Читать книгу SchriftZüge 14 eBook - Thomas Frick - Страница 7

Ruth-Maria Thomas - Abgrund

Оглавление

Zerdrückte Bierdosen, Zigarettenstummel, zerknüllte Taschentücher. Verbeultes Autochrom, Lagerfeuerreste, Kiefernnadeln, Sand. Überall Sand. Nebelschwaden, der Morgen ist grau.

Gestern: Musik, JBL Box, Bass, der im Wald widerhallt, Glut, Funken, Schaum aus dem Flaschenhals in den Mund, die Münder, loslassen, was soll man auch machen, mit 17, 18 in Brandenburg?

Anna rückt ihren Rock zurecht und fährt sich durch die Haare. Es ziept. Sie steigt über schlafende Körper auf Isomatten, zugedeckt mit den eigenen Armen oder fremden.

Ihr Mund schmeckt schal, sie hat ein dumpfes Gefühl im Magen, Vodka-Sprite von gestern.

Sie findet eine halbvolle Wasserflasche auf dem Boden des Beifahrersitzes. Im Sitzen trinkt sie, vorsichtige kleine Schlucke. Sand klebt an den Rillen der Öffnung. Sie schluckt ihn mit. Sie klappt die Blende mit dem Spiegel herunter.

Verschmierter Kajal und Wimperntuschebrösel unter den Augen. Sie wischt mit dem Knöchel ihres Zeigefingers die Schminke weg und dann den Knöchel am Polster des Sitzes ab. Die Sonne steigt langsam auf. Anna will nach Hause, aber sie will niemanden wecken. Sie lehnt den Kopf zurück, faltet die Hände in ihrem Schoß und wartet.

Ein paar Vögel jagen sich über der Tagebaugrube, ihr Zwitschern hallt als Echo wider.

Die Sonne steigt höher und es wird den Schlafenden nach und nach zu warm. Mike und Julia lösen sich aus ihrer Umarmung und auch Justin schüttelt sich den Sand aus den Klamotten. Er sieht sich suchend um, sieht Anna auf dem Autositz und grinst. Mit Schwung steht er auf und läuft auf sie zu. „Na, meine arische Sonne?“, flüstert er ihr ins Ohr und schiebt seine Hand zwischen ihre Oberschenkel.

Anna atmet flach, sie möchte nicht, dass Justin ihren Atem riecht, sie hat nirgendwo im Auto einen Kaugummi finden können. Justin scheint das nicht zu stören, er schiebt ihr weiter die Hand zwischen die Beine und die Zunge in den Mund.

Währenddessen wirft Mike die vergangene Nacht in den Schlund der Tagebaugrube. Leere Bierdosen, Zigarettenstummel, Taschentücher und eine zerrissene Jacke fallen, ohne ein Geräusch des Aufprallens, ins scheinbar Bodenlose. Auf dem Rückweg sagt niemand ein Wort.

„Des Deutschen Ehre ist seine Treue“ schallt es blechern aus dem Autoradio. Durch die Rockmusik und die Schlaglöcher, durch die Justin ohne abzubremsen durchbrettert, wird Anna übel. Ihr Kopf fühlt sich an, als wäre er mit tausenden glühenden Kügelchen gefüllt.

Nachdem sie die anderen abgesetzt haben, fährt Justin Anna nach Hause. „Kann ich noch mit reinkommen?“, raunt er ihr ins Ohr und drückt seine Hand gegen ihre Brüste. Sie schüttelt den Kopf. „Mein Vater möchte sonntags keinen Besuch. Weißt du doch. Er braucht seine Ruhe.“ Justin nickt, doch sie kann sehen, dass es ihn nervt. Ohne sie noch einmal anzusehen, fährt er weg. Anna schleppt sich die Stufen hoch in ihr Zimmer und schmeißt sich auf ihr Bett. Tränen rinnen ihre Wangen herab, sie beißt in ihr Kissen.

*

Am nächsten Tag in der Schule geht sie Justin und den anderen beiden aus dem Weg. Statt mit der Gang in der Pause vor dem Tor zu rauchen, täuscht sie Bauchschmerzen vor und sitzt die Pause über auf dem geschlossenen Toilettendeckel ihres Stammklos im zweiten Stock. Sie dreht das schleifpapierartige Klopapier von der Rolle runter und wieder drauf. Runter und wieder drauf. Die Übelkeit von gestern ist geblieben. Im Spiegel sieht sie einer Zombieversion ihrer selbst entgegen. Sie würde am liebsten kotzen, aber ihr Magen ist zu leer.

Erst in der vierten Stunde, im Politikunterricht, bemerkt Herr Gosse, dass jemand fehlt. „Wo ist denn Ahmed?“, fragt er. Niemand weiß es. „Anna, dann nimm du bitte die Übungsblätter für ihn mit, du wohnst doch bei ihm in der Straße.“

Die Klasse scheint den Atem anzuhalten. Alle wissen, was Justins Gang von Ahmed hält, und Anna ist fester Bestandteil dieser Gruppe. Seit Justin sitzengeblieben ist, sind sie ein Paar. Er ist der Einzige in der Klasse mit Führerschein, älter, gefährlicher. Anna kann die Blicke der Anderen in ihrem Rücken spüren. Steif nimmt sie den Hausaufgabenzettel entgegen, starrt nach vorn, an die Tafel. Herr Gosse nickt, zufrieden, so, als wäre ein Plan aufgegangen. „So so so, dann legen wir mal los! Nächste Woche soll der Tagebau geflutet werden. Wer kann mir aus gegebenem Anlass noch einmal die Probleme nennen, die für die Bevölkerung und für die Natur durch die Abbaggerung der Landschaft entstanden sind? Freiwillige vor, na kommt schon, hebt die Hände, los geht’s!“ Allgemeines Murren. Gosses mündliche Kurzkontrollen sind verhasst. Niemand hebt die Hand. „Mensch, Leute, kommt schon, das haben wir doch durchgekaut, so an die hundert Mal! Ich geb euch mal ein paar Hilfsstichworte: - Heimatverlust - Artensterben - Zwangsumsiedlungen. Na? Wer will? Immer noch nicht?“

Herr Gosse seufzt. „Guuut, dann muss wohl das Los entscheiden!“

*

Nach der Unterrichtsstunde will Anna nur noch weg. Sie läuft mit gesenktem Blick über den Pausenhof – doch Justin holt sie ein. „Was war das mit den Hausaufgaben? Warum hast du die angenommen?“ Wütend stellt er sich ihr in den Weg.

„Ich hatte kein Bock auf Stress. Ich hab’ meine Tage und mir geht’s beschissen.“

„Gib mir die Hausaufgaben.“ Justins Stimme klingt kühl. „Justin, bitte. Jetzt spiel dich nicht so auf.“ Anna kramt die Zettel, die Herr Gosse ihr in die Hand gegeben hat, aus ihrer Tasche und zerknüllt sie in ihrer Faust zu einer Kugel. „Bist du jetzt zufrieden?“

Justin nickt. „Komm, ich fahr dich nach Hause.“

Anna schüttelt den Kopf. „Nee.“ Ihre blonden Locken fallen ihr ins Gesicht. „Nee Justin, ich lauf nach Hause. Bewegung hilft mir gegen die Krämpfe, fahr ruhig ohne mich.“

Justin sieht sie starr an.

„Du bekommst doch jetzt nicht Panik oder sowas. Oder?“

Wieder Kopfschütteln.

„Ich hab’ meine Tage! Jetzt lass mich mal in Ruhe. Ok?!“ Justin grunzt. „Jaja, schon gut. Jetzt werd nicht gleich zickig. Ihr Tussis, echt ey.“ Er latscht zu seinem Auto. Anna kann hören, wie er mit Wucht die Tür zuknallt. Sie läuft langsam nach Hause. Die Sonne brennt auf ihren nackten Schultern. Der Riemen ihrer Tasche schneidet ihr ins Fleisch. Anstatt an der Dorfstraße nach rechts abzubiegen, um zu ihrem Haus zu gelangen, geht sie nach links, den kleinen Waldweg entlang.

Der Schweiß rinnt ihr den Körper hinab, brennt in ihren Augen, ihre Haare kleben an den Schläfen, ihr Mund ist trocken.

Nach etwa einer Stunde wird der Weg sandiger, breiter, aus Laub- werden Nadelbäume.

Sand klebt in Annas Ballerinas, reibt ihre Haut wund, blutig. Sie beißt sich auf die Lippe, kneift die Augen zusammen, hält nicht an, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Am Rand der Tagebaugrube ­angekommen, bleibt sie stehen und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Ein leiser Wind weht die warme Luft, den Sand und die Lagerfeuerreste vorvergangener Nacht umher.

Die Finger ihrer rechten Hand krampfen immer noch um die Kugel aus Hausaufgabenblättern. Sie hat sich den ganzen Weg lang an ihr festgehalten. Sie biegt ihre Finger auseinander, versucht, das zerknitterte Papier glattzustreichen. Ihr Schweiß hat die von Herrn Gosse gekritzelte Notiz am Rand verwischt. „Für Ahmed, bitte bis zur nächsten Stunde bearbeiten.“ Annas Herz schlägt schneller, als sie sich nach vorne beugt, der Abgrund blickt ihr entgegen.

Ihr fällt dieses Zitat von diesem einen Typen ein, den sie in Gosses Unterricht behandelt hatten:

„Wenn du lange genug in einen Abgrund schaust, dann schaut der Abgrund auch in dich hinein.“ Mit zitternden Fingern lässt sie die Zettel los. Vom Wind getragen, trudeln sie herum, segeln so sanft, so leicht, wie Papier es in der Luft eben tut, ins Nichts.

Ruth Maria Thomas ist in Cottbus aufgewachsen, zur Schule gegangen, war jahrelang am Piccolotheater im Jugendinszenierungsclub und Gastschauspielerin im Staatstheater Cottbus.

SchriftZüge 14 eBook

Подняться наверх