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Andreas Gößling - Barhoff & Umsetz

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Tief in der Nacht, eine Landstraße zwischen Irgend- und Nirgendwo. Maz Barhoff kommt von der Straße ab, sein Wagen versackt bis Unter-

kante Dachreling im Schnee. Er tritt aufs Gas, wechselt den Gang, versucht es aufs Neue, aber es geht nicht mehr vor- und nicht mehr rückwärts.

Er schaltet den Motor ab und ruft Umsetz an. Ich sterbe, sagt er, im Schnee versunken und niemand weit und breit. Die Luft hier drinnen reicht gerade noch für ein Gespräch, und unter allen Namen im Telefon fiel meine Wahl auf Sie. Auch wenn ...

Die Stimme verstummt. Umsetz liegt im Dunkeln auf seinem Bett und lauscht. Auch wenn?, wiederholt er. Maz, sind Sie noch da? Aber er bekommt nur Ächzen und Keuchen und kurz darauf Knirschen zu hören. Ihm fällt ein, was ein paar Atemzüge vorher auch dem Anrufer klar geworden sein muss: Barhoff hat neuerdings einen Wagen mit Schiebedach.

Umsetz hält das Telefon an sein Ohr und hört zu, wie Barhoff ein- und ausatmet und dabei durch den knirschenden Schnee rennt. Oder auch umgekehrt. Maz, sagt er, warum gerade ich?

Na, weil Sie mein Lektor sind! Barhoff bleibt stehen, dreht sich um sich selbst. Ein scheinbar endlos weites, an der Oberfläche verharschtes Schneefeld, teilt er Umsetz mit, bei jedem Schritt sackt man bis über die Knie ein. Dornbüsche hier und da, oder ein kahler Krüppelbaum. Und über mir der wie für immer nur halbvolle Mond.

Umsetz drückt die Aufnahmetaste an seinem Telefon.

Das ist gut, das ist sogar sehr gut, Maz.

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Maz Barhoff erinnert sich, dass er nicht immer so hieß. Bevor er Umsetz kennengelernt hat, nannte er sich anders. Aber wie anders – so weit reicht seine Erinnerung nicht zurück.

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Ein schon älterer Mann, braun gebrannt, in weißem Anzug, sagt zu Barhoff: Sie müssen Ihrem Kind Ihr Herz schenken! Barhoff zieht Erkundigungen über den Mann ein. Ein Dandy, denkt er zuerst, wegen des weißen Anzugs, aber der Mann ist Arzt. Was allerdings nicht ausschließt, dass er außerdem ein Dandy ist.

Wie meinen Sie das – mein Herz schenken?, fragt Barhoff, als sie das nächste Mal zusammentreffen.

Habe ich schenken gesagt?, fragt der Mann zurück. Opfern wäre eventuell der treffendere Ausdruck.

Barhoff denkt längere Zeit über diese Worte nach. Am Ende beschließt er, dem Ratschlag des Mannes im weißen Anzug nicht zu folgen. Er erzählt Umsetz davon und fügt hinzu: Ich konnte mir einfach nicht darüber klar werden, wie es gemeint war.

Das ist gut, antwortet Umsetz. Das ist sogar ausgesprochen gut – für uns beide, Maz.

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Die größte Lüge ist die sogenannte Wahrheit, improvisiert Maz Barhoff. Nichts gähnt mich abgrundloser an als die Enthüllung. Nichts langweilt mich so sehr wie das, worauf schon wieder alle gespannt sind.

Er bückt sich, schaufelt Schnee in seine Rechte.

Sehen Sie mich, Umsetz?, fragt er. Ich habe die Cam eingeschaltet, Sie sollten mich also sehen.

Er streckt seinen linken Arm aus und hält sich das Telefon vors Gesicht.

Kaltes Wasser ist Hass, warmes Kitsch, sagt Barhoff. Warmwäscher sind metaphysische Lügner. Wenn ich mich wasche, dann kalt.

Er reibt sich sein Gesicht mit Schnee ein. Samt Brille und Bartstoppeln, keuchend im Kälteschock.

Umsetz hat sich in seinem Bett aufgesetzt, die Knie an die Brust gezogen. Er tippt fahrig auf seinem Smartphone herum, aber das Display bleibt dunkel.

Wo sind Sie, Maz?, fragt er.

Immer noch im Schneefeld, sagt Barhoff. Alles, was mir hier einfällt, ist weiß. Der Mann in Weiß, der von Opferherzen faselt, das fahle Weiß der Leiche, die ich sowieso bald sein werde, das Mehlweiß Ihrer papierdünn behäuteten Hände, Umsetz. Unter dem halben Mond stapfe ich dem Horizont entgegen. In der Hoffnung, auf ein Geisterdorf zu stoßen, das mich gastfreundlich aufnimmt.

Umsetz schielt nach seinem Wecker. Sie sollten nach Hause gehen, rät er. Bevor Sie sich noch eine Bronchitis holen.

Maz Barhoff bleibt unvermittelt stehen.

Nach Hause?, wiederholt er. Und noch einmal, hallend in der Weite der eisig weißen Nacht: Nach Hause, Umsetz? Von dort sind wir alle vertrieben, dorthin kehren wir nicht mal im Sarg zurück!

Ich bewundere Sie, sagt der Lektor. Ich bete jeden einzelnen Ihrer Sätze an. Sprechen Sie weiter, Maz.

Niemand ist je nach Hause gekommen, improvisiert Barhoff im Weiterstapfen. Heimweh ist der Hautkrebs der Seele. Liebe ihr Herzfehler. Fürsorglichkeit ihr Lymphkarzinom. Mitleid ihre Blasenschwäche. Rührseligkeit ihr Grauer Star. Schneide alle Gebreste weg, dann kommt das übelste Geschwür zum Vorschein: die Seele selbst, der fahle Madensack, wie schon Hiob sagt.

Hiob?, zweifelt Umsetz.

Er horcht und sinnt, aber Barhoff hilft ihm so wenig wie sein Gedächtnis aus der Patsche.

Die Seele selbst, der fahle Madensack, murmelt Umsetz. Das ist doch von Ihnen, nicht von Hiob, Maz.

5

Umsetz beim Morgentee. So müde war er noch nie. Statt in der Zeitung liest er im Buch Hiob. Zum Ekel ist mein Leben mir geworden, reden will ich in meiner Seele Bitterkeit.

Bitterkeit ja, sagt sich Umsetz, aber die Seele selbst, der fahle Madensack? Das nicht, das muss von Barhoff sein.

Er vertieft sich aufs Neue in die alte Klage. Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Das ist gut, begeistert sich Umsetz, das könnte glatt von Maz Barhoff sein.

Dann wieder das Telefon. Er rappelt sich auf, trottet in sein Schlafzimmer zurück. Im zerwühlten Laken sein Smartphone, schnurrend wie eine somnambule Geliebte.

Hier spricht Maz Barhoff, sagt eine wohlbekannte Stimme. Ich bin in Wrápusz, kennen Sie das, Umsetz? Diesen fast vergessenen Moloch an der östlichen Gedächtnisgrenze? Sie müssen mich hier rausholen, sofort!

Schon seit Jahren nistet in Umsetz die Sorge, Barhoff könne ihm irgendwann abhandenkommen. Einfach so, von jetzt auf gleich. Und nun scheint es so weit.

Dieses blaue Licht, alles wie aus Glas, wehklagt es im Telefon. Und das Ärgste wissen Sie noch gar nicht: Die halten mich hier fest. Behaupten, ich hätte bei ihnen Schulden: dreiunddreißig Jahre Übernachtung mit Büffet.

Umsetz wankt zurück zu seinem Frühstückstee. Ihm braust der Kopf, beinah wie Hiob im Sturm. Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter, nackt kehre ich dahin zurück.

Was sagen Sie?, schreit Barhoff. Was haben Sie da gesagt?

Hiob, flüstert Umsetz. Meine Mutter, meine Schwester!, rufe ich zum Wurm.

Ist das wirklich von dem?, zweifelt Barhoff. Aber egal jetzt. Gehen Sie zum Bahnhof und schwingen sich in die nächste Bahn. Ostexpress, Salonwagen Zikani. Hier in Wrápusz nehmen Sie sich eine Droschke und lassen sich ins Hotel Garnie bringen. Mit ih-eh! Room number three-oh-three, that’s me! Haben Sie das alles verstanden, Umsetz?

Zikani, Wrápusz, Garnie, murmelt Umsetz. Aber sind Sie es wirklich? Sie kommen mir so fremd vor, fast wie ...

Reden Sie keinen Unsinn, fällt ihm Barhoff ins Wort. Machen Sie sich lieber auf den Weg. Fahren Sie los – jetzt!

Warten Sie, fleht Umsetz. Ich glaube Ihnen kein Wort, Maz. Sie erzählen mir da eine Geschichte, eine wirklich großartige Geschichte – aber so etwas passiert nicht in Wirklichkeit. Vor ein paar Stunden waren Sie noch in diesem Schneefeld im Nirgendwo! Erinnern Sie sich nicht, Maz?

Natürlich erinnere ich mich, höhnt Barhoff. Ich fiel in eine Spalte, und als ich wieder zu mir kam, war ich hier! In dieser schäbigen Lobby, Hotel Garnie, Wrápusz. Schauen Sie sich nur um.

Er schwenkt seine Handycam im Kreis.

Umsetz erblickt eine Hotelhalle mit abgetretenem blauem Spannteppich, speckigen Ledersesseln, je zu dreien um Resopaltischchen gruppiert. Im Hintergrund einen Empfangstresen mit mehreren Figuren in blauen Fantasieuniformen. Goldlitzen auf Brust und Schultern, üppige Troddeln an den Mützen.

Durch diese Wand da muss ich gekommen sein – wie Zoroaster der Felsgeborene, sagt Barhoff und vollendet den Schwenk.

Umsetz bekommt einen Wandabschnitt zu sehen. Von Säulen flankiert. Die Tapete hängt schlaff herunter wie Alteleutehaut und ist exzentrisch designt: babylonische Stadtsilhouette, darüber Störche im Landeanflug, an deren Schnäbeln Babys baumeln.

Aber da ist keine Tür!, bringt Umsetz hervor. Da können Sie nie und nimmer durchgekommen sein.

Garnie und nimmer!, echot Barhoff. Bringen Sie einen Gummihammer mit. Und kaufen Sie mir am Bahnhof ein Päckchen Zigarillos, meine Marke kennen Sie ja hoffentlich noch.

Mythos Filter, schmeichelt Umsetz. Das würde ich nie vergessen, Maz.

Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, hat Germanistik studiert und 1984 mit einer Dissertation über Thomas Bernhards Prosa promoviert. Seit Mitte der 1980er-Jahre hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter literaturwissenschaftliche Werke sowie Sachbücher und Romane zu mythologischen, historischen und kriminalistischen Themen. Andreas Gößling ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt artgerecht als freier Autor im Havelland.

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