass der medizinische Verhörleiter mich sofort fachgerecht verarztete, täuscht man sich. Er reichte mir zwei Papiertücher aus einem Spender neben dem Waschbecken und während ich fast verblutete, las er in aller Ruhe mein Attest vom Neurologen durch. Auf eine Bemerkung über meine Leiden wartete ich vergeblich, aber meine ärztliche Musterung war damit beendet. Nach einer Ewigkeit des Wartens auf den kargen, zugigen Gängen des Kriegsgebäudes, wurde ich beim letzten Akt als potentieller Sklave vor den Musterungsausschuss gerufen. Etwa zehn Männer in gestriegelten Uniformen saßen hinter einem langen Tisch und musterten mich mit stechenden Augen. Von diesem Tribunal sollte ich meine persönliche Haltungsnote zu hören bekommen. Bei mir waren sich die Lamettaträger anscheinend nicht so sicher, denn sie diskutierten ewig und wälzten Akten und Papiere. Ich stand mit hängenden Schultern und absichtlich schiefem Rücken vor dem langen Tisch herum. Nach einer Weile mit vielen stechenden Blicken einigten sich die Herrschaften darauf, dass sie mich nicht haben wollten. Ich bedankte mich höflich für die Fünf und verließ inbrünstig grinsend das kalte Gebäude. Es gibt ja Situationen im Leben, da fühlt man sich wie der kleine David, der den scheußlichen Goliath bezwungen hat. Auf Wattewolken thronend ist man König der Welt. Das ganze Universum lag mir damals zu Füßen, ich war vollkommen frei. Endlich konnte ich machen, was ich wollte und brauchte Niemandem Rechenschaft ablegen. So dachte ich zumindest.