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General Freitag

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Ich glaube fest daran, dass Begegnungen das Wichtigste im Leben eines Mannes sind. Wenn ich heute - den Bart recht weiß vom Alter, all die Jahre zurückdenke, so waren einige meiner Begegnungen mit anderen Menschen so ergreifend und für mich zur Menschwerdung so einschneidend schön und wertvoll, dass ich sie nicht missen möchte. Folgendes Ereignis prägte mich nachhaltig. Wenn ich mich daran erinnere, befällt mich stets ein Lächeln und ich werde gleichzeitig von einem Hauch tiefsten Bedauerns heimgesucht.

Tschad. Wir schrieben das Jahr 1991. Ich befand mich mitten im Herzen der südlichen Sahara, an einem Ort namens Abéché. Abéché, Zentrum und Knotenpunkt des Sklavenhandels, war eine der letzten zivilisierten Bastionen vor der großen Weite der Borkou-Ennedi-Tibesti Wüste. Gleichzeitig war es der dunkelste Flecken Erde den man sich nur vorstellen kann. Dunkel, weil hier der Teufel regierte. Satan hatte auch einen Namen. Hoffnungslosigkeit! Die Menschen die hier lebten, hatten die Hoffnung, diesen düsteren Ort einmal verlassen zu können, längst begraben. Wer hier geboren wurde, der blieb, basta! Oder er schloss sich einer der Karawanen an, die immerwährend nach Norden zogen, hinein in die Tibesti Wüste und hinein ins Ungewisse.

Nach Süden zu ziehen, hin zu den großen Städten, davon träumte hier jeder. Doch das kostete Geld. Geld jedoch hatten die Menschen in Abéché nicht. Sie hatten nur Zeit. Und davon sehr viel.

Ich war damals mit meiner Einheit zwei Monate lang in Abéché stationiert. Mein Dienstgrad war der eines Sergenten. Ein Gruppenführer in der Fremdenlegion ist ein kleiner Feldmarschall. Es gibt kaum ein besseres Leben. Ich war mein eigener Herr. Frei wie der Wind fühlte ich mich wie ein Seigneur. Und genauso liberal war mein Habitat. Die Stoßzähne eines alten Elefantenbullen zierten meinen Salon und die Haut einer Riesen-Python hing ihr gegenüber, doch das war längst nicht alles. Auf dem einzigen Regal standen uralte Tonkrüge, afrikanischer grisgris wie Skulpturen aus Kamerun, graue Ebenholzfiguren aus Gabun und einige Ölgemälde aus der Zentralafrikanischen Republik. Sozusagen war ich reich. Und ich war zufrieden.



Wir waren alle zufrieden, jeder einzelne in meiner Einheit. Und das jeden einzelnen Tag. Samstags feierten wir ausgelassene Feste. Wir aßen Capitaine, einen Fisch aus dem Tschad See. Dazu tranken wir Gala, das einheimische Bier. Sonntags ritten wir aus. Mein Pferd hieß Cheitan und es hatte sprichwörtlich den Teufel im Leib.

Montags, eine Kolonne Legionäre dicht auf unsren Fersen, machten wir uns auf ins Gelände. Wir drangen tief in die Wadis und Talwege ein, dorthin also, wohin sich kein Europäer jemals hin verirrte. Gewaltmärsche standen an. Sie waren brutal, erschöpfend und - nach den recht feudalen Wochenenden, auch ernüchternd. Die Demut hatte uns wieder. Aus Prinzip und aus purem Eigensinn heraus marschierten wir schnell, weit und immer die Schmerzgrenze überschreitend.

Dienstags errichteten wir dort ein Biwak, wo uns es gerade am besten gefiel und am Mittwoch? Zum Teufel mit Mittwoch und dem Rest der Welt! Sie gehörte schließlich uns, diese Welt. Einen Boy hatte ich auch: donnerstags. Er wusch meine Wäsche, brachte meine Stiefel auf Hochglanz und besorgte, was mein Herz begehrte.

Freitags musste ich Begleitschutz fahren. Es ging darum, die Müll-LKWs unseres Camps zu eskortieren, wenn sie unseren Wohlstands- Schund abluden. Auf dem Müllplatz gab es immer ein reges und heftiges Gedränge. Afrikanische Jungs und Mädels stritten sich um leere Flaschen, um Blechdosen die vor sich her schimmelten und um Reste von opulenten Mittagessen. Aus Angst, nicht genug zu bekommen, sprangen sie oft auf den noch rollenden Wagen. Dabei gab es regelmäßig Verletzte, deshalb der Begleitschutz: um vorzubeugen und um zu helfen.

Warf der Lastwagen den Müll am Müllplatz ab, stritten sie sich, wühlten bis zu den Knien im Dreck unserer Zivilisation. Hungrig, gierig, ohne Hoffnung auf mehr als etwas Abfall, Unrat und Dreck. Neben ihnen kämpften verlauste Hunde um ein paar Knochen, um alte verweste Därme. Es stank erbärmlich!


Er war immer da, zumindest jeden Freitag!

Er stand auf einem Hügel, trug einen verbeulten Hut mit Löchern auf seinen kahlen narbigen Schädel. Auf seinen Schultern lag eine rote, feuchte und nach Schweiß und ranzigem Fett stinkende Decke. Eine, die auch in der aufgehenden immer heißer werdenden Sonne kaum trocken wurde, so muffig feucht war sie. In der Hand hielt er einen braunen Stock. Daran hing eine verbeulte Blechkanne. Der Bart - ungebändigt und Salz-Pfeffer, sprach von Würde und so stand er einfach da. Jeden Freitag zu gleichen Zeit. Er wartete.

Ich sah ihn an. Nur Würde fand ich in seinen Zügen. Ich war berührt, lächelte, winkte ihm zu. Er ignorierte mich. Er ignorierte jeden! Eine Woche später, gleiches Spiel. Wieder eine Woche später: Mein Entschluss mehr über ihn zu erfahren war gefasst. Ich versteckte mich. Als der Wagen, sowie auch die Meute der im Dreck Wühlenden am Horizont verschwunden waren und als sogar die Hunde vom Müll nichts mehr wissen wollten, verlor er seine Zurückhaltung.

Hunger! Er hatte Hunger. Und er würde sein Leben geben für ein Stück Seife, seinen kleinen Finger für einen Hut ohne Löcher. Er, den ich General Freitag nannte, wühlte nun genauso gierig im Dreck wie all die anderen vor ihm, nur dass er es in Würde tat – ohne dass jemand ihm dabei zusah, denn das war sein Wunsch. Niemand durfte ihn dabei sehen, niemals wollte er seine Würde verlieren.

Vielleicht ist es ein Privileg der Jugend dumm und unüberlegt zu handeln. Sei es! Ich erhob mich hinter meinem Versteck und zeigte mich. Nahm ihm damit seine Würde. Hätte ich es gewusst, so wäre dies nie geschehen, doch so…! Er hielt inne, fing meinen Blick auf. Im selben Moment geschah etwas tief in ihm. Sein Oberkörper straffte sich, sein Haar wurde eine Nuance weißer und ein Ausdruck tiefster Verzweiflung machte sich auf seinem schönen Gesicht breit. Es wurde zur Maske und zerfiel. Dann rannte er davon.

Nie wieder sah ich General Freitag, auch an einem andren Tag nicht. Heute noch denke ich oft ihn. Denke daran, dass ich nie selbst einen Vater hatte. Ich erinnere mich nur an ein Foto von ihm. Irgendwo dort in Deutschland, in einer Schublade lag es. Nie hatte ich die Chance ihn in meine Arme zu nehmen.

Und General Freitag?

Ich würde selbst im Müll wühlen, ohne Scham und alle Risiken dieser Erde auf mich nehmend, würde sterben nur um General Freitag (… oder meinen Vater!?) noch ein einziges Mal sehen zu dürfen, diese Chance noch einmal zu haben. Und ich stelle mir vor, ihm eine trockene, warme Decke zu geben, eine Mahlzeit mit ihm zu teilen, mit ihm Tee aus seiner verbeulten Blechkanne zu trinken und ihm zu sagen, dass Menschen wie er das Salz der Erde sind.

General Freitag ist nun tot, ich spüre es tief in mir. Es gibt wohl keine Moral hinter dieser Geschichte oder doch? Meine Moral war: Reiche dem Menschen der dich berührt die Hand bevor er sich aus deinem Leben stiehlt.

Und leise schließt sich eine Tür

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