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Kapitel 1 - Die Abdrift

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Berlin, Hauptstadt der DDR, 27.Oktober 1989

Theo Kappner schmiss die »Berliner Zeitung« wütend auf die Couch. »Es ist doch scheißegal, ob du die »Berliner« oder das »ND« liest. Wie schon immer steht in den Wurstblättern der gleiche Müll. Und das im altgewohnten Tonfall. Mann oh Mann! Wie lange wollen die sich noch derart präsentieren?«

In einen Bademantel gehüllt kam Lisa Kappner aus dem Bad ins Wohnzimmer. Sie nahm Theos Bierflasche vom Tisch und trank daraus einen Schluck. Lächelnd stellte sie die Flasche zurück und verschränkte die Arme unterm fülligen Busen. »Ich hab‘ dich gehört, Kappner. Du schreist ja laut genug. Aber wieso glaubst du, das die Journaille sich ändert? Nur, weil gestern in Dresden Hunderttausende durch die Straßen gezogen sind? Und diesmal nicht, wie vor zwanzig Tagen auf sie eingeprügelt wurde? Oder der Krenz mit Kohl in –konstruktiver Atmosphäre– telefoniert hat? Ich konnte die Zeitung nämlich vorhin auch lesen, bevor du sie dir eingekrallt hast. Darum gebe ich dir sogar Recht! Die lassen sich immer noch viel lieber über die 12. Tagung vom FDJ-Zentralrat aus. Denn dabei können sie auf die altgewohnten Formulierungen zurückgreifen. Und schwätzen zudem darüber, dass sich der Ministerrat Gedanken bereitet, wie bessere Waren in die Läden gelangen. Aber bei dem was das Land wirklich bewegt kommen sie ins Schwimmen.«

Kappner trank die Flasche leer. Er stellte sie neben den Sessel auf den Teppich, wobei sein Blick auf Lisa ruhte. Plötzlich überzog ein anzügliches Lächeln sein Gesicht.

»Was grinst du so spitz?«, gurrte seine Frau.

Er deutete wortlos nach unten, wo sich ihr Bademantel einen Spaltbreit geöffnet hatte.

»Na und?« Sie lachte leise. »Schwarze Strümpfe eben. Aus dem Exquisit! Und – ich bin frisch gebadet!«

»Uiiii! Das qualifiziert unseren Freitagabend aber gewaltig! Denn genau das brauche ich, wenn die mir schon das Wochenende versaut haben!« Kappner erhob sich rasch aus dem Sessel. »Gehe ich richtig in der Annahme, junge Frau, dass jetzt gevö …!« Mitten im Satz unterbrach er sich und lauschte ebenso wie Lisa.

Ihrer beider Aufmerksamkeit richtete sich auf die Wand zur Nachbarwohnung. Nur schwer zu überhören ertönte von nebenan das laute Geschrei des Nachbarn. Unterbrochen wurde es immer wieder vom aufheulenden Geflenne der Nachbarin. Dazwischen plärrten die beiden Kleinen.

Nachdem sie beide einen Augenblick gelauscht hatten, schüttelte Kappner den Kopf. »Scheiß dünne Wände in der Platte!« Fragend schaute er seine Frau an. »Ist der nur besoffen, oder haut der gerade die Isolde zusammen?«

»Der Balzer und –schlagen?« Lisa postierte sich auf der Sessellehne. Solcherart, dass ihr nunmehr freiliegender rechter Schenkel gut mit dem Strumpfsaum kontrastierte. Sie klang skeptisch. »Der ist doch beim Magistrat. Dazu noch altbewährter Genosse und Hausbuchführer!«

»Na und? Wieso sollte der seine Olle nicht verdreschen? Wie ’ne moralische Instanz hat der sich, wie ich ihn kenne noch nie aufgeführt. Oder?«

»Ich zieh‘ mir schnell was an«, entgegnete Lisa und sprang auf. »Wenn die Brüllerei nicht aufhört, geh ich rüber!« Sie verschwand im Schlafzimmer.

Kappner schaute ihr kurz hinterher, knurrte unwillig und schlurfte zur Wohnungstür.

Gerade als er die Hand auf die Klinke legte, drangen Geräusche durch die dünne Hartfaserplatte aus dem Treppenhaus herein. Die Tür der Nachbarwohnung wurde lautstark aufgeschlossen und krachte drüben im Wohnungsflur gegen die Wand.

Er öffnete rasch, trat einen Schritt nach vorn hielt aber im Türrahmen inne.

Sein Nachbar, Balzer, stand auf dem Treppenabsatz vor dem Fahrstuhl. In der Linken trug er einen Koffer. Mit der Rechten drückte er hektisch den Rufknopf des Lifts.

In der offenen Tür zur Nachbarwohnung lehnte Isolde Balzer. Von ihrer Stirn rann Blut mit Tränen vermischt übers angstvoll verzerrte Gesicht.

Die kleinen Mädchen zerrten am Hosenbein ihrer Mutter. Jetzt fast schon stimmlos und mit Rotzfahnen, die aus den Näschen liefen.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben!«, brüllte Balzer mit einem Blick auf seine Frau und hieb mit der Faust wie wild gegen die Fahrstuhltür. »Ich hab dir gesagt, dass ihr mit mir kommt. Die nehmen uns alle auf!« Er stieß ein irres Kichern aus. »Aber du? Du entdeckst plötzlich deine Sesshaftigkeit! Scheiße! Wer von uns beiden wollte denn immer in die Alpen?« Er öffnete die Fahrstuhltüren, sprang in den Korb und hackte auf der Tastatur herum.

Durch das kleine Fenster erwischte Kappner noch einen letzten Blick auf den cholerischen Nachbarn. Dann verschwand der Lift in die Tiefe.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er plötzlich eine Bewegung. Auf dem abwärtigen Treppenabsatz standen die Wollmanns aus der Neunten. Konsterniert wirkend starrten sie zu ihm empor. »Keine Panik, Leute! Hier oben ist erst mal Sendpause!«, sagte er mit einer beruhigenden Handbewegung. »Wir kümmern uns um den Rest der Familie. Also besten Dank für eure Anteilnahme!«

Unterdessen hatte Lisa, sie trug jetzt einen Jogginganzug, die Nachbarin in ihren Arm geschlossen. »Komm, Isolde, wir gehen rein. Ich guck mir mal deinen Kopf an. Du blutest ja wie ’n Schwein!« Mit der freien Hand drängte sie die Gören vor sich her, in den Flur hinein. »Schließ bei uns ab, Theo, der Schlüssel steckt!«, sagte sie über die Schulter. »Und dann komm hier herein.«

Kappner folgte den Anweisungen seiner Frau. Daraufhin schaute er, ob die Wollmanns abgetaucht waren. Dafür ging eine halbe Treppe hinab.

Vom Flurfenster aus entdeckte er Balzer unten auf dem Parkplatz. Der warf soeben den Koffer in seinen »Dacia«, der neben Kappners »Wartburg« stand. Nach einem flüchtigen Blick nach oben schwang er sich in seinen Wagen und verschwand damit in der Dunkelheit.

Kopfschüttelnd stieg Kappner die Stufen empor und betrat die Nachbarwohnung. Bereits im Flur sah es aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Balzer hatte wahrlich alles durchwühlt, um die Koffer zu füllen. Von denen noch zwei neben der Küche standen.

Lisa verband soeben Isoldes Kopf, als Kappner das Wohnzimmer betrat.

In ihrer Spielecke hockten eng aneinander gekuschelt die beiden Mädchen. Auch hier worden die Schubladen und Schranktüren geöffnet.

Auf dem Fernseher lief die Tagesschau, der Ton kaum hörbar. So bekam Kappner gerade noch das Wort »Generalamnestie« mit.

»Sie will nicht zum Arzt!«, sagte Lisa an ihren Mann gewandt. »Es sind auch nur zwei kleine Platzwunden. Die hat sie sich dort an der Schrankecke geholt. Hab sie verpflastert. Für die Veilchen an beiden Augen kann sie sich nur mit Kühlung behelfen. Da muss das Arschgesicht ganz schön zugehauen haben!« Sie deutete mit dem Kopf zur Zimmertür. »Hol mal bitte einen kalten Waschlappen aus dem Bad!«

Dort stellte Kappner auf einen Blick fest, das alle Utensilien für den Mann auf der Konsole fehlten. Er kühlte einen bunten Waschfleck mit Wasser, das er lange laufen lassen musste.

Zurück im Wohnzimmer setzte er sich neben die Nachbarin und drückte ihr den kalten Lappen in die Hand. »Sag an, Isolde! Was war los bei euch? Wieso knallt dein Alter so durch und macht sich im Finsteren alleine vom Acker?«

Statt einer Antwort deutete sie, den Fleck ans rechte Auge gepresst, hinüber zu einem Schrankwandteil. »Lisa, bitte sei lieb. Dort drin stehen der Schnaps und auch die Gläser.«

Lisa erhob sich, holte eine Flasche »Goldkrone« und zwei Schnapsgläser aus dem Schrank. »Kannst gerne mit Theo einen trinken. Ich bleib dabei außen vor!«, sagte sie und füllte die Gläser.

Isolde stieß mit Kappner an. Sie trank und zog die Nase hoch. »Verdammt hat der zugehauen«, murmelte sie und verzog das Gesicht.

»Also los!«, bellte er. »Was für eine Schau hat dein Alter abgezogen? Oder willst du, dass wir die Polizei holen?«

Sie schüttelte den Kopf und stöhnte leise. »Nee, nee! Lass'‘ man. Die Vopos brauchen wir nicht. Ist halt ‘ne normale Familienangelegenheit!«

Lisa, die derweil die beiden Mädchen nebenan im Kinderzimmer auf ihre Betten gelegt hatte, kam wenig später zurück. »Hab‘ ich richtig gehört? Eine Familienangelegenheit? Also gut. Dann sag uns, was Sache ist. Oder sollen wir gleich wieder gehen?«

Isolde seufzte und hob abwehrend die Hände. »Nee, nee! Bitte bleibt hier. Ich durfte ja bisher mit keinem darüber quatschen.« Sie nahm dankbar das Taschentuch, das Lisa ihr reichte, und putzte sich die Nase. Daraufhin fing sie an, ihr Herz auszuschütten. »Schon vorn paar Monaten als unsere Leute in Ungarn und Österreich übern Zaun stiegen, begann er mich zu nerven. Wir müssten jetzt auch mitmachen! Heutzutage wäre es möglich, wo doch so viele abhauen! Sagte er. Ich aber sah immer diese Bilder vor mir. Ich meine die Unmengen Menschen mit den kleinen Kindern in Prag in der Botschaft! Nee hab ich zu ihm gesagt. Das tue ich unseren Mädels nicht an. Und wieso willst du weg? Hab ich gefragt. Hast den gut bezahlten Posten beim Magistrat, bist Genosse und Hausbuchführer! Wie passt das denn zusammen? Mit dem abhauen nach dem Westen?« Sie goss sich noch einen Schnaps ein und trank ihn in einem Zug. Kappners ablehnende Geste nahm sie mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. »Na ja. Kurze Zeit gab er Ruhe. Ich dachte schon, es wäre für ihn gegessen. Aber heute hatte er gehört, dass sie alle Leute über die CSSR rauslassen wollen. Wegen »Generalamnestie« oder wie das heißt. Da ist er nachmittags plötzlich früher heimgekommen und fing sofort an die Koffer zu packen. Auch für mich und die Kinder. »Wir fahren noch heute Abend! Keine Diskussion mehr!«, hat er gesagt. Ich hab‘ mich gesträubt, die Mädels in ihrem Zimmer eingeschlossen. Da begann er zu schreien und nach mir zu schlagen. Ich hab‘ zurückgebrüllt. Da verpasste er mir die Veilchen. So ging’s ’ne Weile hin und her. »Na gut, dann fahre ich eben alleine! Ich schick‘ dir ne Karte. Aus den Alpen!«, sagte er plötzlich ganz zynisch. Er schnappte sich seine Koffer und wollte zur Tür. Ich ihm hinterher. Bin bloß gegen den blöden Schrank geknallt. Und den Rest kennt Ihr ja. Da stand der Theo draußen in der Tür und mein Alter haute ab!«

Isolde nahm dankbar den dritten Schnaps, den Lisa ihr einschenkte, und kippte auch ihn auf Ex.

»Was können wir sonst noch für dich machen?«, fragte Kappner höflich.

Isolde zuckte mit den Schultern. »Nichts! Ich kann mich nur bei euch bedanken. Muss halt warten, ob der Balzer sich mal meldet. Wenn er‘s denn in seinen gelobten Westen schafft!« Sie reichte beiden die Hand und brachte sie zur Tür.

Zurück in ihren vier Wänden stieß Lisa hörbar den Atem aus. Sie deutete mit dem Daumen nach nebenan. »Heute kein Wort mehr darüber, Kappner!«

Er winkte ab. »Nee, danke! Ich hab’ genug anderes im Kopf. Wie ich es dir vorhin schon sagen wollte, bevor bei Isolde der Knatsch losging. Der Sonnabend ist zumindest für mich flöten gegangen. Dabei ist es eigentlich gar nicht mein Ding! Trotzdem muss ich morgen bei der Inventur mitmachen. Obwohl ich in dieser Scheiß-Betriebsküche nur als Koch bezahlt werde!« Zerknirscht schüttelte er den Kopf. »Irgendwie hat es wohl einer in der Betriebsleitung mitbekommen, dass ich davon auch ’ne Ahnung habe. Und nur weil sich zwei Kollegen angeblich über die CSSR in den Westen abgesetzt haben, greifen sie mich jetzt bei den Eiern!«

»So ’n Mist!«, maulte Lisa. »Da geht ja das ganze Wochenende flöten! Wollten wir eigentlich nicht in die Sternwarte fahren?« Plötzlich lächelte sie, ihre Augen blitzten. »Das, mit den Eiern, überlass mal besser mir!« Sie pflückte sich hastig den Jogginganzug vom Leibe. Darunter war sie nackt, trug nur die schwarzen, halterlosen Strümpfe. Dann legte sie den Kopf etwas schräg. »Ich bin zwar bissel verschwitzt wegen der ganzen Bambule. Doch ich hoffe, dass du mich auch so nimmst!«

»Weib! Ich liebe es, wenn du dich so gibst!«, rief Kappner freudestrahlend und zerrte sich die Klamotten vom Leibe.«

Schwerin (Anfang Januar 1990)

Der Anruf aus der Hauptabteilung erreichte Hauptmann Frank Bauerfeind am späten Nachmittag.

Oberst Führmann teilte ihm in knappen Worten mit, dass er am nächsten Tag zur Mittagszeit in Berlin anzutreten habe.

Erleichtert, weil die lange Wartezeit zu Ende war, legte Bauerfeind den Hörer auf.

Er ging nach nebenan ins Bad. Einem plötzlichen Drang nachgebend stellte er sich vors Toilettenbecken und urinierte. Er spülte. Während des Händewaschens betrachtete er sich im Spiegel mit dem grünen Plasterahmen.

Habe ich etwa zugenommen wegen des langen Herumgegammele? Diese Frage schoss ihm durch den Kopf, derweil er sich eingehend musterte. Er strich sich übers kurz geschnittene, dunkle Haar, kratzte das stoppelige Kinn. Nachdenklich betrachtete er die breiten Schultern, den kräftigen Nacken, der aus dem offenen Kragen ragte. Das Hemd spannte jedoch nur ein klein wenig überm Bauch. Eingeschränkter Alkoholgenuss und morgens etwas längere Gymnastik würden das Problem beseitigen.

Mit diesem Vorsatz kehrte er zurück ins Wohnzimmer, stellte sich dort ans Fenster. Die schwarzen, kahlen Straßenbäume streckten sich in den dunklen Januarhimmel. Am Rande der grauen, löchrigen Pflasterstraße standen einige Autos. Schummeriges, gelbliches Licht spendend beleuchtete linker Hand eine Straßenlaterne den alten »Moskwitsch« des Nachbarn.

Er setzte sich in den Sessel gegenüber dem ausgeschalteten Fernseher. Aus der Flasche, die auf dem Couchtisch stand, goss er einen Schnaps in das bunte Gläschen. Er trank und gab sich seinen Gedanken hin.

Zum Ende September ließ man ihn befehlsgemäß seinen Delegierungsvertrag mit dem BMK beenden. Seitdem saß er daheim in Schwerin in seiner Wohnung herum. Zur Untätigkeit verdammt wartete er auf einen Anruf aus dem Ministerium.

Die vergangenen drei Jahre hatte er bis zu seiner Rückdelegierung die »Aktualisierer« für den Bauabschnitt Ukraine eingearbeitet. Wobei er die letzten Monate nur noch routinemäßige Kontrollen ausführte.

In den langen Wochen, während er tatenlos in seiner Heimatstadt herumlungerte, bemerkte er unvermittelt bestimmte Dinge. Die um ihn herum passierten, ihn zunehmend beunruhigten, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Auch, weil er sie zuvor anscheinend nicht wahrnehmen wollte.

Jetzt jedoch nach seiner Rückkehr in die Heimat vermochte er nicht mehr länger negieren, was in der Republik vor sich ging. Das alles erfüllte ihn mit Besorgnis, zumal man sich vonseiten der HVA bedeckt hielt.

Die vergangenen fünf Jahre, die er vorrangig in der Ukraine verbrachte, verursachten persönliche Folgen. Er verfügte nicht mehr über alten Bekanntschaften oder gar Freunde. Der Versuch Frank Althaus, seinen früheren Mitstreiter aus der Bezirksstelle, telefonisch zu erreichen schlug ebenfalls fehl.

So verbrachte er die meisten Tage mit Lesen. Zumal sich das Fernsehen als höchst unerquicklich erwies. Auf dem Gerät, das er vor langer Zeit seiner Mutter schenkte, vermochte er nur die beiden DFF-Programme in Farbe zu sehen. Doch die Meldungen wurden hüben wie drüben zunehmend beängstigender. Unerklärliches schien sich anzubahnen.

Einmal die Woche kaufte er am nahe gelegenen Bahnhofkiosk eine Flasche »Nordhäuser«. Um sich mit der Hälfte ihres Inhaltes am Nachmittag zu betrinken. Zuvor kramte er ein altes Pornoheft aus einer verborgenen Lade, an dessen Herkunft er sich nicht mehr erinnern konnte. Indem er den Schnaps genoss, starrte er auf die bunten Abbildungen und masturbierte.

Seine Mutter, die nach dem Tode des Bruders vor drei Jahren immer mehr gesundheitlich abgebaut hatte, verstarb Anfang Achtundachtzig. Bis zu Letzt kam sie ebenso wie er selbst mit den Umständen nicht ins Reine, die zum Ableben von Marco führten.

Seitdem nutzte er jede Möglichkeit, um an Informationen über seinem Bruder zu gelangen. Was auch immer dessen Arbeit und sein damaliges Umfeld im Ural betraf, versuchte er zu eruieren. Doch so, wie er es hörte, hatte man Marcos ehemalige Brigade inzwischen aufgelöst. Die Kumpels wurden auf neue Trassenabschnitte verteilt oder beendeten ihre Verträge

Zudem verfügte er nicht mehr über direkte Kontakte zu den beiden anderen OibE, Bruhns und Schneider.

Denn nach dem Abschluss der Installationen auf den Baustellen kamen die gemeinsamen Dienstrapporte im Ministerium in Wegfall. Seitdem befahl man sie, jeden allein, zum Rapport nach Berlin.

Daher vermochte er auch nicht Kolja Bruhns befragen, wie er es ursprünglich plante. Der war, fortgesetzt, für den Bauabschnitt Ural zuständig. Somit besaß der wohl am ehesten die gesuchten Informationen.

Währenddessen Bauerfeind am Bildschirm Zeuge wurde wie die Mauer fiel, verspürte er tief in sich eine eigentümliche Leere.

Nun ist es also soweit, dachte er. Von jetzt an, nach dem Westen offen wie ein Scheunentor, kann die Republik nicht mehr auf die gleiche Art weiterexistieren. So, wie in den vergangenen vierzig Jahren wird es nicht funktionieren!

Doch auch in Anbetracht der Ungewissheit was kommen könnte, empfand er keinerlei Beklemmungen oder sogar Panik wie andere. Stattdessen gelangte er zu einer neuen Sicht auf die Dinge, die ihn selbst überraschte.

Jene Kräfte, die schon lange eine Veränderung im Lande forderten, zeigten sich anscheinend befähigt, das Heft in die Hand zu nehmen. Und nicht zuletzt tönten die Stimmen der Politiker aus der BRD unüberhörbar herüber. Damit zeichnete sich wohl bereits die veränderte Marschrichtung ab, der man jetzt folgen würde.

Er selbst hegte noch nie die allgemein verordneten Vorbehalte gegen den Westen. Auch, wenn das seinen dienstlichen Verpflichtungen strikt entgegen stand. Den politischen Überzeugungen, die man gemäß seiner Arbeit für das Ministerium von ihm erwartete, kam er nur nach außen hin nach.

Dem verpönten Kapitalismus hatte er jedoch den realen Sozialismus als Lebensraum stets vorgezogen.

Zu dieser Haltung bewogen ihn vor allen dessen offensichtliche und immer wieder bezeugte Vorzüge. Wie die soziale Absicherung, Arbeit für alle und die unermüdlich bekundete Friedensliebe in der DDR.

Dessen ungeachtet hatte er sich, während der knapp zwei Jahre die er sich in Frankreich im Einsatz befunden hatte, im Kapitalismus ausgesprochen wohlgefühlt. War auch die Gefahr der Entdeckung dauernd gegenwärtig, so entlohnten dafür gewisse Freiheiten.

Denn nicht nur auf Paris beschränkte sich damals sein Wirkungsfeld. Seine Zielpersonen kontaktierte er zudem in Lyon, in Orleans und in Chamonix. Dabei vermittelte ihm diese Mission genügend Erfahrungen, wie man im kapitalistischen Frankreich gut zu leben vermochte.

Am vergangenen Weihnachtsabend hatte er allein in der Wohnung vor dem alten Fernseher gehockt. Missmutig verfolgte er das westlich aufgemotzte Programm, gönnte sich nur einen Glühwein. Zu Silvester ging er bereits eine Stunde vor Mitternacht ins Bett.

Mit Renate traf er sich nach seiner Rückkehr aus der Ukraine Anfang Oktober nur einmal. Obwohl er sich auf sie freute, verbrachten sie nur eine gemeinsame Nacht, die für beide Seiten zudem recht unbefriedigend endete. Sie gaben sich redliche Mühe miteinander. Ihre Gedanken kreisten jedoch um wichtigere Dinge, als sich dem anderen völlig hinzugeben.

Gleich nach dem Mauerfall verschwand Renate sofort in Richtung Westen. Bisher kehrte sie noch nicht zurück.

Er nutzte die freie Zeit und fuhr zum Jahresende über die offene Grenze nach Hamburg. Nur, um sich mal in der Hafenstadt umzusehen. Dabei vermied er sogar, etwas vom Begrüßungsgeld auszugeben. Das tat er nicht etwa aus Geiz. Er wusste einfach nicht, wofür er das rare Westgeld aus dem Fenster werfen sollte.

Jetzt schrieb man schon das Jahr Neunzig und heute kam der erwartete Anruf. Aus den knappen Worten von Oberst Führmann schloss er, dass man ihn mit einer wichtigen Aufgabe betrauen wollte. Auch mit einer längeren Abwesenheit von Schwerin wäre zu rechnen.

Der Hals hatte sich ihm zugeschnürt, als er den Hörer nach seiner Bestätigung auflegte.

Was soll ich tun? Wie verhalte ich mich jetzt? Diese Frage spukte ihm zuvor bereits mehrfach durch den Kopf. Vor allem, wenn er im Fernsehen die schockierenden Berichte über die umsturzähnlichen Veränderungen im Lande betrachtete, drängte sie sich ihm auf. Demzufolge schien es ihm, dass die politische Lage bald noch chaotischer werden würde. Nicht nur, dass die Mauer fiel. Man trug sie in scheinbar hektischer Eile vielerorts schon ab.

Neue Regierungen kamen und gingen. Die gesellschaftlichen Organisationen – einfach aufgelöst. Selbst das Ministerium blieb davon nicht verschont! Die Umwandlung in ein sogenanntes »Amt für Nationale Sicherheit« hatte man bereits vorgenommen. Damit gab es, weil man diesen Dienst inzwischen wieder schrittweise zur Gänze abschaffen musste, das »Ministerium« im Grunde genommen gar nicht mehr.

Die Frage, wie lange die Zentrale im Gebäude in der Normannenstraße in Berlin überhaupt noch bestünde, schwebte unbeantwortet im Raum. Die meisten Bezirksverwaltungen in der Republik wurden ohnehin bereits erstürmt oder chaotisch aufgelöst.

In Anbetracht dessen lag der Gedanke an das Ende nahe. Nach den dramatischen Veränderungen in den letzten Wochen ging alles anscheinend in Richtung Selbstauflösung.

Er raufte sich die Haare. Dann suchte er sich zu beruhigen, goss noch einen Korn ins Glas.

Jetzt musste er die Entscheidung treffen! Seine kindisch anmutende Hoffnung, dass man ihn im Ministerium unter Umständen vergessen habe, galt mit dem Telefonat als hinfällig. Aber, wenn er nicht auf den Ruf aus Berlin wie erwartet reagierte, bedeutete das – Fahnenflucht!

Verdammt, diese beschissene Verpflichtung! Den Eid hatte er damals voller Überzeugung geleistet. In der Gewissheit den Guten anzugehören. Doch da schien er wohl einem Trugschluss unterlegen zu sein.

Zumindest ließ ihn das ein Zwiespalt vermuten, in den er in letzter Zeit zunehmend geraten war.

Beim Rückblick auf zum Teil unsägliche Dinge, die in den vergangenen Jahren auch durch sein Mittun geschehen waren, fühlte er zunehmende Skrupel. Und stellte sich die Integrität des Dienstes dadurch nicht selbst infrage?

Eine Flucht nach dem Westen, als Alternative zur Rückkehr nach Berlin? Diese Frage schwärte voller Ungewissheiten in ihm. Er kannte die Bundesrepublik nicht, käme als Bettler. Nur geschätzte dreitausend Mark lagen auf seinem Sparbuch. Nicht viel, für einen Zuwanderer. Zudem mit seiner Vergangenheit!

Ungeachtet seiner Zweifel packte Bauerfeind in einem Akt verzweifelter Entschlossenheit am Abend das »kleine Marschgepäck«. Neben einigen Kleidungsstücken und dem Waschzeug stopfte er in den Campingbeutel alle seine Papiere.

Auch die aus dem geheimen Versteck.

Die Ungewissheit, wann und ob er überhaupt hierher zurückkehren würde, erschien ihm zu groß!

Am darauf folgenden Morgen, als er aufbrach, herrschte draußen noch Dunkelheit. Zuvor löschte er im Kachelofen die Glut und drehte den Gashahn zu. Nach einem letzten, prüfenden Rundgang durch die Wohnung schloss er die Tür ab.

Ein eisiger Nieselregen fiel. Ohne den Blick zu wenden, marschierte er über schlecht beleuchtete Fußwege zum Bahnhof.

Berlin, Hauptstadt der DDR (6. Januar 1990)

Die Stadt präsentierte sich kalt und schneefrei. Es regnete nicht, wie zuvor noch in Schwerin. Gelegentlich drängte sich die Sonne für einen kurzen Augenblick durch die Wolkendecke.

In der Halle des Lichtenberger Bahnhofs schaute sich Frank Bauerfeind aufmerksam um. Plötzlich entdeckte er einen alten Bekannten.

Kolja Bruhns, der »OibE für den Ural«, stand inmitten von umherhastenden Reisenden. Über der Schulter trug er einen Campingbeutel. Soeben blickte er nach oben zu der großen Anzeigetafel.

Bruhns hatte sich nicht verändert. Stämmig, das dunkle Haar kurz geschnitten sah er aus wie eh und je. Doch in der Menge wirkte er ein bisschen verloren.

Vorsichtig trat Bauerfeind von hinten an ihn heran. »Wartest du zufälligerweise auf mich?«, raunte er und tippte ihm auf den breiten Rücken.

Bruhns fuhr herum, überrascht riss er die Augen auf. Nach kurzem Zögern drückte er Bauerfeinds Hand. »Haben sie dich auch hergeholt?«, fragte er leise und schaute dabei rasch in die Runde.

Sein Gegenüber nickte. »Weißt du, was wir hier machen sollen? Der Oberst klang am Telefon so – konspirativ! «, entgegnete er gedämpft.

Bruhns hob kurz die Schultern, schüttelte daraufhin den Kopf. »Ich hab’ keine Ahnung, worum es geht!«, sagte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr. »Aber uns bleibt noch Zeit. Los! Wir setzen uns nach oben, in diese »Tagesbar«. Da können wir reden«

Sie stiegen über die breite Treppe hoch zur Empore und gingen durch die linker Hand gelegene Eingangstür in die Bar. Dort platzierten sie sich selbst an einen der Tische am Ende der langen Fensterfront. Von hier aus konnte man fast die ganze Bahnhofshalle überblicken.

Sie ließen sich in die Sessel fallen. Aufmerksam schauten sie sich im Gastraum um. Nur eine Handvoll Gäste hockten, in der Nähe des Bartresens, in den schwelgenden Polstern.

»Derzeit scheint jeder sein Geld krampfhaft festzuhalten. Um möglichst wenig davon auszugeben«, sagte Bruhns leise.

»Was bei den Preisen, die sie von uns für die vielen, neuen Waren aus dem Westen kassieren wollen auch kein Wunder ist!« Bauerfeind klang knurrig, wobei er durch die Glasfront in die Halle hinabdeutete.

Dort auf den freien Flächen sowie an den Eingängen herrschte Gedränge. Zumeist schwarzhaarige Händler hatten auf Tapeziertischen ihre Artikel ausgebreitet.

Auf sich durchbiegenden Sperrholzplatten bot man bunte, illustrierte Zeitschriften und Tageszeitungen aus dem Westen an. Ebenso Bananen, Orangen. Auch anderes Obst, das man bisher im Osten nur selten oder noch gar nicht kaufen konnte.

Bruhns schüttelte den Kopf und verzog angewidert das Gesicht. »Mann! Wenn ich diesen bunten Schund sehe, den sie uns jetzt überall andrehen wollen, wird mir schlecht! Wo soll das denn nur hinführen?« Er brannte sich eine Zigarette an, nachdem Bauerfeind die ihm entgegen gestreckte Schachtel dankend abgelehnt hatte. »Ich durfte seit Oktober letzten Jahres daheim hocken«, sagte er. »Nur herumgesessen habe ich. Und mir angeschaut, wie sie uns nach und nach platt machen!« Harsch winkte er ab, pustete den Rauch zur Seite. »Doch jetzt mal zu dir, Frank! Wo hast du bis heute gesteckt?«

Bauerfeind setzte zu einer Antwort an.

Da jedoch schlurfte eine Serviererin, mittleren Alters, an den Tisch heran. Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck fragte sie nach ihren Wünschen. Dabei fingerte sie einen Kellnerblock aus ihrer weinroten, offenen Weste, aus der eine üppig gefüllte, weiße Bluse quoll.

»Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee«, sagte Bauerfeind im verbindlichen Tonfall.

Ihr Blick irrte hinab in die Bahnhofshalle. »Kännchen is’ nicht. Gibt’s nicht mehr. War einmal. Entweder ’n Pott oder ’ne Tasse!«, lautete die flapsige Antwort.

Bauerfeind entschied sich kopfschüttelnd für den Pott. Bruhns schloss sich dem an.

»Seit Ende September habe ich daheim herumgesessen, genau wie du. Durfte auf den Anruf warten«, nahm Bauerfeind das Gespräch erneut auf, nachdem sich die Servierkraft hinwegbewegt hatte. »Was glaubst du denn, was sie mit uns vorhaben? Jetzt, wo nacheinander die Bezirksverwaltungen ausgeräumt wurden? Ich jedenfalls sehe für diese »Zentrale« kaum ’ne Chancen für ‘n Weiterbestehen. Du etwa?«

Bruhns schüttelte nachdenklich den Kopf. Er drückte die Kippe in einem Aschbecher aus, der einen bunten Werbeaufdruck trug. »Ich vermute mal, wir sollen dort bei irgendwas helfen. Wohl, um zu retten, was zu retten ist. Aber warten wir’s ab. Schließlich befinden wir uns immer noch im aktiven Dienst! Darum ist dein Pessimismus eventuell fehl am Platz!«

Weil die Serviererin soeben mit dem Kaffee an den Tisch zurückkam, wurden die Männer für einen Moment abgelenkt. Wortlos servierte sie die Bestellung, um sich daraufhin langsam wieder in Richtung Büfett zu entfernen.

Bruhns starrte lächelnd auf ihr eindrucksvolles Hinterteil und die strammen Waden.

Bauerfeind, der dies bemerkte, hob die Brauen. »Stehst du auf den Typ Frau? Dicke Titten und breiten Arsch?«

Ein schiefes Grinsen überflog Bruhns Gesicht. Dann schnupperte er an seinem dampfenden Pott. »Der Kaffee ist auch schon aus dem Westen. »Mocca-Fix« ist das hier nicht!«, knurrte er.

Bauerfeind nahm eine bunte, gelackte Angebotskarte vom Tisch. Auf ihr prangte groß der Firmenname eines Bremer Kaffeerösters. Mit der Karte deutete er auf den gleichen Schriftzug, der gleichermaßen die Kaffeepötte zierte. »Die Westfirmen können sich offensichtlich ratzfatz bei uns einkaufen. Ich nehme an, das betrifft nicht nur die Gastronomie! Wird wohl bald mit allen anderen Dingen auch so sein.«

Schweigend tranken sie ihren Kaffee.

Bis sich Bauerfeind laut räusperte. Einem aufblitzenden Gedanken folgend tippte er sein Gegenüber mit dem Finger an. »Sag’ mal, Kolja! Wir konnten uns ja seit Sechsundachtzig nicht mehr persönlich treffen. Wie war das noch? Bist du damals nicht auch in Prokowski im Einsatz gewesen?«

Bruhns warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Nach kurzem Zögern nickte er zustimmend. »Ja, – das war ich. Warum fragst du?«

Jetzt nutzte Bauerfeind die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. »Erinnerst du dich eventuell an einen Vorgang, der um die Faschingszeit Sechsundachtzig herum passierte? Ich meine, als in eurem Wohnlager ein junger Maschinist vom –Linearen Teil– zu Tode gekommen ist?« Bruhns riss überrascht die Augen auf. »Fasching? Im Jahre Sechsundachtzig? Mann, oh Mann, – da musste ich mich mit anderen Sachen beschäftigen! Das weiß ich noch. Ein Toter beim LT sagst du?« Er schüttelte den Kopf. Einen langen Augenblick schien er nachzudenken, wobei er hinab in die Bahnhofshalle starrte. Bauerfeind wollte ihn soeben erneut ansprechen, als Bruhns aufschaute. »LT? Ja, mir fällt ’s wieder ein. Da hatte sich ein junger Kollege erhängt. Dass jedenfalls galt als die offizielle Version. Ich kann’ mich noch erinnern, weil es an Fasching passierte.« Einen Moment stockte er. »Aber warum interessiert dich das?«, fragte er, wobei er den Kopf etwas zur Seite neigte. Ein misstrauischer Unterton schwang in seiner Stimme mit. Seine Finger zitterten leicht, als er die Kippe im Ascher austupfte.

Bauerfeind, der dies nicht bemerkte, legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm. Er drückte heftig zu, sein Gesicht rötete sich.

Bruhns wich zurück, soweit es die Sessellehne zuließ. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt starrte er sein Gegenüber an.

»Weil der, der sich damals erhängte, mein kleiner Bruder gewesen ist! «, zischte Bauerfeind.

Bruhns registriert erleichtert, dass sich der Griff lockerte und die Hand von seinem Arm glitt.

Beide schwiegen eine Weile. Aus der Halle drangen halblaut die Zugansagen herein. Von oben, von der Decke her, ertönte leise Musik.

Schließlich stieß Bruhns hörbar den Atem aus, fuhr sich mit den Fingern durchs kurze Haar. »Mann, so eine Scheiße aber auch! Das – war dein Bruder?«

Bauerfeind nickte bedeutungsvoll und beugte sich zu ihm hin. »Los Kolja! Erzähl’ mir, was du darüber weißt!«

Bruhns nahm hastig einen Schluck Kaffee, brannte sich danach eine weitere »Semper« an. »Ich weiß eigentlich davon nicht viel. Weil für mich, entschuldige bitte, zu dieser Zeit das alles nicht von Belang gewesen ist «, entgegnete er und zuckte die Schultern. »Mich beschäftigten damals ganz andere Dinge!« Er zog an der Zigarette, blies den Rauch zur Decke. »Also gut. Man sagte, der Junge hätte sich zuerst besoffen und späterhin aufgehängt. Angeblich aus Heimweh. Zum Erhängen nahm er wohl einen Trassenschal. Einen von diesen blauen Wollschals meine ich. Die kennst du doch?«

Bauerfeind schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein, in der Ukraine gab’s die nicht. Aber rede schon! Was weißt du ansonsten noch von der Sache?«

Bruhns pustete wieder den Rauch zur Decke und fixierte daraufhin sein Gegenüber. »Nun ja. Im Wohnlager kursierte damals seit längerer Zeit irgendeine Scheißhausparole. Dass der Chef von der DSF auch eine Aktie dran gehabt hätte. Der wäre wohl schwul gewesen. Hat sich angeblich an den Jungen rangemacht!« Er hob mit einer abwehrenden Geste die Hand, weil Bauerfeind die Augen überrascht aufriss. »Aber, wie gesagt, das waren alles nur Gerüchte. Die konnte oder wollte keiner belegen. Obwohl ich noch eines weiß! Der Fettsack von der DSF verschwand ein paar Wochen später vom Bauabschnitt. Quasi über Nacht! Kurz danach ist ein neuer eingereist. Mit Ehefrau. Der hat von da ab den DSF-Dödel gegeben.« Er trank von seinem Kaffee. Nach einem raschen Blick auf die anderen Gäste sprach er leise weiter. »Monate nach dieser Sache hab‘ ich mal mit dem Sicherheitsinspektor von der Baustelle, dem Frank Faber, einen zur Brust genommen. Dabei kam er von sich aus auf dieses Thema zu sprechen. Der Faber hatte damals angeblich zusammen mit dem Doc die Tatortfotos ausgewertet. Die soll in seinem Auftrag der Chef von den Versorgern geknipst und entwickelt haben. Beim genaueren Hinsehen entdeckten sie zufällig, dass der Junge wohl auch einen Schlag ins Genick bekam. Faber vermutete daraufhin, dass es mit dem Schal nur eine Art Ablenkung gewesen wäre. Das wurde bloß dahin gehend nie offiziell untersucht, sagte er. Danach hätte sich ohnehin keiner mehr dafür interessiert. Da passierten ganz andere Sachen, die alle viel stärker beschäftigten. Übrigens fällt mir da noch etwas ein. Der Doktor Langner, der Baustellenarzt, verschwand kurz darauf. Angeblich haute er im Urlaub nach dem Westen ab, munkelte man. Aber mehr weiß ich auch nicht, Frank. Da bin ich mir sicher. Tut mir leid um deinen Bruder.«

Bauerfeind winkte ab. »Danke! Kannst du dich an den Namen von dem Macker von der DSF erinnern? Und ist es möglich, dass der meinen Bruder ...?«

Bruhns nickte. »Ja, das wäre denkbar. Habe später so was auch von anderer Seite gehört. Und der Name? Ja, das war ’ne echt blöde Sache. – Knäblein – hieß der. Entschuldige bitte. Doch das stimmt wirklich. War so ein dicker, schwammiger Typ.«

Schweigend vor sich hinstarrend trank Bauerfeind seinen Kaffee in kleinen Schlucken aus. Alles was sein Gegenüber ihm soeben berichtete bestätigte seine Vermutung.

Marco konnte sich nicht selbst erhängt haben!

Ein angeblich möglicher Schlag in den Nacken? Verdammt! Wurde da etwas vertuscht? Die Sache stank gewaltig nach einem – Mord!

Von wegen er hätte sich betrunken! Marco rührte niemals einen Tropfen Alkohol an! Auch nicht an der Trasse!

Rasch stieg vor Bauerfeinds inneren Auge eine Erinnerung auf.

Es begab sich bei einer familiären Zusammenkunft daheim, als der Kleine zum ersten Mal aus dem Ural in den Urlaub kam. Da beschwerte er sich darüber, dass man ihn anfangs in seiner Brigade wegen seiner Abstinenz schräg anschaute, ja sogar verhöhnte!

Doch letztendlich hätte man sich daran gewöhnt, dass er jederzeit nüchtern blieb. Während sich seine Kollegen stets hackedicht abfüllten, sorgte er für Ordnung, schlichtete Streit.

Bauerfeind zeigte sich immer fest in der Überzeugung, dass Marco damals, als es passierte, auf keinen Fall betrunken war.

Und die Sache mit dem Schwul sein?

Nun, das stand auf einem anderen Blatt! Leider. Denn hierbei schien so etwas, wie eine Art von Veranlagung, vonseiten ihres Vaters bei den Kleinen durchgeschlagen zu sein.

Schon, als Marco sich in der Pubertät befand, erkannte er dessen Wesenszug. Er versuchte, ihm zu helfen. Das tat er, indem er dem Jungen ans Herz legte, seine Gefühle und Neigung nicht zu unterdrücken. Gib dich so, wie du bist, forderte er ihn auf.

Aber er bekam dessen ungeachtet mit, dass sein Bruder in der Öffentlichkeit immer betont männlich auftreten wollte. Niemals bekannte er sich zu seinem Schwul sein. Stattdessen kaschierte er es.

Daraus resultierte wohl auch Marcos Entschluss, an die Trasse zu gehen. Doch damit nicht genug! Letztlich verpflichtete sich der Junge zur angeblich härtesten Truppe, dem LT!

Doch aus Bruhns Schilderungen heraus ließ sich auf vieles schließen.

Auf irgendeine Weise geriet Marco anscheinend in die Finger dieses homosexuellen Funktionärs von der DSF. Woraufhin er unter seltsamen Umständen zu Tode kam.

Und das alles soll ein Selbstmord gewesen sein?

Bauerfeind zwang sich zur Ruhe.

Denn jetzt wusste er einiges mehr, was ihm weiterhelfen würde. Doch darum vermochte er sich erst später kümmern. Heute wollte er sich nur noch die Namen notieren, die ihm Bruhns soeben genannt hatte. Vielleicht kam ihnen eines Tages eine Bedeutung zu!

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen.

»Geht’s dir gut, ist alles in Ordnung?«, fragte Bruhns argwöhnisch. Dabei warf er einen Blick auf seine Uhr.

Bauerfeind schob den Kaffeepott beiseite und nickte beherzt. »Ja! Mir geht nur nach dem, was du mir erzählt hast, einiges durch den Kopf. «

Bruhns winkte der Serviererin zu.

Sie zahlten, verließen die Tagesbar und strebten der U-Bahn zu. Jetzt galt es erst einmal abzuklären, was es mit dem Ruf ins Ministerium auf sich hatte.

Ost-Berlin, Zentrale des »Amtes für Nationale Sicherheit« (6.Januar 1990)

Sie nahmen die U-Bahn in Richtung »Alexanderplatz«.

Schon nach einer Station am Bahnhof »Magdalenenstraße« stiegen sie aus dem Zug. Sie hasteten die Stufen empor, überquerten die Frankfurter Allee, bogen in die Ruschestraße ein. Für sie unerwartet, ballte sich hier eine Menschenmenge. Viele hielten Transparente hoch, einige riefen laut irgendwelche Parolen.

Unbeirrt davon drängten sie sich zwischen den Demonstranten hindurch. Stur strebten sie auf das Gebäude des früheren Ministeriums zu. In dem sich jetzt laut der offiziellen Bezeichnung die Zentrale dieses neuen »Amtes für Nationale Sicherheit« befand. So zumindest belegte es ein provisorisch anmutendes Schild neben der Hofeinfahrt.

Aber auch davor standen eine Vielzahl Leute in mehreren Grüppchen herum. Auf mitgeführten Pappschildern gaben sie sich als Mitglieder von Bürgerkomitees zu erkennen.

Bruhns und Bauerfeind entschlossen sich, dessen ungeachtet gleich von hier aus das Gebäude zu betreten.

Um den riesigen Plattenbau, von dem aus das Ministerium über viele Jahre lang die Macht im Lande ausgeübt hatte, wehte ein eisiger Wind.

Als sie sich durch die eng zusammenstehenden Demonstranten schoben, wurden sie von einigen dieser Leuten, bedrängt.

»Wohin wollt ihr Typen? Gehört ihr auch zu den Verbrechern da drin? Was habt Ihr denn dort noch zu suchen? «, rief man ihnen zu.

Wortlos drängelten sie sich durch die grimmig dreinschauenden Grüppchen voran. Doch letztendlich erreichten sie den Eingang. Dort standen mehrere Posten mit Maschinenpistolen. Sie trugen Uniformen der NVA.

Bruhns und Bauerfeind atmeten auf. Augenscheinlich sicherten immer noch die Genossen vom Wachregiment das Objekt.

Nachdem sie ihre Dienstausweise vorgewiesen hatten wurden sie durchgelassen und durften das Haus betreten.

In der zerbröckelnden Zentrale der Macht

Im Foyer flimmerte ein TV-Gerät. Den Ton hatte man abgestellt. Zwei nervös wirkende, ständig rauchende Unteroffiziere saßen hinter dem breiten Tresen. Angespannt beobachteten sie mehrere klobige Kontrollmonitore: Dabei warfen sie prüfende Blicke auf das Kommen und Gehen.

Eine Vielzahl Männer und einige Frauen in Zivil hasteten die langen Flure entlang. Oder sie betraten und verließen das Gebäude mit gesenkten Köpfen.

Vor den Türen der Fahrstühle warteten Bauerfeind und Bruhns eine Weile erfolglos. Dann traten sie den Weg in den fünften Stock über das Treppenhaus an.

Im gesamten Objekt herrschte eine ungewohnte, chaotisch anmutende Hektik. Die noch im Haus verbliebenen Mitarbeiter der Zentrale wirkten gehetzt. Vielen sah man an, dass sie in den letzten Tagen wenig Schlaf gefunden hatten.

Fast alle Türen standen offen. In den meisten Büros ratterten Reißwölfe und andere Aktenvernichter. Ebenso wie auf den Fluren davor.

In den Gängen und auch auf den Etagenfoyers vor den Fahrstuhltüren stapelten sich Papiersäcke. Prall gefüllt mit feinen Papierstreifen oder Papierfetzen lagen sie zuhauf.

In kleinen Gruppen standen die Mitarbeiter auf den Treppenpodesten beisammen. Stapelweise zerrissen sie Akten und andere Papiere mit den bloßen Händen.

Eine noch nie da gewesene Vernichtungsaktion ging hier offensichtlich vonstatten.

Bauerfeind schüttelte überrascht den Kopf, stieß Bruhns mit dem Ellbogen an. »Glaubst du, dass wir auf diese Weise auch alles das verschwinden lassen können, was wir irgendwann mal – gemacht– haben?«

Bruhns seufzte vernehmbar auf und hob mahnend den Zeigefinger. »Gnade uns Gott oder der Genosse Lenin, wenn uns das nicht gelingen sollte!«

In der vierten Etage erkannten sie letztlich auch den Grund dafür, weshalb die Fahrstühle nicht zur Verfügung standen.

Vollgestopft mit den prallen Papiersäcken benutzte man sie wie Lastenaufzüge hinab zum Transport in den Keller.

Endlich erreichten sie das fünfte Obergeschoss. Sie gingen den Gang entlang zu Führmanns Büro.

Da begegnet ihnen ein massiger, kahlköpfiger Mann in Zivil. Im Vorbeigehen grüßte er sie mit einem flüchtigen Kopfnicken. Wortlos lief er weiter und verschwand in einem der Büros.

»Kennst du den?«, fragte Bruhns.

Bauerfeind verhielt den Schritt und antwortete ihm, nachdem er einen kurzen Augenblick überlegt hatte. »Das war doch dieser Oberst. Der damals vor drei Jahren bei der Abschlussberatung der »Flamme« mit dabei saß!«

Bruhns, der ebenfalls stehen geblieben war, schaute ihn einen Moment lang mit fragend gehobenen Brauen an. Daraufhin starrte er auf die Bürotür hinter der soeben der Kahlköpfige verschwunden war. »Ja. Stimmt! Du hast recht! Das ist der fiese Typ, mit dem Führmann damals so seine Probleme hatte. Auch wegen der markigen Danksagung zum Schluss!«

Bauerfeind schüttelt verwundert den Kopf. »Das ist mir seinerzeit gar nicht so aufgefallen. – Aber gut. Wie heißt der Kerl bloß? Na ja, Oberst als Rang ist schon korrekt. Doch wie weiter?«

Schlagartig fiel Bruhns der Name des Glatzköpfigen ein. »Römer. Oberst Römer schimpft sich diese Pfeife!«

Sie gingen den Rest des Ganges hinunter. Dabei wichen sie mehrmals Mitarbeitern in Zivil aus. Die eilten mit Akten beladen hektisch hin und her.

Schließlich erreichten sie Führmanns Büro, das sie noch von früher her kannten. Doch die Tafel neben der Tür war verschwunden. Nur die beiden Schraubenlöcher zeugten noch von ihr.

Bruhns klopfte an, woraufhin beide etwas zögerlich den Raum betraten.

Oberst Führmann lehnte am Fenster. Wo er mit zwei uniformierten Offizieren halblaut einen erregten Disput führte.

Sein schwarzes Haar, das sonst stets korrekt gescheitelt war, zeigte sich ungekämmt. Auch darüber hinaus vermittelte der Offizier einen zerknitterten, übernächtigen Eindruck. Die Hemdsärmel trug er aufgekrempelt, der schmuddelige Kragen stand offen.

Abwartend blieben Bauerfeind und Bruhns neben der Tür stehen. Sie hielten etwas Abstand von der Wand, schwiegen und schauten sich um. Überall im Raum stapelten sich Aktenberge auf dem Fußboden. Ein blass gesichtiger, sehr junger Fähnrich bediente einen Aktenvernichter. Unter dem ein großer Papiersack hing.

Plötzlich warf der Oberst den Ankömmlingen einen kurzen Blick zu, wobei er grüßend die Hand hob. »Einen Moment noch, Genossen!«, krächzte er. »Ich bin hier gleich fertig.«

Bruhns und Bauerfeind stellten ihr Gepäck ab. Die Arme vor der Brust verschränkt warteten sie ab.

Von Führmanns Worten vermochten sie kaum etwas zu verstehen. Der Aktenvernichter gab ständig laute, jaulende Geräusche von sich.

Nach einigen Minuten schüttelte der Oberst seinen Gesprächspartnern die Hände. Woraufhin die Uniformierten ohne Bruhns und Bauerfeind auch nur eines Blickes zu würdigen hastig den Raum verließen.

Mit einem gequält wirkendem Lächeln kam Führmann auf die beiden zu. Sie nahmen umgehend so etwas an wie eine stramme Haltung.

»Vergesst das!«, bellte der Oberst und reichte ihnen schlaff die Linke. Mit einer Kopfbewegung forderte er sie zum Mitkommen auf. Er führte sie nur ein Zimmer weiter. Auch hier herrschte ein ähnliches Chaos wie im vorderen Raum. Führmann schob sich hinter einen Schreibtisch, wo er mit einem Aufstöhnen in den dort stehenden Drehsessel fiel. Mit einer laschen Handbewegung bedeutete er den Ankömmlingen auf einen der herumstehenden Stühle Platz zu nehmen.

Aus der Nähe betrachtet wirkte der Oberst erschöpft. Er fuhr sich mit den Händen durchs fettige Haar, brannte sich fahrig eine Zigarette an.

Ihren aufmerksamen Blicken entging nicht, dass Führmanns Finger dabei leicht zitterten.

Der Oberst beugte sich nach vorn und legte die Unterarme auf den Schreibtisch. Er sah den beiden einen Augenblick lang schweigend in die Augen, grinste schief. Daraufhin warf er einen raschen Blick auf seine Armbanduhr. »Gut so, Genossen! Pünktlich und zuverlässig wie immer!« Mit einer abwehrenden Geste hob er die Hand. »Da braucht Ihr gar nicht so erstaunt zu gucken! Heutzutage lassen eben das einige Herrschaften schon spürbar schleifen. Insbesondere jene Kämpfer, die ihr Maul stets weit aufgerissen haben, kennen die gebotene Disziplin anscheinend nicht mehr. Und das in dieser prekären Lage! Nun, ihr habt ja gesehen, was im Hause los ist.« Er zog an der Zigarette, blies den Rauch zur Seite und hustete. »Ich musste euch leider hierher in die Zentrale bitten, da unser schönes Objekt in Köpenick schon vor zwei Wochen enttarnt wurde. Das sogenannte Bürgerkomitee sitzt sich jetzt da drin den Arsch breit.« Er griff nach einer herumstehenden Wasserflasche, trank gierig. »Mann, das kann einem den Rest geben! Der Hals ist furztrocken von dem ganzen Aktenstaub!«, sagte er. Nachdem er die Flasche auf den Tisch gestellt hatte, rülpste der Oberst vernehmlich. Daraufhin winkte er ab. »T ’schuldigung! Aber jetzt zur Sache. Ich gehe mal davon aus, Genossen, dass ihr nicht gleich morgen an den heimischen Herd zurückkehren müsst?« Er stieß ein kurzes Lachen aus, da Bauerfeind und Bruhns mit den Köpfen schüttelten. »Ich vergattere euch jetzt zur absoluten Verschwiegenheit! Und das unterschreibt ihr mir nachher auch noch ordnungsgemäß.« Er brannte sich eine neue Zigarette an der verglimmenden Kippe an. »Also, Genossen! Unsere gemeinsame, erfolgreiche Arbeit der letzten Jahre kann und darf selbstredend nicht für die Katz’ gewesen sein. Besonders nicht unter diesen derzeit vor sich gehenden, schwachsinnigen Veränderungen! Auch, wenn es da ein paar Altgediente gab, die sich das so gewünscht hatten!« Er unterbrach sich, zog grinsend an der Zigarette. »Das haben wir aber bereits geklärt! Sauber, rasch und endgültig! Die Flamme ist aktiv und das muss für viele Jahre so bleiben. Doch leider wissen wir heute nicht, was auf uns in nächster Zeit noch alles zukommt. Auch nicht ob diese Scheiße, die hier im Lande soeben passiert, irgendwelche konkrete Auswirkungen auf die Sowjetunion haben wird. Und wenn ja, – dann welche?« Führmann stieß die qualmende Kippe in den übervollen Aschbecher. »Keiner weiß das! Also kurz gesagt. Das Projekt bleibt aktiv, damit wir gegebenenfalls immer eine starke Waffe in der Hand halten. Egal, was da noch kommt und wer für die Zukunft über das viele, schöne Gas in Sibirien verfügt. Wir sind und wir bleiben gewappnet! Verstanden?«

Bruhns und Bauerfeind nickten atemlos. Doch in ihren Köpfen hallte die gleiche Frage. »Wie soll das denn funktionieren?« In Führmanns Gesicht sahen sie zudem ein falsch wirkendes Lächeln und kalt blitzende Augen.

Der Oberst erhob sich und ging hinüber zur Stirnseite des Raumes. Dabei griff er sich in den Schritt, um sich dort heftig zu kratzen. »Scheiße! Ich müsste wohl wieder mal duschen! «, knurrte er kopfschüttelnd. Mit dem ausgestreckten Arm deutete er daraufhin auf einen Stadtplan, der vor ihm an der Wand hing. »Wir haben in Westberlin einige komfortable Geschäftsräume gemietet«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Selbstredend in sehr guter Geschäftslage und das schon vor Wochen. Mann oh Mann! Die Kaution war nicht von schlechten Eltern!« Der Oberst hustete, trank nochmals vom Wasser, bevor er weitersprach. »Gleichzeitig ging mit einem Notar die Gründung und Anmeldung einer Firma über die Bühne.« Führmann schien sich für einen Augenblick an der Wirkung seiner Worte zu weiden.

Die beiden Hauptleute schauten dermaßen überrascht, dass er ein breites Grinsen sehen ließ.

»Ja, das lief alles nach Plan. Jetzt besitzen wir einen hübschen, kleinen Betrieb, der sich mit – technischen Dienstleistungen im Bereich des Erdgasleitungsbaus – in der Sowjetunion beschäftigt. Klingt ein bisschen umständlich. Aber diese Firma bekam schon einen Eintrag ins Handelsregister am Amtsgericht in Charlottenburg. Alles im Sinne der Gesetze, die in der Bundesrepublik Deutschland und damit auch in Westberlin gelten. Ganz legal und absolut sauber!« Der Oberst lachte verhalten. »Doch wir haben noch eine weitere Firma gegründet, Genossen! Und über diese werden wir mithilfe unserer Aktualisierer an den bekannten Standorten in der Sowjetunion die »Flamme« weiterhin betreuen.«

Bauerfeind hob die Hand und setzte zu einer Frage an.

Führmann winkte ab, blickte scheinbar amüsiert in die erstaunten Gesichter der beiden Hauptleute. »Um gleich mal klarzustellen wie das alles finanziert werden soll gebe ich euch gern die Antwort.« Er deutete auf einen wuchtigen Panzerschrank, der in einer Ecke des Raumes stand. »Da drin befinden sich einige Millionen Deutsche Mark, in Fünfhundertern und Tausendern!« Der Oberst hielt inne und weidete sich einen Augenblick an den überraschten Minen der Hauptleute. »Nee, nee! Ich hab‘ hier keine Filiale der Bundesbank! Das da sind – Reserven. Jawohl! Rücklagen, die wir in den letzten Wochen aus einigen anderen Dienststellen in der Republik hierher brachten!«

Bruhns warf Bauerfeind einen vielsagenden Blick zu. Kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

Der Oberst nahm hastig einen Schluck aus der Wasserflasche und brannte sich erneut eine Zigarette an. Daraufhin deutete er mit der Hand auf die vor ihm Sitzenden. »Morgen früh begeben sich Bauerfeind und ich mit dieser Kohle auf den Weg in Richtung Liechtenstein. Um dort ein Konto zu eröffnen, auf das wir das Geld einzahlen. Damit wird für mindestens zehn Jahre die Finanzierung für die Weiterführung des Projektes gesichert!«

Den Hauptleuten stand die Überraschung im Gesicht geschrieben. Bauerfeind fühlte einen dicken Kloß im Hals, Bruhns kratzte sich am Kopf.

Der Oberst lächelte kalt und deutete auf Bruhns. »Nun zu dir, Hauptmann! Du wirst morgen alle notwendigen Unterlagen, die sich noch im Schrank befinden, für einen Umzug sicher verpacken. Nach der Rückkehr, – von mir und Bauerfeind, verbringen wir das ganze Material ins neue Büro nach Westberlin.« Unvermittelt kicherte er und hieb mit der Hand auf den Tisch. »Jawohl! Dort beginnt in drei Tagen unser zukünftiges Leben als – kapitalistische Geschäftsleute. Wir übernachten die erste Zeit in der Firma. Aber nur, bis wir für euch beide im Westen ansprechende Wohnungen gemietet haben. Na? Alles klar? Befehl verstanden?«

Die Hauptleute starrten schweigend auf den Oberst. Sie benötigten einen Augenblick, um das soeben gehörte verdauen zu können. Schließlich nickten sie zustimmend.

Darauf hin schob Führmann jedem ein zweiseitiges Dokument über den Schreibtisch. »Los! Durchlesen und unterschreiben«, bellte er.

Bauerfeind nahm das Schriftstück in die Hand. Er erhob sich von seinem Stuhl und beim Lesen des Papiers wurde ihm unvermittelt heiß.

»Verschwiegenheitsbelehrung« stand dort als Überschrift.

Einige schwülstige Phrasen folgten. Diese bezogen sich auf die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion. Ebenso auf die ewige Auseinandersetzung mit dem Imperialismus. Fett gedruckt wurde, als einziges mögliches Machtmittel, die »Flamme« aufgeführt. Die der höchsten Geheimhaltung bedurfte. Mit allen, erforderlichen Konsequenzen. Am Ende stand noch: Berlin, den 06. Januar 1990, Unterschrift:«

Bauerfeind wollte seinen Augen nicht trauen. Daher überflog er den irren Schrieb nochmals. Ist Führmann, ist jeder hier verrückt geworden fragte er sich. Sollte er tatsächlich dabei mitwirken, um Millionen von Westmark irgendwo zu verstecken?

Nun, das ginge ja noch an. Aber mit dem Geld würde die »Flamme« auf Jahre hinaus weitergeführt werden! Und das bei einer Zukunft, die ungewisser nicht sein konnte.

Nein! Niemals tue ich das, schoss es ihm durch den Kopf. Bei solch’ hirnrissigem Schwachsinn mache ich nicht mit! Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich die Schweißtropfen von der Stirn. Daraufhin wollte er das Papier ohne seine Unterschrift zurückgeben.

Doch da bemerkte er Führmanns lauernden, bohrenden Blick. Er sah aber auch, dass Bruhns soeben den Kugelschreiber weglegte. Denn der hatte bereits unterschrieben!

Mit beiden Händen auf den Schreibtisch gestützt, starrte Bauerfeind nochmals auf das vor ihm liegende Schreiben. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. Zumal da ihm schlagartig die ganze Ausweglosigkeit seiner Lage bewusst wurde. Schließlich verfügte er, gerade jetzt und auch für sein weiteres Leben, außer dieser Verpflichtung über keine greifbare Alternative!

Seine Hand wog schwer und zitterte, als er zum Kugelschreiber griff. Nach einem nochmaligen, kurzen Zögern unterschrieb er.

Der Oberst stieß hörbar die Luft aus. Woraufhin er am Schreibtisch eine klemmende Schublade auf zerrte. Er entnahm ihr einen dicken Umschlag im A4-Format. Den warf er mit einer lässigen Bewegung vor sich auf die Tischplatte.

Die Hauptleute schauten überrascht auf das Kuvert.

»Ich möchte euch eindringlich daran erinnern, dass ihr ab sofort allein meinem Kommando untersteht! «, knurrte Führmann. »Ab morgen befinden wir uns praktisch im Untergrund. Unser Auftrag ist klar definiert! Auch, wenn die äußeren Umstände ungewöhnlich und für uns neu sind. Wir werden ihn erfüllen!«

Die Hauptleute nickten zögerlich, nachdem sie sich rasch angeschaut hatten.

Führmann nahm die von Bruhns und Bauerfeind unterschriebenen Dokumente vom Tisch. Er warf einen Blick auf ihre Unterschriften und grinste. »Schön, eure alten Namen noch mal zu lesen!«, kicherte er. Dabei deutete er auf den dicken Umschlag und sein Grinsen erlosch. »Da drin stecken unsere neuen Papiere und dazu gesicherte Legenden. Nun, ich muss schon sagen, dass da einige Leute in den vergangenen Wochen wirklich gute Arbeit geleistet haben! Denn ab sofort sind wir als drei gestandene Tschekisten — Bürger der Bundesrepublik Deutschland!«

Die Hauptleute benötigten einen Augenblick, um den Sinn seiner Worte zu verdauen. Reglos verharrten sie in Erwartung weiterer Überraschungen.

Der Oberst deutete auf Bruhns und anschließend auf Bauerfeind. »Du, Bruhns, heißt von jetzt an Kolja Braune und du, Bauerfeind, nennst dich Rainer Rolle! Guckt nicht so blöd, Männer! Veränderte Zeiten erfordern eben angepasstes Vorgehen. Das wisst ihr doch wohl am besten, oder? Ich heiße dann übrigens Rene‘ Fuhran!«

Bruhns und Bauerfeind nickten wortlos. Obgleich sie die Endgültigkeit dessen, womit sie soeben konfrontiert wurden, zutiefst erschütterte.

Führmann bot Zigaretten an und holte eine Flasche Weinbrand nebst Gläsern aus dem Schreibtisch. Geschwind goss er ein, die Männer stießen an. »Man kann sagen, der Countdown läuft«, knurrte der Oberst süffisant und stellte sein geleertes Glas auf den Tisch zurück. Er nahm die Weinbrandflasche nochmals zur Hand, schaute grinsend auf das Etikett, das drei Skatkarten zeigte. »In Zukunft werden wir wohl edlere Tropfen zu uns nehmen, als diese Plörre hier. Das ist versprochen!« Er stellte die Flasche zurück. »Also gut, Männer! Die Zeit drängt, Eile ist geboten. Denn wir besitzen verlässliche Informationen, dass am Fünfzehnten unsere Zentrale an dieses – Bürgerkomitee übergeben werden muss. Wir wissen allerdings auch, dass sie den Laden mit großer Wahrscheinlichkeit stürmen wollen!«

Die Hauptleute schauten sich überrascht an.

Führmann stieß daraufhin ein heißeres Lachen aus. »Selbstverständlich lassen wir sie zuerst nur dort kramen, wo für uns kein Schaden entsteht. Dafür existiert ein exakter Plan, die Mitarbeiter besitzen konkrete Befehle!« Seine Brauen zuckten hoch. »Noch Fragen, Männer?«

Zögerlich hob Bauerfeind die Hand. »Mir ist nicht klar wie wir das Geld durch die bitte warten sie mal – zwei– Grenzkontrollen bringen wollen?«

Führmann lehnte sich im Sessel zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. »Gute Frage! Also mal im Klartext. Das läuft ab, wie folgt. Zumindest an der Grenze zu Österreich ist mit einer schlampigen Kontrolle zu rechnen. Wie es nach Liechtenstein hinein wird, ist uns unbekannt. Aber! Das wird alles für uns kein Problem sein. Denn erstens transportieren wir das Geld unter einer Doppeldeckung. Zweitens arbeiten wir mit einem »diplomatic bag«! Weiß einer von euch, was das ist?«

»Sie meinen, dass wir Diplomatengepäck benutzen?«, fragte Bauerfeind überrascht.

Bruhns riss die Augen auf und runzelte die Stirn.

Führmann hingegen grinste breit. »Ja, genau so funktioniert es. Das ganze Geld kommt in zwei Segeltuchsäcke. Deklariert werden sie als Diplomatengepäck. Die Säcke packen wir in zwei große Koffer. Bauerfeind und ich verfügen neben unseren normalen Papieren zudem über Diplomatenpässe. Nur für den Fall, dass wir intensiver kontrolliert werden sollten. Dazu besitzen wir ein Dokument, das uns als diplomatische Kuriere ausweist und das Gepäck entsprechend deklariert. Das steckt übrigens alles bei deinen Unterlagen, Bauerfeind! Oder besser gesagt – Herr Rolle! Noch Fragen?«

Zögernd verneinten sie.

Auch die darauf folgenden Stunden saßen sie mit dem Oberst beisammen. Um die weiteren Vorgehensweisen im Detail durchzusprechen. Die skizzierte Ablaufplanung wurde zudem auf mögliche Mängel abgeklopft.

Später nahmen sie unten in der Kantine ein Abendbrot ein. Trotzt dem Chaos, das im Ministerium herrschte, lief der Betrieb in der Versorgungseinrichtung ungehindert weiter.

Anschließend bekamen die Hauptleute einen ausgeräumten Büroraum zugewiesen. In dem standen zwei Feldbetten, ein Tisch und Stühle. Auch Bettzeug lag bereit.

Führmann übergab ihnen die neuen Papiere und die Legenden. Seine Aufforderung diese peinlich genau zu studieren formulierte er als Befehl. Dann ging er.

Mit dem Erlernen ihrer zukünftigen Existenzen beschäftigten sie sich bis in die Nacht hinein.

»Du weißt hoffentlich noch, was wir da unterschrieben haben?« Bauerfeind unterbrach halblaut ihr Blättern in den Unterlagen.

Bruhns grinste. »Sicherlich! Wobei es mir ziemlich schwachsinnig erscheint, so ein Vorhaben über Jahre hinaus zu planen. Aber Befehl ist Befehl! Für mich kommt eine Fahnenflucht nicht infrage. Und das auch, obwohl ich jetzt ein – Bundesbürger bin!« Er lachte leise. »Mann, wir sollten froh sein, dass wir solch eine Aufgabe erhalten haben. Glaubst du etwa, dass wir noch irgendwo anders eine Arbeit bekommen? Ich meine, wenn die Firma in Kürze aufgelöst wird?« Damit schien für ihn das Thema erledigt zu sein.

Bauerfeind kam sich auf einen Schlag sehr verloren vor. Mit einer solchen Entwicklung der Lage hatte er nicht gerechnet. Gestern Abend noch, vor seiner Abreise nach Berlin, hätte er an Derartiges keinesfalls gedacht.

Hätte er sich doch nach Hamburg absetzen sollen?

Überrascht hob er den Kopf.

Bruhns legte ihm die Hand auf den Arm und schaute ihn dabei eindringlich an. »Wie es mir scheint, hast du es wirklich nicht mitbekommen? «, fragte er leise. »Ich meine, wie Führmann vorhin auf dein Zögern bei der Unterschrift reagierte?«

Bauerfeind schüttelte den Kopf, hob fragend die Brauen.

»Er hatte ganz schnell die Hand auf seiner Knarre!«, raunte Bruhns und schaute rasch zur Tür.

Bauerfeind fühlte, wie ihn der Schweiß ausbrach. Er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. Schließlich tippte er Bruhns auf die Schulter. »Sag‘, Kolja! Gab es bei dir im Ural mal irgendwelche Probleme mit den Containern? Nichts Allgemeines, meine ich. Sondern vielleicht – Vorgänge, die richtig kritisch worden? «

Sein Gegenüber starrte ihn mit geweiteten Augen an. Dann kniff er sie rasch zusammen und schluckte heftig. »Was, – wie – was willst du damit sagen? «, entgegnete er mit kratziger Stimme.

Bauerfeind entging Bruhns Reaktion auf seine Frage nicht. Er bemerkte auch die Schweißtröpfchen auf dessen Stirn. »Versteh mich bitte nicht falsch! «, gab er zurück und senkte den Blick. »Mir ist da vorn paar Jahren eine blöde Sache passiert. Es könnte ja sein, dass auch bei dir mal was – in die Hose gegangen ist.«

»Gab es bei dir etwa Tote? «, entgegnete Bruhns atemlos.

Bauerfeind schüttelte den Kopf. »Nee, zum Glück nicht. Aber – fast! «

Bruhns erhob sich unvermittelt. »Ich geh 'mal pissen«, murmelte er. Mit bleichem Gesicht verließ er den Raum.

Bauerfeind zeigte sich wegen Bruhns letzter Frage für einen Augenblick irritiert. Dann wandte er sich erneut den vor ihm liegenden Unterlagen zu.

Vorhin hatte ihm Führmann auch eine in Folie eingeschweißte Adresskarte der Bank übergeben. »Falls ich auf der Fahrt ausfallen sollte! Letztendlich musst du ja wissen, wohin das Geld gebracht werden soll«, lautete sein lakonischer Kommentar.

Bauerfeind prägte sich die Adresse des Geldhauses ein. Ihr Ziel trug einen bedeutsam wirkenden Namen.

»Liechtensteinische-Erste-Landesbank AG« in Vaduz.

Stadt Perm, (wenige Tage nach Neujahr 1990)

In seinem Büro, oberhalb seines Nachtklubs »Maxim« an der Uliza Krasnowa in Perm gelegen, saß Alexej Kuragin. Der Russe, der in seinem Maßanzug sehr kräftig wirkte, strich sich über den Schnauzbart. Dann schaute er auf die protzige Uhr an seinem Handgelenk. Auf die Armlehnen gestützt erhob er sich aus dem hohen Ledersessel. Der stand hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Dessen geschnitzte Löwenfüße stets die Blicke jedes Hereinkommenden auf sich zogen. Tisch und Sessel hatte er sich gleich nach Steinckes Weggang angeschafft. Das tat er damals wohl nur, um seinen Groll zu besänftigen. Der inzwischen verraucht war.

Mit einem vergoldeten Gasfeuerzeug entzündete er sich eine Zigarette. Daraufhin trat er an das breite, bodentiefe Fenster heran.

Von dort aus bot sich ihm eine gute Sicht auf den verschneiten Gorki-Park. Der erstreckte sich auf der anderen Straßenseite. Zwischen den schneebeladenen Bäumen der Parkanlage entdeckte er einige Skiläufer in der Loipe.

Sein Blick fiel auf die Straße vor dem Haus. Bunte papierene Überbleibsel zeugten im knietiefen Schnee von den Neujahrsfeiern und dem soeben vergangenen Weihnachtsfest.

Jetzt, in der Mittagszeit, überspannte ein tiefblauer Himmel die weiße Pracht. Die erstreckte sich über den gesamten Ural und brachte wie in jedem Winter Freude aber auch Ungemach mit sich.

Kuragin sog an der Zigarette, kehrte an den Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Nachdenklich blickte er auf den grünlich flimmernden Monitor. Den verband ein schwarzes Kabel mit einem klobigen Computer, der unter dem Tisch stand. Auf Kuragins Stirn bildete sich jäh eine Zornesfalte. Denn alles, was mit dieser Blechkiste zusammenhing entfachte eine stumme Wut in ihm!

Noch im vergangenen Herbst hatte ihn sein Freund, Helmuth Steincke, eindringlich für die Anschaffung eines Computers zu begeistern versucht. »Damit wir unsere geschäftlichen Aktivitäten, die Abrechnungen, alle Schreibarbeiten besser in den Griff bekommen. Dazu brauchen wir auf jeden Fall einen dieser – Computer!«, hatte er behauptet. Doch leider vermochte er es nicht mehr, einen davon aus dem Westen nach Perm mitzubringen.

Vor einigen langen Wochen schon verschwand Steincke ohne ein nachfolgendes Lebenszeichen von der Bildfläche. Kuragin vermisste ihn. Auch wegen seinen vorgeblichen Erfahrungen im Umgang mit Computern. Von denen der Russe so gut, wie keine Ahnung hatte.

Jetzt hockte er hier und betrachtete kopfschüttelnd ob seiner Ratlosigkeit das verdammte, grün leuchtende Ding auf dem Schreibtisch.

Wieso habe ich nur solch einen Blödsinn verzapft, fragte er sich. Wo ich doch sonst so behutsam an Unbekanntes herangehe? Diese Frage geisterte zum wiederholten Mal durch seinen Kopf.

Erst vor zwei Wochen passierte es, dass er sich überstürzt und unbedacht auf ein überraschendes Angebot einließ.

Und jetzt stand diese blöde Kiste hier herum. Augenscheinlich funktionierte sie. Doch alles, was auf dem grünen Bildschirm erschien, zeigte sich nur in englischer Sprache.

Der Verkäufer, ihm bis dahin unbekannt, war mit den vielen D-Mark Scheinen längst verschwunden. Und seine Leute, die er unverzüglich losschickte, vermochten ihn bisher noch nicht aufzustöbern.

Dabei wollte er doch nur eines. Dass der Kerl den Computer veranlasste, mit ihm auf Russisch zu kommunizieren.

Mehr nicht!

Kuragin hatte die Kippe ausgedrückt und seinen Tee ausgetrunken, als es an der Tür klopfte. Einen Augenblick später schob sich Azat, einer seiner Bodyguards, eine Verbeugung andeutend durch den Türspalt.

Von dieser Sorte Muskelmänner beschäftigte der Russe insgesamt sechs Stück. Azat erwies sich jedoch als der Beste.

Der untersetzte, breitschultrige Kasache behielt die Klinke der schweren Eichentür in der ausgestreckten Hand. Sein Chef erblickte daher, im Halfter unter der offenen Lederjacke, die obligatorische Makarov.

Alle von Kuragins Wachmännern trugen, seit kurzer Zeit, ständig eine Waffe. Und eben dieser Umstand rettete ihm anscheinend das Leben.

Es passierte vor einigen Wochen, gleich nach Steinckes Weggang. Er wollte ein Grundstück an der Kama anschauen, das er zu erwerben beabsichtigte.

Noch gehörte es dem Komsomol. Bei einem möglichen Kauf konnte er sich daher der Unterstützung durch seinen Cousin, Wolodja, gewiss sein.

Das alte Gebäude wurde bisher als Ausbildungsobjekt genutzt. Für den Umbau zu einem Hotel direkt am Ufer der Kama bot es sich regelrecht an.

Doch offenbar gab es einen weiteren Interessenten für das Objekt. Zudem vermutlich einen, der ihm den bisherigen geschäftlichen Erfolg zu neiden schien.

Kuragin fuhr gemeinsam mit zwei seiner Bodyguards hinunter an den Fluss.

Unvermittelt schreckte er zusammen.

Knallend hatte ein Projektil die Heckscheibe seines »Wolga« durchschlagen, ihn dabei nur um Haaresbreite verfehlt.

Azat, der Kasache, trat heftig auf die Bremse. Alle sprangen aus dem Wagen, Kuragin warf sich in Deckung.

Die Leibwächter vermochten den Schützen auszumachen und eröffneten das Feuer. Nach kurzer Verfolgung gelang es ihnen, den Mann zur Strecke zu bringen.

Bevor sein Blick starr wurde, verriet er den Namen seines Auftraggebers. Der starb noch am Abend des Tages durch einen aufgesetzten Genickschuss.

Von dessen Auffinden berichtete ihm der Milizchef von Perm bei einem Plausch in der Bar des Discodampfers. Wobei er sein Bedauern darüber ausdrückte, dass die Suche nach dem Täter bisher erfolglos geblieben wäre.

Kuragin unterdrückte ein Grinsen.

Azat schaute indes seinen Chef abwartend an. Bis dieser ihm endlich zunickte. »Herr Kuragin! Da draußen ist ein Besucher, der unbedingt zu dir will. Der spricht zwar perfekt russisch, aber ich glaube – «, hier tippte sich der Kasache mit dem Finger an seine Nase, »das ist ein Deutscher!«

Kuragin hob überrascht die Brauen. Ein Deutscher? Nun ja, Helmuth konnte es nicht sein. Den kannte Azat zur Genüge. »War der Mann schon mal hier?«

Der Leibwächter schüttelte den Kopf. »Nee, Chefe! Ist unbekannt!«

Kuragin zeigte sich interessiert. »OK. Durchsuchen und reinbringen! «

Der Bodyguard verschwand nach draußen. Wenige Augenblicke später öffnete er nochmals die Tür. Mit einer vorausdeutenden Handbewegung ließ er den Besucher ins Büro eintreten.

Kuragin erhob sich hinter seinem Schreibtisch und wies auf einen der Stühle davor.

Der hochgewachsene, gut gekleidete Mann trat näher.

Plötzlich schien sich Kuragin sicher zu sein, dieses Gesicht schon gesehen zu haben. Nein. Der Name dieser Person fiel ihm im Moment nicht ein. Doch den würde er ja sogleich hören, wenn der Fremde sich ihm vorstellte. So zumindest dachte er. Aber es kam anders.

Der Gast setzte sich auf den angebotenen Stuhl. Er hob den Blick, schaute den Restaurantbesitzer mit einem verbindlichen, feinen Lächeln an. »Gospodin Kuragin! «, begann er im lupenreinen Russisch. Ohne Einleitung und ohne seinen Namen zu nennen. »Sie kennen mich vermutlich nicht, obwohl wir uns mit Sicherheit schon vorgestellt wurden. Ich möchte Ihnen jedoch herzliche Grüße von einem gemeinsamen Freund ausrichten.« Bei diesen Worten strahlte der Besucher über sein ganzes Gesicht, was Kuragins Verblüffung noch steigerte.

»Wir haben einen gemeinsamen Freund, Herr – ?«

Der Gast fiel nicht auf die Fangfrage herein. Doch er antwortete mit einem leisen Lachen. »Nun ja, Gospodin Kuragin! Genau wie Sie auch rechne ich Helmut Steincke zu meinen Freunden!«

»Sie kennen Helmuth?«, entgegnete Kuragin etwas irritiert. Er beugte sich hinter seinem Schreibtisch dem Fremden ein Stück entgegen. »Erzählen Sie mir bitte, wie es unserem Freund geht. Ich habe ihn eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

Der Besucher lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte erneut. »Helmuth begründet daheim soeben seine neue, geschäftliche Existenz. Denn der gegenwärtige Umbruch bei uns in Deutschland zeigt ja schon bedenkliche Auswirkungen. Insbesondere sind davon leider auch jene Bürger betroffen, die vormals in den gesellschaftlichen Organisationen der DDR tätig waren. Wie eben unser Helmut auch!« Der Besucher lachte verhalten. »Doch ein Steincke ist schließlich kein Jammerlappen, der die Hände in den Schoß legt und abwartet. Denn er besitzt ja, wie sie ebenfalls zur Genüge erfahren durften, Initiative und das richtige Format.«

Kuragin nickte zustimmend. »Gut, gut! Was also kann ich für sie tun?«, entgegnete er, etwas ungeduldig.

Der Besucher breitete mit einer besänftigenden Geste die Hände aus. »Sie sollten wissen, dass ich diesen schönen Landstrich, den Ural, schon seit Jahren sehr gut kenne. Nicht zuletzt, weil ich mit einer Russin, gebürtig hier aus Perm, verheiratet bin. Ich besitze also, obwohl ich Deutscher bin, eine feste innere Bindung zu diesem Land. Und zu vielen seiner Bürger. Ich werde morgen nach Deutschland zurückkehren. Konkret gesagt nach Berlin. Dort gründe ich in naher Zukunft, gemeinsam mit zwei Freunden, eine Firma. Wenn dieser erste Schritt vollbracht ist, kehre ich nach Perm zurück. Dann würde ich bei Ihnen, Gospodin Kuragin, nochmals vorsprechen. Es kann jedoch unter Umständen einige Monate dauern, bis ich erneut auftauche! Ungeachtet dessen bin ich der Überzeugung, dass Sie bis dahin Ihr Unternehmen gefestigt haben. Ihre jetzigen Geschäftsfelder könnten darüber hinaus sogar einen Ausbau erfahren. Zu dem Zeitpunkt werde ich Ihnen, wenn alles bei Ihnen und bei mir gut gelaufen ist, eine für Sie sehr lukrative Zusammenarbeit mit uns anbieten. Eine Partnerschaft, deren Umfang Sie heute noch nicht mal erahnen können!«

Kuragin hatte dem Unbekannten wortlos gelauscht. Und das, was er hörte, weckte sein Interesse. Zudem brannten ihn sofort einige Fragen auf der Zunge.

Nach seinem langen Vortrag erhob sich der Gast jedoch unvermittelt. Er verbeugte sich kurz und verließ das Büro.

Zurück blieb ein aufs Äußerste verblüffter Alexej Kuragin.

Augenblicke später, nach dem Abgang des Fremden, steckte Azat seinen Kopf nochmals durch die Tür. »Alles in Ordnung, Chefe?«, fragte er, riss dabei die schwarzen Augen weit auf. Als Kuragin unwirsch mit der Hand abwehrte, verschwand der Kasache.

Kuragin schien unerwartet ratlos. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? War der Kerl gar ein Verrückter? Aber langsam dämmerte es ihm. Denn mit einem Mal fiel ihm ein, wo er den Fremden bereits gesehen hatte.

Damals, nach der Eröffnung des Diskodampfers, gab es eine Vollreservierung für das gesamte Schiff. Ausschließlich für die Oblastverwaltung des KGB!

Selbstredend befand er sich, als Chef seines Unternehmens und Gastgeber, an diesem Abend mit an Bord.

Seine Anwesenheit, inmitten der Genossen vom KGB, nutzte er gern für einen weiteren Zweck. Denn von den Gesprächen der Geheimdienstler, wenn diese später besoffen waren, ließ sich so einiges abschöpfen.

Und zu den Gästen zählte auch dieser Deutsche!

Ja! Der KGB-Chef selbst hatte ihm den Unbekannten, als einen guten Freund, kurz vorgestellt.

Kuragin schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und kicherte leise. Soeben war ihm eingefallen, dass auch Helmut von diesem Fremden mehrfach gesprochen hatte. Gemäß dessen Aussage arbeitet der Bursche seit Jahren schon hier im Ural, als Verantwortlicher der Staatssicherheit der DDR! Kuragin lachte laut auf und schüttelte den Kopf, weil er sich soeben an die ersten Worte des Besuchers erinnerte. Verdammt nochmal dachte er, der Kerl verfügt sogar über Wortwitz. Denn was hatte er wörtlich gesagt? »… wir sind uns mit Sicherheit schon einmal …!«

Nun musste sich Kuragin eingestehen, dass der Deutsche kein Spinner war. Nein! Es böte ihm fraglos sogar einen Vorteil, ihn zu kennen. Jetzt begann er daran zu glauben, dass dieser verrückte Kerl in naher Zukunft erneut bei ihm anklopfen würde.



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