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Оглавление3 Neurowissenschaftliche Fundierung – Coaching mit Wurzeln und Profession
Klassische Pfade zum Unbewussten
Die Wirksamkeit professionellen Coachings basiert u. a. auf der Berücksichtigung unbewusster Anteile der menschlichen Psyche. Hierfür stehen die verschiedensten Methoden aus unterschiedlichen psychologischen Schulen zur Verfügung. Der Neurobiologe Gerhard Roth, der im Zuge der Professionalisierung im Coaching einen Forschungsschwerpunkt auf die Wirksamkeitsforschung gelegt hat, konstatiert: „Die meisten Coaches gehen eklektisch vor und kombinieren verschiedene Methoden (…) Ziel dabei ist, die Wirksamkeit und Effizienz zu erhöhen, indem der Klient ein auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Beratungsangebot erhält (Roth/Ryba, 2017, S. 51). Insofern sieht er als „zentrale Herausforderung“ für wirksames Coaching die „effektive Integration (…) auf Basis einer kohärenten Theorie“ an (ebd.). Die Ansätze, die Roth gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Alica Ryba differenziert, betten sie in das Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit ein. Nach diesem Modell werden hirnphysiologisch vier Ebenen unterschieden:
• Die kognitiv-sprachliche Ebene ist im so genannten Neocortex (sechsschichtige Großhirnrinde) angesiedelt. Der Schwerpunkt liegt auf rationalen Erwägungen. Dieser Bereich setzt nicht vor dem dritten Lebensjahr ein.
• Die obere limbische Ebene hat ihren Sitz in den limbischen Arealen der Großhirnrinde und gibt die Kernpersönlichkeit des Menschen zu erkennen. Nach Roth und Ryba beginnt die Ausbildung dieser Ebene erst mit dem vierten Lebensjahr. Ihre Entwicklung hält bis zum frühen Erwachsenenalter an.
• Die mittlere limbische Ebene ist in der Amygdala (Mandelkern) beheimatet. Hier liegt die emotionale Prägung als (unbewusste) Basis der Persönlichkeit eines Menschen. Diese Ebene wird durch basale Bindungserfahrungen in den ersten drei Lebensjahren konstituiert.
• Die untere limbische Ebene bildet die „limbisch-vegetative Grundachse“ (ebd., S. 53) und verantwortet somit die grundlegenden biologischen und affektiven Funktionen. Persönlichkeitstypische affektive Verhaltensweisen werden hier ebenso gesteuert wie das Temperament eines Menschen.
Da die kognitiv-sprachliche und die obere limbische Ebene bewusst zu erreichen sind, ist es in einer Begleitung relativ leicht möglich, diese Bereiche zu stimulieren. Jedoch zeigt sich die Arbeit auf der Ebene von Vernunft und Verstand auch als wenig nachhaltig. Bereits mit der ersten funktionalen Ebene des limbischen Systems – der oberen Ebene – sind sozial-emotionale Interventionen notwendig, um auch nur „etwas nachhaltiger“ (ebd.) in der Wirksamkeit zu sein. Anders im unbewussten Bereich: „Langfristig am nachhaltigsten“ bewerten Roth und Ryba die mittlere und untere limbische Ebene, wobei bei der erstgenannten „starke emotionale Einwirkungen“ wichtig seien; bei der zweitgenannten Ebene muss jedoch beachtet werden, dass es sich um „genetische oder epigenetisch-vorgeburtliche Einflüsse“ (ebd.) handelt. (vgl. ebd., S. 50–54) Da aber Änderungen in Haltung und Verhalten in diesem Bereich maximal nachhaltig sind, ist konsequenter Weise eine gewisse Zurückhaltung bezüglich der eigenen Erwartungen und der Nutzbarmachung dieser Ebene im Rahmen eines Coachings angezeigt.
Während die Ratio den Menschen in die Lage versetzt, sachliche Einzelheiten zu erfassen, diese zu analysieren und über tiefgreifende Zusammenhänge zu reflektieren, färben die Areale im limbischen System Wahrnehmungen emotional ein. Da die Fähigkeit zur Versprachlichung entwicklungs- und auch stammesgeschichtlich jünger ist, wird Wahrgenommenes auch erst – unbewusst und dualistisch (angenehm oder unangenehm bzw. Bedrohung oder Chance) – bewertet, bevor es verstandesgemäß – durch die Verbindung der Ratio mit dem deklarativen Gedächtnis – buchstäblich ins Wort genommen werden kann (der Begriff „Nach-Denken“ ist für diesen Ablauf übrigens äußerst zutreffend). Nicht unbedeutend für die Beratung ist auch, dass im limbischen System das Belohnungszentrum angesiedelt ist. Da Bewusstsein bzw. -werden ebenfalls über Emotionen erfolgt, existiert zudem eine direkte Verbindung zum vegetativen Nervensystem. Schlussfolgernd bedeutet dies: Die Entscheidung fällt im limbischen System, es ist „das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen … (und) das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen … emotional akzeptabel ist oder nicht“ (ebd., vgl. Roth, 2003; Roth/Ryba, 2016).
Diese Betrachtungen nehmen Roth und Ryba zur Basis, wesentliche klassische Ansätze auf die Nutzung im – und die Wirksamkeit von – Coaching zu übertragen.
Dem → psychoanalytischen Zugang, basierend auf der klassischen Schule nach Sigmund Freud, wird dabei eine relativ geringe Relevanz zugestanden. Ein Grund liegt in der Fokussierung auf unbewusste Konflikte, die nach Freud aus der Spannung zwischen Wunsch und psychischen Abwehrmechanismen entstehen. Der Weg, das Unbewusste bewusst zu machen, ist indes eine grundlegende Perspektive, wie speziell der psychodynamische Ansatz, „durch den Coaches Kenntnisse über unbewusste und tief-vorbewusste Konfliktdynamiken erwerben“ (Roth/Ryba, 2017, S. 51), für das Coaching gewinnbringend sein kann. In diesem Zusammenhang verweisen Roth und Ryba auf hilfreiches psychologisches Hintergrundwissen bei Coaches zum Phänomen der Übertragung. Zudem unterstreicht dieser Zugang die Bedeutung der Psychosomatik und die Nutzung ihrer Zeichen im Coaching.
Im Gegensatz zu Freud verstand der amerikanische Psychologe Milton Erickson den Bereich des Unbewussten als „Instanz voller ungenutzter Ideale“ (ebd.). In dem von ihm entwickelten → hypnotherapeutischen Zugang wird in der Hypnose – und daraus weiterentwickelten Strategien – der Weg zum Unbewussten gesehen. Indem sich durch – wenn auch kurzzeitig – gelöste psychische Zustände alte Muster in den Hintergrund schieben, können verinnerlichte Glaubenssätze und Denkmuster ihre bisherige Kraft verlieren. Durch das innere Erleben neuer Muster in der Trance und Hypnose wird der Erfahrungsschatz des Klienten geweitet. Auf diesem Körpergefühl kann Coaching effektiv aufbauen. Roth und Ryba verweisen in diesem Kontext auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen „ein Zustand konzentrierter Aufmerksamkeitsfokussierung tatsächlich die Reorganisation von Gedächtnisinhalten“ (ebd.) begünstige.
Der klassische → verhaltenstherapeutische Ansatz nach John Watson und Burrhus Skinner geht davon aus, dass „psychische Störungen das Resultat dysfunktionaler Lern- und Konditionierungsprozesse“ (ebd., S. 52) sind. Da diese Sicht ebenso problematisierend vorgeht wie die Psychoanalyse, wird ihr auch wenig Relevanz für das Coaching beigemessen. Hinzu kommt als Grund, dass Verhaltensänderungen – neurologisch und lerntheoretisch betrachtet – auf der oberflächlichen und kognitiven Ebene wenig Nachhaltigkeit und Tiefe evozieren. Kritisch zu bewerten ist ebenfalls das dahinterliegende Modell des Behaviorismus, da dieses im Widerspruch zum Menschenbild im (hier vertretenen Ansatz von) Coaching steht.16
Der → gestalttherapeutische Zugang nach Fritz Perls überträgt die Bereiche Bewusstsein und Unbewusstsein auf das Figur-Grund-Modell. Die „Figur“ steht hier für das Bewusste und der „Grund“ für den unbewussten Teil der Psyche (und Persönlichkeit). Perls differenzierte drei Weisen der Bewusstheit: erstens, den Kontakt zu sich selbst, den zur Mit- und Umwelt, und drittens „das Wahrnehmen des Zwischenreichs der Phantasie“ (ebd.). Aus diesem Ansatz lässt sich die Bedeutung von Körpersignalen für ganzheitliches Coaching ableiten: „Körperliche Empfindungen stehen einem Menschen fortwährend als Informationsquelle zur Verfügung.“ (ebd.) Da diese aber nicht bzw. selten ins Bewusstsein treten, regen Roth und Ryba an, die Aufmerksamkeit auf die limbische Ebene zu lenken – dorthin, wo vegetative Vorgänge stattfinden (wie Herzschlag und Atemrhythmus). Die Gestalttherapie deuten sie als „Widerstandsanalyse“ – ähnlich der Psychoanalyse nach Freud’scher Prägung –, wobei die psychischen Widerstände nicht auf der kognitiven Ebene gedeutet, „sondern dem Klienten als Gestalt erfahrbar gemacht“ (ebd.) werden. Nicht das Warum der Vermeidungshaltung ist demnach entscheidend, sondern das Wann. Entsprechend kann im Coaching mit einem veränderten Selbsterleben gearbeitet werden.
Ergänzend dazu fügt sich das → körpertherapeutische Konzept nach Wilhelm Reich an. Nach diesem werden innerpsychische Konflikte auf den Körper übertragen (benannt in Begriffen wie „Charakterpanzer“ und „Muskelpanzer“). Bedeutsam ist hieran, dass – im Coaching – der Fokus auf die vorsprachliche Ebene gelenkt – und diese praktisch genutzt – werden kann. Roth und Ryba konstatieren, dass „körperorientierte Ansätze aktuell jedoch kaum genutzt“ werden würden, dass deren weitere Einbeziehung ins Coaching jedoch „zwingend erforderlich“ sei, „weil sie die tieferen limbischen Ebenen erreichen können“ (ebd., S. 53).
Das → systemische Modell nach Nicklas Luhmann sieht Menschen immer in Systeme, deren Regeln und auch Sanktionen eingebunden. Ergänzend scheint diese Perspektive durch den Blick auf die „Interaktion zwischen Personen und ihre rekursiven Wechselbeziehungen“ (ebd.). Bezüglich eines – reinen – systemischen Ansatzes im Coaching geben Roth und Ryba zu bedenken, nicht zu verkennen, „wie tief Erlebens- und Verhaltensmuster in die Psyche eingegraben sind“ (ebd., S. 54). Insofern gelte es, eine „integrative Coaching-Praxis“ (ebd., S. 50) zu entwickeln.
Zwischenertrag: Praktische Implikationen für Coaching
Aus diesen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben sich praktische Konsequenzen:
✓ Die angezielte – d. h. von Seiten des Klienten gewünschte – Änderung des Verhaltens oder (gesteigert) von Handlung oder (gar) Haltung ist nicht über Verstand und Vernunft möglich.
✓ Nur emotional – positiv – konnotierte Ziele haben die Chance, nachhaltig umgesetzt zu werden. Am nachhaltigsten ist die Zielformulierung auf der Haltungsebene.
✓ Dazu kann im Coaching das emotionales Erfahrungsgedächtnis genutzt werden. Der Körper als Sitz erlebter Erfahrungen sollte dabei nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. weiterführend die Kap. zu somatischen Markern, inneren Bilder, Embodiment).
✓ Beschreibungen sind nachhaltiger (weil für Entwicklung offener) als die Formulierung von Beurteilungen.
✓ Die Beschreibung von Zielen ist erst sinnvoll, wenn der Klient innerlich nicht mehr am Problem „klebt“ (vgl. weiterführend die Kap. zur Gesprächs- und Prozess-Struktur, speziell zur Musterunterbrechung). Denn Lösungen lassen sich am nachhaltigsten in einer buchstäblich gelösten Stimmung erarbeiten.
✓ Zielführend ist es, personen- und situationsadäquate Motivatoren herauszufinden, die auf dem Weg zur Zielsuche und Lösungsformulierung authentische Unterstützung bieten können.
✓ Integratives Coaching sollte nach Roth und Ryba auf den drei Persönlichkeitsebenen „explizit-bewusst“, „implizit-prozedural“ sowie „auf der Ebene des Körpers“ stattfinden (vgl. Roth/Ryba, 2017, S. 54).
Im O-Ton: „Nur wenn auf allen drei Ebenen interveniert wird, kann eine nachhaltige Wirkung erwartet werden.“ (ebd.)
Die Bedeutung (organisations-)theoretischer Ansätze
Wie entscheidend der theoretische Zugang für das, was Begleitung – jedweder Couleur – will, kann und tut, ist, macht Astrid Schreyögg am Vergleich zwischen Coaching und Supervision deutlich. Ähnlich verhält es sich mit allen anderen, oben genannten, Formen.17 Ausgehend von der Beobachtung, dass „Supervision (…) nicht mehr in zu sein“, scheint, da auch „Psychologen (…) ihren Fokus sehr stark auf das Coaching verlagert“ hätten, (Schreyögg, 2017, S. 15), betont Schreyögg die unterschiedlichen Konzepte in beiden Formaten. Wichtig erscheint diese Differenzierung praktisch auch aufgrund der Beobachtung, dass Psychologen nicht selten davon ausgehen, mit Studium und Therapeutenausbildung sowohl das eine als auch das andere Angebot abdecken zu können. Im Bereich schulischer Unterstützungsangebote verhält es sich z. B. so,18 dass Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter und Supervisoren in aller Regel auch Anfragen zum Coaching übernehmen – ob sie dazu eine eigene Ausbildung vorweisen können oder nicht. Insofern kann diese exemplarische Differenzierung von Schreyögg – entsprechend der theoretischen Zugänge – als grundsätzlicher Hinweis für die eigene Standortbestimmung und die Reflexion über das Berufsprofil des Coachs (und Supervisors) verstanden werden. Bezüglich dieser beiden Formen scheint hier wichtig:
• Die Supervision kommt traditionell im sozialen Bereich zum Einsatz, ihr Schwerpunkt liegt auf der Beziehungsgestaltung und der Beratungsaspekt hat ein größeres Gewicht. Es geht darum, „Leute zu beraten, die ihrerseits Klienten beraten“ (ebd., S. 18). Daher werden für die Supervision Konzepte und Modelle benötigt, die diese Themen stützen und theoretisch untermauern.
• Coaching kommt, neben persönlichen Fragestellungen,19 im Business zum Einsatz, um Führungskräfte und Mitarbeiter „dahingehend fit zu machen, dass sie das System, in dem sie tätig sind, möglichst optimal steuern“ (ebd.). Organisationstheoretische und systemische Konzepte sind folglich für den Coach ebenso unerlässlich, wie das Wissen um z. B. informelle Muster, Organisationskulturen und -prozesse.
Zusammengefasst: „In der Supervision spielt die Organisation natürlich auch eine Rolle, aber die Beziehung ist das Primäre.“ (ebd.)
Fazit: Personenzentrierung statt Guru
Neben diesen Zugängen und einigen neueren Forschungen sei an dieser Stelle ein (ebenfalls) älterer Ansatz in Erinnerung gerufen, dem für das Coaching – auch in Organisationen und von Systemen – eine hohe Aktualität beigemessen werden kann: Der amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers hat in seinem humanistisch-psychologischen Modell die Grundhaltungen Wahrhaftigkeit, wertschätzende Anteilnahme und einfühlendes Verstehen zur Basis gemacht. Ausgangspunkt des diesem Ansatz zugrundeliegenden humanistischen Menschenbildes und der darauf von Rogers – in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts – entwickelten klientenzentrierten Psychotherapie ist die so genannte Aktualisierungstendenz. Dahinter steht die Überzeugung, dass – in aller Regel – der Mensch von seinem Wesen her an Selbstverantwortlichkeit und Selbstbestimmung, Reife und Selbstgestaltung des Lebens weiterwachsen möchte: Er „hat die Tendenz, seine Möglichkeiten zu werden“ (Rogers, 1973, S. 340; zitiert nach Schmid, 1990, S. 77). Für die Umsetzung dieser Tendenz sind jedoch Mindestbedingungen notwendig, bei deren Fehlen sich Beeinträchtigungen und Störungen einstellen (können). Wesentlich ist hier, dass Rogers ein destruktives Verhalten auf Defizite innerhalb dieser Umgebungsfaktoren zurückführt, die den Menschen bei der zielgerichteten Umsetzung seiner Aktualisierungstendenz hindern, nicht auf „Defizite“ im oder beim Menschen selbst. An diesem Punkt nun will der personenzentrierte Ansatz greifen und den unterbrochenen kreativen Prozess der Selbstgestaltung durch positive, neue Erfahrungen wieder anregen. Peter Schmid vergleicht den Begleiter in diesem Prozess mit einem Gärtner, „der die optimalen Bedingungen für das Wachstum (…) herzustellen sucht, das Wachstum (…) aber selbst nicht ‚machen‘ kann“ (Schmid, 1990, S. 77). Wie dieser ist auch der Klient in der Regel nicht passiv, sondern er bringt sich in diesen Beziehungsprozess auf der Basis der genannten Grundhaltungen aktiv ein, mit dem Resultat, dass er „in der Zuwendung zum aktuellen gegenwärtigen Erleben (…) sich auf neue Gefühlswahrnehmungen und Erfahrungen einlassen“ kann. Damit wird die „korrektive Erfahrung“ der Begegnung zur Hilfe: „Die Person bringt sich selbst ins Spiel, nicht Mittel oder Methoden“ (ebd., S. 78). Wenngleich auch Rogers diesen „korrektiven“ Ansatz – in Form der von ihm benannten „personalen Begegnung“20 – bereits mitberücksichtigt hat (im Coaching würde man von der Kraft der Irritation sprechen), war für ihn – wesentlicher als ein Korrektiv – die Unterstützung der eigenen Selbsterfahrung grundlegend: Nicht das Problem steht im Zentrum, sondern das Selbsterleben des Klienten. Er geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich von einem Bedürfnis nach Beachtung geprägt ist. Als ganzheitliches Wesen, das wechselseitig auf den Ebenen der Emotion, Kognition und Motivation agiert, ist der Mensch mit einer inneren Bewertungstendenz ausgestattet. Das rationale und willentliche Bestreben nach Beachtung kann jedoch, entgegen der „gefühlten“ – ggf. verdeckten und aktuell daher nicht bewusst wahrnehmbaren – inneren Bewertung, in Handlungen überführt werden. Die Folge davon nennt Rogers Inkongruenz, die sich ganzheitlich niederschlagen, sich wortwörtlich „organisieren“ kann: Körper, Geist und Seele reagieren auf diese Unstimmigkeit zwischen Selbst(konzept)21 und den aktuell erlebten, aber als nicht stimmig bewerteten Erfahrungen. Dabei gerät auch die organische Symbolisierung – die Übereinstimmung einer bewussten Erfahrung mit einer dazugehörigen adäquaten Empfindung – in Ungleichgewicht (vgl. Rogers, 1973; Müller, 2015).
Die genannten Grundhaltungen im Ansatz von Rogers können – auf der Seite des Coachs – für die Möglichkeit neuartigen, authentischen Selbsterlebens mit dem Ziel der Kongruenz beim Klienten die Grundlage bieten. Statt des Begriffes der Wahrhaftigkeit findet sich in der Literatur heute oft die Bezeichnung Echtheit, an der Stelle des einfühlenden Verstehens der Begriff Empathie. Diese Grundhaltungen können jeweils eine Auswirkung beim Gegenüber zeitigen: Besitzt der Klient im Coaching einen hinreichenden Zugang zum eigenen inneren Erleben, kann dies eine Offenheit evozieren, die dem Gespräch Tiefe verleiht. Seine oder ihre Echtheit spiegelt sich in der des Gegenübers – wobei auch hier wieder bedeutsam scheint, was die Neuropsychologie in den letzten Jahren über die Funktion der Spiegelneuronen erforscht hat. Die Grundhaltung der wertschätzenden Anteilnahme zeigt sich in dem Glauben an die inneren Kräfte des Gegenübers sowie an dessen Wachstumsmöglichkeit, wenngleich beides aktuell (noch) nicht spürbar sein muss. Der Aspekt der Empathie setzt sich aus dem einfühlenden Verstehen (Ratio) und dem verstehenden Einfühlen (Gefühl) zusammen, wobei im Zusammenspiel beider Größen das innere Anliegen des betreffenden Menschen – um das er oft selbst bewusst (noch) nicht weiß – Stück für Stück ans Tageslicht gebracht werden will. Rogers beschrieb diesen Prozess als Vortasten in die eigene Wahrnehmungswelt des Anderen. Hieran wird der sensible Vorgang, aus dem ein unterstützendes Gespräch auf dieser Basis besteht, deutlich: Da ist einerseits ein äußerer Rahmen, ein geführtes Gespräch, und andererseits laufen – anfänglich von beiden Beteiligten unbemerkt – innere Prozesse ab, die Neues zulassen können, Altes, Verdrängtes (anfänglich wieder) erspüren lassen, das Erleben – besonders das Selbsterleben – auf eine veränderte Weise befördern. Als Selbstexploration bezeichnet Rogers dieses Phänomen. Diese Selbsterfahrung kann irritierend sein – und umso wichtiger ist es daher, dass der Coach um seine Grenze weiß bzw. sie im Gespräch spürt –, ist jedoch die Grundbedingung für die weitere Stimulierung der brachliegenden Aktualisierungstendenz.
16 Vgl. hierzu weiterführend das Kap. „Menschenbild, Grundhaltungen, Standards“.
17 Vgl. Kap. „Was Coaching leisten kann“. Dieser Abgleich zwischen Coaching und Supervision soll hier – auch aus Gründen des Umfangs und der Lesbarkeit – exemplarisch für alle anderen Begleitungsmöglichkeiten stehen, auf die die (Berück-)Sicht(ig)ung des jeweiligen Ansatzes übertragen werden könnte.
18 (Anm. des Autors)
19 Vgl. Kap. „Ursprung“.
20 Einschränkend konstatiert Gerhard Roth kritisch: „Beziehung allein heilt aber nicht!“ (Roth/Ryba, 2017, S. 53; vgl. ebenso die konstruktiv-kritischen Hinweise zur klassischen Seelsorge in: Hanstein, 2017, S. 9–62.)
21 Vgl. weiterführend Kap. „Selbstkonzept und Kongruenz“.