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Оглавление4 Systemisches Coaching – vom Wissen um Organisationsprozesse
Ursprung und theoretische Grundlegung
Der oben zitierte Anspruch ganzheitlichen Coachings korrespondiert mit dem systemischen Blick auf menschliche und betriebliche Organisationen und der grundlegenden systemtheoretischen Erkenntnis, dass eine Veränderung an einem einzelnen Punkt – z. B. das Verhalten einer Person in einem bestimmten Interaktionsmuster – eine Auswirkung auf das System in seiner Ganzheit hat. Nach der soziologischen Systemtheorie Luhmanns definieren – und konstituieren – sich soziale Systeme durch dieselben Merkmale: Neben der grundlegenden Beobachtung, dass die kleinste Einheit im System bereits ein entscheidendes systemrelevantes Kommunikationsgeschehen in Gang setzen kann, besteht ein wesentliches Merkmal im selbstreferenziellen Charakter. Dies bedeutet, dass soziale Systeme „die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren“ (Luhmann, 1987, S. 403). Was positiv mit dem Begriff der Autopoiesis gedeutet werden kann, bedeutet aber eben auch symbolische und kommunikative Abgrenzung – oder auch durch ein Wertesystem – gegenüber seiner Umwelt und anderen Systemen. Rolf Arnold spricht hier von der „ärgerlichen Tatsache der systemischen Geschlossenheit“ (Arnold, 2012, S. 118). Systeme grenzen sich durch ihre je eigene Struktur und ihre je eigene Systemsprache von ihrer Umwelt ab, was im Alltag daran beobachtet werden kann, dass spezielle – z. B. kommunikative – Abläufe nur innerhalb des jeweiligen Systems funktionieren, aber auch wie von selbst durch die Mitglieder eines Systems – beim Wechsel in ein anderes soziales System – an der Systemgrenze zurückgelassen werden. An solchen alltäglichen Beispielen wird auch deutlich, dass Systeme sich nicht (nur) nach ihrem Wesen definieren lassen, sondern – nach Luhmann – v. a. entsprechend ihrer Funktion.
Die Systemtheorie Luhmanns – der biologische daraufhin noch um soziale und psychische Systeme erweiterte – basierte auf der autopoietischen Systemtheorie der Zellbiologen Humberto Maturana und Francisco Varela (vgl. Maturana/Varela, 2009). Aufbauend auf der evolutionären Systemtheorie von Rupert Riedl (vgl. weiterführend Riedl/Delpos, 1996) entwickelten sie eine Theorie auf dem Ansatz zirkulärer Kausalitätsverhältnisse. Systeme sind, so verstanden, hoch komplexe und zugleich kommunikativ-dynamische Einheiten, in denen eine Vielzahl von „Wechselwirkungs- und Ergänzungsprozesse(n)“ (Berninger-Schäfer, 2011, S. 53) stattfindet. Diese befinden sich in so genannten „Fließgleichgewichten“, welche sich – entsprechend der Chaosforschung – stets „im Fluss“ befinden und dabei immer wieder neue Formen und Ordnungen ausbilden. Diese Charakteristika von Systemen gelten in allen Ansätzen der systemischen Begleitung und Beratung als Grundlage. Zugleich leiten sich aus dieser Erkenntnis Konsequenzen ab:
Arnold Mindell, der einen prozessorientierten Ansatz entwickelt hat (vgl. Mindell, 1987), betrachtet das System Mensch in seiner körperlich-psychischen Ganzheit. Sein Modell geht davon aus, dass Symptome und Probleme systemisch derart zusammenhängen, dass die somatischen Anzeichen nicht nur auf die tiefer liegende Problematik verweisen, sondern im Problem selbst die Lösung liegt. Sein Ansatz setzt daher auf eine differenzierte Vertiefung des Problems, sogar auf die (erneute) Auseinandersetzung mit (bereits durchlebten) Grenzerfahrungen. – Die Herkunft aus der Psychoanalyse und der Einfluss der Tradition nach C. G. Jung sind kaum zu übersehen.
Steve de Shazer und Milton Erickson setzten stattdessen lösungsorientiert an (vgl. De Shazer, 1989; Erickson, 1995; Erickson/Rossi, 2015). Ihre Ansätze gehen davon aus, „dass Ergebnisse auch ohne detaillierte Ursachenforschung gefunden werden können“ (Müller, 2009, S. 24). Der Soziologe de Shazer, der die „lösungsorientierte Kurzzeittherapie“ entwickelt hat, gibt dem geschilderten Problem daher nur so viel Bedeutung, wie zur Suche nach dem Ziel notwendig ist. Von der Problembeschreibung aus nimmt er eine „Umfokussierung“ mit dem Ziel erster Lösungsideen vor. Methodisch kreiert, nutzt er dazu die „Zeitlinie“ und die „Wunderfrage“. Dadurch wird der Blick des Klienten für andere Perspektiven geöffnet, neue Handlungsmöglichkeiten kommen in den Blick.
Gunther Schmidt (vgl. Schmidt, 2004; ebd, 2005; ebd. 82018) hat diese lösungsorientierten Konzepte zusammengeführt und zu einem ganzheitlichen, lösungsfokussierenden und zugleich hypnosystemischen Ansatz ausgebaut. Neben dem Aspekt der Wechselwirkung aller Elemente eines Systems ist für dieses Coachingverständnis die systemische Selbstorganisation zentral. Zur Systemstabilität gehört es demnach auch, dass Menschen durch ihr systemkonformes Verhalten – das ihnen nicht bewusst sein muss – dazu beitragen. Diese „Musterzustände“ – als „Einheit von äußeren und inneren Faktoren mit einem spezifischen Zusammenspiel von körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Reaktionen“ (Berg/Berninger-Schäfer, 2010, S. 19) – können entsprechend der systemtheoretischen Erkenntnis, dass jedes Einzelne das Ganze bedingt, aber auch jederzeit eine Infragestellung und Störung erfahren. Änderungen innerhalb eines Systems können demnach nicht nur durch Einwirkungen von außen erfolgen, vielmehr werden diese – entsprechend der Tendenz zur systemischen Selbsterhaltung – in einem ersten Impetus in der Regel abgewehrt. Entscheidender, da nachhaltiger und effizienter, ist demgegenüber die Möglichkeit des Ausbaus neuer Muster von innen, aus dem eigenen System heraus. Hier setzt Coaching an. Raum und kreative Möglichkeiten für die Neuorganisation neuer Muster werden durch die inhaltliche Lenkung auf die Ressourcen des jeweiligen Systems – sei es eine Organisation oder ein einzelner Mensch – angebahnt, und methodisch entsprechend gefördert. Dabei ist die Erkenntnis leitend, dass Veränderung praktisch nur möglich ist, wenn bisherige (Muster-)Zustände verlassen werden (können). Irritationen sind dazu ebenso notwendig, wie sie auch sensibel begleitet sein wollen, da sie immer mit entsprechenden Emotionen verbunden sind. Attraktoren – als „Funktionen mit hoher Anziehungskraft“ (Berninger-Schäfer, 2014) – können hier zur Perspektivenweitung und Musterzustandsunterbrechung ganzheitlich motivieren. Aufbauend auf dem hypnotherapeutischen Konzept Ericksons (vgl. Erickson, 1995) verbindet Gunter Schmidt diverse aktuelle systemische Ansätze und aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu einem integrativen Konzept. Einen wesentlichen Beitrag für die systemisch-lösungsorientierte Begleitung leistet Schmidt auch durch seinen konsequenten Verzicht darauf, in „Kategorien von entweder/oder oder wenn/dann“ (Müller, 2009, S. 31) zu denken. Statt kausal und linear zu systematisieren, übernimmt sein Konzept den Gedanken der Wechselwirkungen, die sich konkret durch Muster, Regeln, Rollen, durch Verhalten und Handeln sowie diesen zugrundeliegenden Bedingungen ergeben (vgl. Müller, 2009, S. 21–31). Schmidt beherzigt das humanistische Bild vom Menschen und Erkenntnisse des Konstruktivismus: Wenn davon auszugehen ist, dass Probleme, von denen Klienten berichten, autohypnotisch durch ihre (situative) Einengung der Wahrnehmung entstanden sind, kann nicht die (weitere) Fokussierung auf das Problem zur Lösung führen. Vielmehr gilt es – unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Kontextbedingtheit und Abhängigkeit der Wahrnehmung von der Perspektive – durch Umfokussierung dieser Autohypnose eine neue, zusätzliche Erfahrung zu ermöglichen, die sowohl den eingeschlagenen Kontext aufbrechen bzw. verlassen wie einen neuen Blick auf das Erlebte und Beschriebene ermöglichen kann. Durch Schmidts konzeptionelle Weiterentwicklung wurde der Blick auch auf ganzheitliche Reiz-Reaktions-Abläufe und Musterzustände in sozialen, lebenden Systemen und konkret beim Klienten gelenkt, wie auf die Frage nach weiteren Prinzipien für eine methodische Lösungsorientierung.
Systemisch-lösungsorientiertes Coaching als integrativer Ansatz
Auf der Grundlage der – oben angeführten – Begriffsbestimmung des Deutschen Bundesverbandes Coaching vertritt die „Karlsruher Schule“22 einen systemisch-lösungsorientierten Coachingansatz, der auf den dargelegten systemtheoretischen Erkenntnissen fußt, und der in der Systemtheorie integrierte Ansätze, insbesondere aus dem Konstruktivismus und der Chaosforschung, praktisch berücksichtigt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Aspekt der systemischen Selbstorganisation, wobei ein System als ein „sich organisierendes Ganzes“ betrachtet wird, jedoch nicht durch voneinander „isolierte Objekte“, sondern durch ein komplexes Geflecht von „Muster-, Regel-, Wechselwirkungs- und Ergänzungsprozesse“. Diese – relative, nie statische – Systemstabilität wird im sozialen Kontext durch die „Wiederholung von Verhaltensmustern, Denk- und Sichtweisen erreicht“ (Berninger-Schäfer, 2014). Die Wahrnehmung – nicht Analyse – dieser Phänomene gibt dem Coach einen ersten Zugang zum jeweiligen System. Auf dem Weg der Veränderung von Kontextbedingungen können im Coaching dann Veränderungen in diesen komplexen systemischen Gebilden angezielt werden. Wenn dabei ernst genommen wird, dass der Klient – bei allen gefühlten und ggf. benannten aktuellen „Defiziten“ – Experte seines eigenen „Systems“ ist, verbietet es sich von selbst, von allgemeingültigen, absoluten Aussagen auszugehen – bzw. diese zu suchen. So kann das Coachinggespräch „ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe“ sein – und bleiben –, bei dem der Klient selbst als „Experte für seinen Weg und sein Leben“ (ebd., 2011, S. 51) angesehen wird. Die systemisch grundrelevanten Aspekte der Autopoiese und Selbstreferenzialität bekommen so praktische Geltung.
Elke Berninger-Schäfer spricht von vier grundlegenden Merkmalen des systemisch-lösungsorientieren Coachings: Ein Coach, der sein Gegenüber als „Systemexperten“ versteht, orientiert sich in seinem Vorgehen nicht entsprechend seiner Fachkenntnis, sondern am persönlichen Anliegen und an den Rahmenbedingungen der jeweiligen Person und ihrer Rollen. Er selbst sieht sich als Prozessbegleiter, der eine, entsprechend Person, Anliegen und Situation möglichst „maßgeschneiderte (…) Maßnahme“ (ebd., S. 52) anstrebt. – Somit ist systemisch-lösungsorientiertes Coaching personenzentriert. Der Blick des Coachs richtet sich nicht auf die dargelegten – vermeintlichen – „Schwächen“, sondern auf die persönlichen Fähigkeiten und Stärken des Klienten. Systemisch-lösungsorientiertes Coaching bedient sich hierzu des von Bernhard Badura innerhalb der Sozialwissenschaften eingeführten Begriffs der Ressourcen (vgl. Badura, 1981; Bengel/Strittmatter/Willmann, 1998). – Insofern versteht sich Coaching dieser Ausrichtung als ressourcenorientiert. Werden diese je eigenen Ressourcen des Klienten, auch entsprechend des zugrundeliegenden Menschenbildes und der sich daraus ableitenden Grundhaltungen, als reale Gegebenheiten, die es mit Hilfe des Coachings zu stärken, ggf. auch erst zu bergen gilt, angesehen, drängen sie regelrecht organisch zu Lösungen in der aktuellen Situation. – Somit ist systemisch-lösungsorientiertes Coaching, wie das Wort bereits definiert, immer auch lösungsorientiert (vgl. Döring-Meijer, 1999; Mücke, 42009, Middendorf, 2018). Weil Lösungen, (nur) durch – im Coaching – zu erarbeitende konkrete Maßnahmen realisiert werden und in Handlung umgesetzt werden können, bedarf es der Definition von Zielen. – Daher arbeitet systemisch-lösungsorientiertes Coaching zielorientiert (vgl. Fischer-Ege, 2004). Derart konzipiertes Coaching „respektiert die Einzigartigkeit von Individuen, orientiert sich an der Persönlichkeit und den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Klienten und strebt maßgeschneiderte Ziele und praktische Lösungen an“ (Berninger-Schäfer, 2011, S. 53).
Dieser Prozess erfolgt im systemisch-lösungsorientierten Coaching ganzheitlich und orientiert sich – neben den skizzierten Ansätzen aus der Systemtheorie und den Neurowissenschaften – auch an den Erkenntnissen der Gesundheitspsychologie. Der Soziologe Bernhard Badura hat bereits vor 30 Jahren auf die Bedeutung sozialer Widerstandsfaktoren für die Erhaltung der – auch – seelischen Gesundheit hingewiesen (vgl. Badura, 1999, 1. Aufl. 1981), nachdem Aaron Antonovsky den Terminus Salutogenese – als Komplementärbegriff zur Pathogenese – in die wissenschaftliche Debatte eingeführt hatte (vgl. Antonovsky, 1997). Diese Herangehensweise änderte den Blick: von Defiziten auf Ressourcen, von der Vermeidungshandlung zur Zielgerichtetheit, von der – medizinischen und therapeutischen – Symptomarbeit hin zur systemischen Selbstregulation. Was seither für Soziologe und Medizin gilt, ist auch für Coaching bedeutend, das systemisch ansetzt (vgl. Schmidt, 2005): Wie der Prozess zur Gesundung dem zur Erkrankung entgegengesetzt wird, so gilt es im Coaching – durch Unterstützung des Coachs – vom Problem- in den Lösungszustand zu gelangen. Als Muster wird dabei das „Zusammenspiel zwischen gedanklichen, emotionalen und physiologischen Vorgängen“ verstanden, welches „einer neuronalen Aktivierung im vernetzten Gehirn“ entspricht, „das durch vorhergehende Bahnungen entstanden und (daher, Anm. des Autors) relativ stabil ist“ (Berninger-Schäfer, 2011, S. 62, nach: Roth, 2003). Die Ausführungen zum Embodiment23 in diesem Ratgeber unterstreichen – neben den systemtheoretischen Erkenntnissen zu Chaos und Ordnung in Organisationen – die Funktionalität und Stabilität von Mustern, aber auch die Fähigkeit zur Änderung dieser Musterzustände, seien sie auch noch so „eingespurt“.
Dieses Verständnis von Coaching hängt zutiefst mit der Auffassung vom Menschen wie mit der ihm gegenüber – im Coachingprozess – einzunehmenden Haltung zusammen, woraus sich wiederum Werte für eine professionelle Begleitung ableiten lassen.
Menschenbild, Grundhaltungen, Standards
Grundlage für Coaching im systemisch-lösungsorientierten Zuschnitt bildet das humanistische Menschenbild. Dieses hat sich in einem über 200-jährigen geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozess herausgebildet, weshalb auch nicht von dem humanistischen Menschenbild gesprochen werden kann. Wie die klassischen Ansätze, wonach der Mensch von Natur aus böse – Thomas Hobbes – oder im Grunde gut – Jean-Jacques Rousseau – sei, sich in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahrhunderte nicht einseitig bewähren konnten, so suchten auch Pädagogik und Psychologie – über Behaviorismus, Reformpädagogik, Interaktionismus etc. – bis zum heutigen Tage nach Kriterien einer humanistischen Sicht vom Menschen. Dennoch lassen sich die Grundpfeiler eines humanistischen Menschenbildes (nach Bullock, 1985; Davidson, 1992; Wertz, 1998) zusammenfassen: Jeder Mensch ist als Ganzheit zu verstehen, ist folglich mehr als die Summe seiner (Körper-, Seele- oder Geist-)Anteile. In der Konsequenz bedeutet das, dass „von außen“ nur Teilaspekte seiner Entität wahrgenommen werden können. Jeder Mensch besitzt Andersartigkeit, mit der er sich von anderen Menschen unterscheidet, die er aber wiederum in soziale Kontexte einbringt. Hieraus folgt, dass der Einzelne – und sein Verhalten und Handeln – nicht losgelöst von seinem jeweiligen Umfeld betrachtet werden kann. Jeder Mensch ist sich seiner selbst, aber auch seiner Freiheit und uneingeschränkten Würde bewusst. Das bedeutet, beides gleichermaßen zu beachten: das bewusste Wahrnehmen als Voraussetzung der (Selbst-)Reflexion, wie das Selbsterleben als Spiegelung der subjektiven Erfahrungswelt. Daraus ergibt sich regelrecht zwangsläufig: Jeder Mensch ist befähigt, sich – bzw. sein Verhalten und Handeln – zu ändern. Er ist in der Lage, – mehr oder weniger – frei Entscheidungen zu treffen und sich für Alternativen zu entscheiden. Der Mensch – als sich seiner selbst bewusstes und für sich selbst verantwortliches – Wesen strebt konkret danach, sich Ziele zu setzen.
Jeder Mensch bringt demnach Anlagen zur Selbstentfaltung und Entwicklung mit, die es zu steigern gilt – und die auch als steigerbar gelten. Entsprechend der Erkenntnisse der Systemtheorie (vgl. oben) wird der Mensch als grundsätzlich befähigt betrachtet, seine eigene systemische Selbstorganisation, Selbststeuerung und Selbstregulierung zu leisten. Einschränkungen dieser natürlichen Kompetenz können durch entsprechende Einflüsse, z. B. durch Erziehung oder soziale Determinanten, entstehen, werden aber nach dem humanistischen Menschenbild nicht als „Negativum“ des Einzelnen betrachtet. Vielmehr wird durch diese, situativ bedingten Beschränkungen der Selbstentfaltung der Zugang zu den eigenen Ressourcen blockiert. Begleitungsformen, die auf einem humanistischen Menschenbild wurzeln, sind daher bemüht, diese Zugänge „zum Entwicklungspotenzial der Klienten, zu alternativen Perspektiven und zu kreativen Lösungen zu ermöglichen“ (Berninger-Schäfer, 2011, S. 67). Wird der Klient wirklich als Experte seines eigenen „Systems“ – so keine Hinweise auf eine krankhafte Störung vorliegen (was zugleich eine Grenzziehung für das Coaching darstellen würde) – verstanden, ist er nach humanistischem Menschenbild grundsätzlich zu einer Lösung fähig. Coaching will dazu verhelfen, die hierfür notwendigen Ressourcen (wieder) zu erkennen und nutzbar zu machen. Musterzustände, in denen sich die Stabilität eines Systems zu erkennen gibt, können durch einen lösungs- und ressourcenorientierten Zugang verändert werden. Methodisch spricht man davon, den Klienten vom Problem- in den Lösungszustand zu begleiten. In diesem wird dem Klienten der ganzheitliche Zugang zu seinen Ressourcen (erst wieder) möglich.
Bei einer ganzheitlichen Begleitung vor diesem Menschenbild kann es sich nicht rein um Techniken handeln, die erlernbar wären, sondern basaler als handwerkliche Methoden sind Haltungen, die vom Coach verinnerlicht sein müssen. Das Wort „müssen“ bereits ist schwierig, da Haltungen nicht „gemacht“ werden können, sondern sich in Erfahrungen erst konstituieren, wie Gerald Hüther immer wieder betont hat. Aber erfahrende Coachs wissen, dass sich die Haltungen in der Prozesssteuerung wie auch in der Anwendung der Methoden widerspiegeln. Insofern steht am Anfang das Wissen um den grundlegenden Charakter dieser Haltungen sowie ihrer Verortung in Systemtheorie und humanistischem Menschenbild, darüber hinaus aber die andauernde Reflexion der Anwendung dieser Grundhaltungen im praktischen Coachen. Respekt und Akzeptanz gegenüber dem, was der Klient wahrnimmt, was er erlebt hat und an Schilderungen und auch an subjektiven Bewertungen vorbringt, zeigen sich in Askese und Wertschätzung im Coachinggespräch. Auch wenn dem Coach das Geschilderte abwegig erscheint, weil es sich nicht mit dessen eigener Erfahrung deckt, so sehr ist es seine Aufgabe – Rolle und Kompetenz als Coach –, wertfreies Interesse daran zu haben. Seine eigenen Erfahrungen sind an dieser Stelle nicht gefragt, sie würden Ziel- und Lösungssuche unter Umständen nur erschweren, weil sie – wenn auch ungewollt – Erfahrungen von ganz anderen Menschen aus ganz anderen Kontexten an die Stelle der eigenen Ressourcen des Klienten setzen würden. Eine spürbare Empathie des Coachs, die Fähigkeit, für den Moment in die Gefühls- und Erlebniswelt der Klienten einzutauchen, ist ebenso zentral für einen gelingenden Gesprächsprozess. Da auch Coaching letztlich auf Vertrauen beruht, ist ebenso eine, für den Klienten spürbare Echtheit auf Seiten des Coachs – in dessen Worten, aber auch in der Kongruenz zu seinen nonverbalen Signalen – wesentlich. Wie sich Haltungen grundsätzlich im praktischen Handeln und Verhalten zu erkennen geben, lassen sich auch im Kontext Coaching aus diesen Grundhaltungen ethische Verhaltensregeln ableiten:
Zu den ethischen Standards gehört die Auftragsbezogenheit eines Coachings. Damit muss ein Anliegen vorliegen oder als erster Schritt herausgearbeitet werden. Die Übertragung eigener Themen vom Coach auf den Klienten entspricht nicht den ethischen Standards. Ebenso sollte eine verbindliche Ausformulierung von Auftrag und Ziel des jeweiligen Coachings vorliegen. Dieser Standard schützt beide Seiten und sichert den Coachingprozess. Dies ist insbesondere bei so genannten Dreiecksverträgen wichtig, z. B. bei einem Auftrag zu einem Mitarbeiter- oder Führungscoaching von Seiten der Unternehmung. In diesem Fall wäre wichtig zu klären, wer den Auftrag erteilt und wie er sich inhaltlich definiert. Nach dem oben dargelegten Verständnis vom zugrunde liegenden Menschenbild wäre es ethisch z. B. nicht vertretbar, ein Coaching im nicht nur im Auftrag eines Vorgesetzten anzunehmen, sondern mit formulierten Erwartungen an das Coaching und den Coach. Deshalb gehört es zu den Standards ebenso, Anfragen und Aufträge abzulehnen, die nicht diesen Grundsätzen entsprechen. Ebenso verhält es sich bei späteren Fragen zum Coachingprozess. Coaching findet grundsätzlich in einem vertraulichen Rahmen statt und „ein Coach verpflichtet sich zur Einhaltung des Berufsgeheimnisses und zur aktiven Sicherung der ihm anvertrauten Informationen“ (Berninger-Schäfer, 2011, S. 74). Für den Fall, dass die Schweigepflicht aufgrund gesetzlicher Vorgaben berührt werden muss, ist dem Klienten dies „unter Angabe von Grund und Inhalt“ (ebd.) mitzuteilen. Aufbewahrung und Dauer der Verwendung angefertigter Dokumentationen sind im Zuge des Inkrafttretens bzw. der Anwendung der europäischen Datenschutzgrundverordnung24 auch für den Bereich von Coaching und Beratung neu fixiert worden. Neben dem generell obligatorisch gewordenen Datenschutzverzeichnis und der Datenschutzerklärung auf der eigenen Coaching-Homepage sind hierin die Fristen zur Aufbewahrung und Löschung von Daten, zur notwendigen aktiven Zustimmungserklärung und zu den nun verpflichtenden Verträgen für die Auftragsverarbeitung geregelt. Coachingverbände halten für diesen Zweck wie für die Vereinbarung zum Coaching selbst Musterverträge bereit. In diesen wird – neben Vereinbarungen zu Umfang, Dauer und Honorar – auch der ethische Kodex – mit den Aspekten Datenschutz, Schweigepflicht und im Businesskontext in der Regel auch Entschädigungsvereinbarungen bei Terminausfällen – festgeschrieben. Aufgrund der oben dargelegten Grundhaltungen eines Coachs ist im Coaching immer die Integrität des Klienten zu gewährleisten. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Klienten kommt ein hoher, für das Coachingverständnis basaler Wert zu. Der Coach verantwortet den Prozessablauf, der Inhalt und die eigenen Entscheidungen kommen – mit Unterstützung durch Fragen, Techniken, Interventionen und Tools – stets vom Klienten selbst. Dazu gehört auch, dass ein professioneller Coach mögliche Grenzen erkennt und anspricht, z. B. wenn ein Zusammenhang deutlich wird, der therapeutischer Unterstützung bedarf. (Vgl. Führungsakademie 2009: Coachinghandbuch; Berninger-Schäfer, 2011, S. 72–74).
Abbildung 1
Gesprächs- und Prozess-Struktur
Ein Coachingprozess gliedert sich in einzelne, möglichst im Erstkontakt zahlenmäßig festgehaltene Einheiten, die wiederum als einzelne Coachinggespräche stattfinden. Das systemisch-lösungsorientierte Coaching arbeitet mit einer festen Grundstruktur, die ein Coachinggespräch in vier Phasen gliedert. In der ersten Phase, der Anliegenklärung, wird der Klient gebeten, sein Anliegen möglichst konkret zu benennen. Mit diesem werden die Weichen für die weitere Prozesssteuerung gestellt. Aus dem Anliegen heraus ergeben sich das Thema sowie der Auftrag des Coachs. Aus der Benennung eines möglichst konkreten Anliegens kann der zweite Schritt, die Situationsbeschreibung, erfolgen. Der Klient wird gebeten, Informationen zum Kontext zu geben. Der dritten Phase, der Zielfindung, vorgelagert ist die entscheidende Scharnierstelle im Coachingprozess: der Übergang vom Problem- in den Lösungszustand. Erst nach diesem längeren, ganzheitlichen Schritt kann aus den – entsprechend der SMART-Regel25 formulierten – Zielen in die vierte und letzte Phase, die Lösungssuche, gewechselt werden. Diese schließt, vor dem eingangs beschriebenen Anliegen und der geschilderten Situation, mit der Planung erster, konkreter Maßnahmen ab.
Systemisch-lösungsorientiertes Coaching legt den Schwerpunkt nicht auf eine ausgiebige Formulierung der Situation, da selbst bei sehr gründlicher Schilderung nie alle Aspekte benannt werden könnten. Zudem könnte das sprachliche „Wiederdurchleben“ einer Situation – gedanklich und somatisch – die Problemtrance zusätzlich verstärken. Stattdessen geht es an diesem Punkt um die wichtigsten Informationen, wie beispielhaft die Frage nach wesentlichen Akteuren, typischen Abläufen in der Organisation, wichtigen Personenkonstellationen. Da das Aussprechen die damit verbundenen negativen Gefühle, ebenso Bilder, Farben oder Gerüche wieder hervorruft, gibt sich in diesem Moment – auch somatisch durch erkennbare physische Veränderungen – der Problemzustand zu erkennen. Die grundlegendste Bedingung für den weiteren Prozess ist nun die Begleitung des Klienten hin zum Lösungszustand. Dies geschieht – entsprechend des oben beschriebenen Menschenbildes und des Verständnisses vom Musterzustand – über die Aktivierung der Ressourcen des Klienten und über Visionsarbeit. Positiv erlebte Lösungsversuche, bisher erreichte Ziele, persönliche Erlebnisse oder Unterstützungssysteme können für diesen Schritt ebenso hilfreich sein wie innere Bilder und Metaphern aus der Erinnerung des Klienten oder seinem aktuellen Leben. Anknüpfend an dieses positive Erleben und dem verbalisierten Ausdruck erfahrender Selbstwirksamkeit kann dann eine Zukunftsvision – klassisch mit der Wunderfrage – eingeleitet werden. So, wie eingangs keine Situationsbeschreibung ohne die Herausarbeitung des Anliegens, wäre an diesem Punkt auch keine nachhaltige Zielfindung möglich ohne Versetzung in den Lösungszustand. Diese Verfassung nennt systemisch-lösungsorientiertes Coaching eine Musterzustandsänderung. In diesem Moment lösen sich auch somatisch Zustände aus der Problemtrance, der Körper spiegelt den Schritt hin zur Lösung und zu möglichen Zielen (vgl. Berg/Berninger-Schäfer, 2010, S. 22–23; Berninger-Schäfer, 2011, S. 83–98).
22 (Ausbildung des Autors, Abschluss verliehen von der Führungsakademie Baden-Württemberg, anerkannt vom DBVC)
23 Vgl. Kap. „Embodiment“.
24 Vgl. DSGVO, ab Mai 2016 bzw. 2018.
25 (Spezifisch – Messbar – Attraktiv – Realistisch – Terminiert)