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Heidi Ramlow - Wo der Hund begraben liegt

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Berlin, 1946.

„Hast du schon mal einen getötet?“, fragt Emil.

„Ick? Nee. Aber mein Vater. An der Ostfront. Viele. Tausend bestimmt. Und du?“

„Auch nich. Aber ich werde welche töten. Russen. Mindestens fünf, verstehst du?“

„Dit gloobste selbst nich. Russen sind stark.“

Paul nimmt einen Schluck Muckefuck aus der Feldflasche von Emil. „Schmeckt echt jut, wirklich“, lobt er ihn. „Und dit mit den Russen umbringen, dit is Quatsch. Wir haben doch Frieden. Ick hab richtig nette Russen kennenjelernt. Die waren ziemlich knülle und wollten, dass ick Wodka trinke.“

Sie schweigen eine Weile.

„Wollen wir schwimmen jehen?“, fragt Paul.

„Keine Lust“, sagt Emil. „Hab zu tun, verstehste? Ich muss innen Ostsektor.“

„Wat willste denn im Osten? Da liegt doch der Hund begraben.“

„Wat denkste? Russen umbringen, natürlich!“

„Du spinnst“, sagt Paul. „Aber – du hast Ahnung von Pflanzen, dit ist praktisch. Wie heißt das Unkraut, aus dem du Muckefuck jemacht hast? Wegwarte?“

Emil nickt.

„Und aus den Wurzeln haste dit jemacht, was ich eben jetrunken hab, echt?“

„Ja. Zichorien heißen die. Erst trocknen, dann rösten, dann mahlen, dann heißes Wasser druff.“

Sie liegen am Lietzensee und schauen in eine Trauerweide, deren Ruten dicht über dem Wasser sanft im Wind schaukeln. Emil verschränkt die Arme unter seinem Kopf und schließt die Augen. Unter den Armen ist sein Hemd zerrissen, gut belüftet, trotzdem stinkt er. Er weiß es. Ein Bad wäre dringend nötig.

Emil hat keine Freunde. Ist besser so. Seine dunkelblonden Haare schneidet er selbst. Er beißt sich durch. Andere hatten eine Mutter, die sich kümmerte. Emil musste sich selber kümmern, dabei ist er erst zehn.

Paul schlurft zum See runter. „Nun komm schon.“ Er spritzt mit Wasser und versucht Emil zu treffen, der sitzengeblieben ist und die Feldflasche in der Hand hält.

„Ich kann nich schwimmen.“

„Du hast es aber nötig. Du stinkst.“

„Selber nötig“, ruft Emil. „Ich geh nich in diese Brühe.“

„Brühe? Dit Wasser is klar. Brühe wird dit erst, wenn du drin bist.“

Paul lacht und hängt seine Schuhe an einen dicken Zweig, der in den See hineinragt, zieht sein Hemd und die Hose aus und hängt sie daneben.

Er hangelt sich an dem Ast entlang, baumelt an ihm und lässt sich in den See gleiten.

Emil hockt sich ans Wasser. „Das ist Leichenwasser“, sagt er auf einmal.

„Ick fühl mia ziemlich lebendig!“, grinst Paul und planscht. „Hier kannste stehen. Herrlich! Los, komm rein!“

„Oben auf der Wiese haben die Russen ihre toten Soldaten eingebuddelt. Weißt du?“, ruft Emil. „Mit Holzbohlen um jedes Grab. Ich hab´s genau gesehen.“

„Ja, und meen Nachbar hat die Bohlen jeklaut. Dit hab ick jesehen. Wer Bretter klaut und Gott vertraut, eine gute Laube baut.“

Paul kommt zurück ans Ufer und setzt sich triefend neben Emil.

Er erzählt ihm, dass letzten Sommer die Russen die Leichen wieder ausgegraben haben.

„Und ab damit nach Treptow, sagte mein Nachbar. Gloob mir.“

„Und wennse eine vergessen haben?“

Emil schüttelt sich.

„Jenau“, sagt Paul, „und nachts erschrecken sie kleene Jungen wie dich und deshalb willste sie alle umbringen.“

„Du schnallst ooch jarnüscht“, sagt Emil. „Als sie über meine Mutter her sind, verstehst du? In der Ruine. Und ich mich verstecken musste, hab ich sie beobachtet und mir die Fratzen gemerkt. Jede Nacht grinsen sie mich an. Die erkenne ich im Schlaf.“

Emil tigert durch die Stadt, in den Ostsektor, zu Fuß an Trümmer-

bergen vorbei und auf dem Trittbrett der Straßenbahn. Voll Entschlossenheit und Wut. Fünf sollen es sein. Fünf Soldaten, die er totmachen will, mit Muckefuck. Sein Entschluss steht fest. Er hat genug Eibennadeln getrocknet, zerstoßen und in den Rest vom Muckefuck geschüttet. Sein „Zichorienkaffee spezial“.

Ob er die Russen findet? Es gibt so verdammt viele von denen. Vielleicht sollte er sich am Brandenburger Tor rübermachen?

„Wenn ich zehn bin, räche ich dich!“, hatte er seiner Mutter geschworen. Letzten Monat war sein Geburtstag gewesen. Und Versprechen muss man halten.

Das Bild seiner Mutter quält ihn jede Nacht. Sie kam taumelnd in den Keller, in dem sie in den Ruinen Unterschlupf gefunden hatten. Blut lief an den Beinen runter. Sie weinte die ganze Nacht, wimmerte vor Schmerzen. Am nächsten Morgen wollte sie nicht in die russische Kommandantur und auch nicht in die Nehringschule, wo die Soldaten wohnten. Seine Mutter musste für sie putzen und die Pferde in der Turnhalle versorgen.

Über zwei Monate waren die Russen schon in Berlin. Einige in der Straße hatten weiße Bettlaken rausgehängt, als sie kamen. Viele Leute jubelten, andere fürchteten sich.

„Sie tanzen Krakowiak, trinken neunzigprozentigen Wodka und dann vergewaltigen sie unsere Frauen und Mädchen“, hörte er die alten Männer tuscheln.

Emil und seine Mutter verkrochen sich im Keller einer Ruine. Sogar eine Matratze hatte er besorgt. Er tauchte seine Hände in kalte Asche, nahm Wasser aus einem Eimer dazu und verschmierte das Gesicht seiner Mutter und ihre Haare. Grau und dreckig sollte sie aussehen, unappetitlich. Aber am nächsten Tag fanden die Soldaten sie, seine Mutter und ihn. Emil zählte fünf. Er versteckte sich hinter einer Mauer, während sie seine Mutter ...

Jedes Gesicht merkte er sich. Jedes dieser russischen Gesichter. Seine Mutter konnte sich nicht wehren, weinte nur noch leise. Das war jetzt über ein Jahr her. Mutter redete nicht mehr, sang keine Lieder mehr, streifte nicht mehr mit ihm durch die Natur, um ihm alles über Wildkräuter und Sträucher zu zeigen. Sie lag nur noch da.

Emil beobachtet den Übergang am Brandenburger Tor. Da beginnt der russische Sektor. Eine Soldatin regelt den Verkehr. Streng sieht sie aus. Mit einem Dutt. Emil muss sich unsichtbar machen. Auf der anderen Straßenseite stehen einige Iwans, acht oder neun. Sie lachen laut. Als eine Frau mit zwei Kindern die Straße überquert, schließt er sich ihr an. Er bleibt bei den Russen stehen, sie beachten ihn nicht. Er bietet ihnen seine Feldflasche an, aber sie jagen ihn weg.

Dann eben nicht. Es ist sowieso keiner von seinen Russen dabei.

Er geht die Linden entlang, weiter in den Osten rein, auf der Suche nach passenden Soldaten. „Nein, den lass ich leben“, überlegt er. „Den Übernächsten aber spreche ich an, ganz bestimmt.“

Doch auch ihn lässt Emil am Leben. „Hier sind zu viele Zivilisten“, denkt er. Sein Herz klopft. Er setzt sich auf einen Trümmerhaufen, beobachtet die Vorbeigehenden und die Fahrzeuge. Die Straßen sind jetzt frei geschippt, die Bombentrichter auf den Fahrdämmen zugeschüttet und geebnet. Löwenzahn treibt seine Blätter durch Schutt und Ritzen. Wie schön die gelben Blütenköpfe in der Abendsonne leuchten. Nein, er pflückt sie nicht. Nein. Auch wenn er Hunger hat. Aber einige junge Blätter entfernt Emil, wischt den Staub darauf an seiner dreckigen Hose ab und kaut sie genüsslich. Die Blätter schmecken herb und bitter. Jemand zeigt auf ihn. Keine Ahnung, was der will. Emil steht auf und geht in eine Seitenstraße. Hier war er noch nie, kennt sich nicht aus. Sieht sich um, keiner ist ihm gefolgt. Er ist bereit, bei jedem verdächtigen Verfolger in das schützende Dunkel der Ruinen zu springen.

Dämmerung legt sich über den Osten. Grau in Grau versinkt die Stadt. Emil überlegt, was er tun soll. Er muss zurück in den Westen zu seiner Mutter. „Aber ich habe es geschworen!“, sagt er zu sich selbst und drückt die Feldflasche an sich. In einigen Fenstern der zertrümmerten Häuser sieht er Petroleumlampen flackern. In der Ferne spielt ein Akkordeon. Zivilisten sind kaum auf der Straße. Emil kommt an einer Reihe Fenster vorbei, schwach beleuchtet sieht er im Innern Soldaten mit Frauen tanzen, Russenliebchen, wie die Leute sie nennen. Eng umschlungen kommt ein Pärchen aus dem Tanzlokal. Sie wiegen sich in den Hüften. Das Akkordeon wird schneller. Emil drückt die Nase an die Fensterscheibe und sieht zwei Russen, die aus der Hocke die Beine vor und zurückwerfen, dann geht der nächste in die Hocke. Wie geschickt sie tanzen! Schweiß tropft von der Stirn des Akkordeonspielers. Jemand packt Emil von hinten und schleppt ihn ins Lokal.

„Mal’chik! Mal’chik!“, brüllen alle und klatschten in die Hände.

Die Musik spielt. Emil grinst schief, einer nimmt ihm die Feldflasche ab, riecht am Muckefuck, probiert, reicht die Flasche weiter, spuckt aus, ein anderer geht in die Hocke und fordert Emil zum Tanz heraus.

Emil macht mit. Die Russen klatschen im Takt und feuern ihn an. Er kippt auf den Boden, lacht, wird hochgehoben und auf den Tisch gestellt. Seine Feldflasche macht weiter die Runde. Dann sieht er in der Ecke, wie drei oder vier von ihnen, sich über eines der Russenliebchen hermachen. Sie versucht, sich zu wehren. Keiner hilft ihr. Emil denkt an seine Mutter. Springt vom Tisch, reißt einem der Russen seine Feldflasche aus der Hand, als der gerade daraus trinken will und rennt hinaus. Rennt, rennt, rennt.

Außer Atem steht er irgendwo zwischen den Ruinen. Er schüttelt die Flasche. Fast leer. Wie viele waren es, die getrunken haben? Genug?

Er schüttet den Rest des Muckefucks auf den Boden. Eine Pfütze bildet sich. Emil wischt sich Tränen aus dem Gesicht, als ihn etwas Feuchtes anstupst. Es ist ein dürrer, klappriger, verlauster, hungriger Hund. Emil streichelt ihn, fühlt den warmen Körper. Gemeinsam schlafen sie in den Trümmern ein.

Drei Tage hat Emil den Paul nicht gesehen. Sie treffen sich wieder am Lietzensee.

„Und?“, fragt Paul. „Warste drüben? Haste ein paar Russen kaltjemacht?“

Emil zuckt mit den Schultern und legt sich in die Sonne.

„Erzähl doch mal, wie war´s im Ostsektor?“

„Da liegt der Hund begraben“, sagt Emil und denkt an den Streuner, der am Morgen tot in seinem Arm lag. Er hatte wohl die Reste aus der Pfütze aufgeschleckt.

„Hier. Lies mal.“ Paul reicht Emil die Abend-Zeitung.

„Die suchen nach ’m Mörder drüben, steht da. Der soll acht Russen mit Muckefuck vajiftet haben, nur eener hat überlebt. Da war wohl jemand schneller wie du. Sei nich traurig, dit nächste Mal schaffste dit ooch. Kommste mit zu mir? Ick hab echten Nescafé vom Ami. Schmeckt aber nich so jut wie dein Muckefuck.“

Heidi Ramlow arbeitete drei Jahrzehnte lang als Drehbuchautorin und Regisseurin für Erfolgsserien in ARD und ZDF (“Ehen vor Gericht”, “Verkehrsgericht“). 2015 gründete sie mit schwedischen und polnischen Autoren das Netzwerk »Grenzenlose Autoren«. 2019 wurde ihr Krimistück „Blutroter Waschgang“ im Berliner Kriminaltheater uraufgeführt.

Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, bei den Mörderischen Schwestern, beim Syndikat und im LKB.

Aus der Laudatio von H. P. Röntgen, Juryvorsitzender, zum Gewinnertext von Heidi Ramlow

Die Erzählung ist ein Krimi, eine Jugendgeschichte, eine Nachkriegserzählung, wunderbar geschrieben, über einen Jungen, der in einer harten Zeit erwachsen werden will, über Rache und die Suche nach Gerechtigkeit.

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