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Kapitel 2 - Grundlagen schaffen
ОглавлениеNach Süden (am 07. Januar 1990)
Sie fuhren mit einem Opel »Ascona Diplomat«. Der kam silberfarben daher und präsentierte ein Westberliner Kennzeichen.
Beide hatten ihre Joppen hinten in den Wagen gehängt. Sie trugen spitz ausgeschnittene Pullover. Darunter Hemd und Binder. Weil Bauerfeind keinen solchen dabei hatte, der Oberst jedoch darauf bestand, musste er sich eine Leihgabe von Führmann um den Hals schlingen.
»Wir gehen doch nicht wie die Dahergelaufenen in eine kapitalistische Bank!«, raunzte der Oberst.
Über die holprige Autobahn führte ihr Weg durch die DDR nach Süden. Je mehr sie sich der Grenze nach Bayern näherten, umso dichter wurde an diesem schönen Sonntag der Fahrzeugverkehr.
Die DDR-Bürger nutzten anscheinend das Wochenende zu einem Besuch in der Bundesrepublik.
In Thüringen lag etwas Schnee, an der Staatsgrenze gab es immer noch eine Art von Grenzkontrolle.
Führmann, der am Steuer saß, regte sich auf. »Schau dir diese Schwachköpfe an!«, dröhnte er, wobei er auf die Uniformierten deutete. »Die Grenzen sind offen. Doch die tun hingegen so, als wäre alles beim Alten. Fehlt nur, dass sie die Fahrzeuge ebenso filzen, wie sie es immer gemacht haben!«
Ihr Opel wurde jedoch gleich durchgewinkt.
Bauerfeind schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft und hing seinen Gedanken nach. Vorhin, an der Grenze, fühlte er für einen kurzen Moment einen unbehaglichen Druck im Magen. Das viele Geld, ihre Waffen und alles, was sie mit sich führten, kam ihm augenblicklich in den Sinn.
Schon früh am Morgen waren er und Bruhns im Ministerium hinab in die Waffenkammer gefahren. Hinter der starken Stahltür nahmen sie ihre alten Dienstwaffen samt Munition in Empfang. Diese lagen dort die letzten Jahre, in denen sie sich an der Erdgastrasse im Einsatz befanden unter Verschluss.
Bauerfeind hatte seine Makarov eingehend überprüft. Der kalte Stahl der Waffe löste in ihm ein seltsames Gefühl aus. Es gesellte sich zu den Zweifeln, die ihn gleich nach dem morgentlichen Erwachen befallen hatten.
War mein gestern gefasster Entschluss richtig? Kann ich mich in der Tat auf dieses Unternehmen einlassen? Auf eine Operation, die mir im Grunde genommen sinnlos und gefährlich erscheint?
Quälende Fragen, die durch seinen Kopf irrten. Zwiespälte die Bruhns nicht zu haben schien.
Die Waffe in seiner Hand bedeutete ihm letztendlich, dass es derzeit für ihn keinen anderen Weg gab!
Bauerfeind schaute kurz zu seinem Fahrer hin.
Führmann schien nicht so gelassen zu sein, wie er vorgab. Er rauchte viel, äußerte sich wiederholt mit nebulösen Bemerkungen über ihren Auftrag. Sein Geschwafel ergab für seinen Begleiter keinen Sinn.
Die Autobahnen im Bundesgebiet hatte man auf beiden Spuren vom Schnee beräumt. Sie kamen gut voran.
Allmählich änderte sich das Bild der Landschaft.
Nach Memmingen wechselte der Oberst ohne Ankündigung auf eine andere Autobahn. Einige Zeit später fuhren sie zu Bauerfeinds freudiger Überraschung durch das Allgäu.
Begeistert und gebannt schaute er zu den verschneiten Gipfeln hinauf.
Erinnerungen an seine häufigen Aufenthalte in den französischen Alpen tauchten in ihm auf.
Führmann bemerkte die für ihn unerklärliche Euphorie seines Beifahrers. Vorerst äußerte er sich dazu nicht.
Bald zeigten die Vorwegweiser die Österreichische Grenze und die Stadt Bregenz an. Rechter Hand erstreckte sich der Bodensee.
Bevor sie die Grenzstation erreichten, traf der Oberst endlich die von Bauerfeind erwartete Entscheidung. »Wir legen die –Bundesdeutschen– vor, wenn sie unsere Papiere sehen wollen!«, sagte er knapp.
Die Kontrolle auf beiden Seiten der Grenze verlief oberflächlich und kostete sie keine Zeit.
Während der Weiterfahrt schaute Bauerfeind öfters auf die Karte.
Führmann schien sie im Kopf zu haben.
Sein Beifahrer hingegen prägte sich neben ihrer Wegstrecke auch noch die angrenzenden Verbindungen ein. Das machte er immer so, wenn er erstmals in einer ihm unbekannten Umgebung unterwegs war.
Ihr Weg sollte sie über Dornbirn, Feldkirch und danach südwestlich nach Liechtenstein führen.
Gleich bei der ersten Raststätte im Westen hatte der Oberst einen Reiseführer für Österreich gekauft. Bei einer kurzen Rast fand er in dem Büchlein rasch eine Möglichkeit für ihre Übernachtung. Führmann plante sie, wie er sich äußerte, in einem Hotel am Rande von Feldkirch durchzuführen. Von dort aus würden sie am Montagmorgen nach Vaduz zur Bank zu fahren.
Die gute Vorbereitung ihrer Mission überraschte Bauerfeind nicht. Denn der Oberst war für seine penible Arbeitsweise bekannt. Auch kleinen Details widmete er seine Aufmerksamkeit.
Laut ihren Reisepässen und Personalausweisen galten sie als Bürger der BRD. Des Weiteren besaßen sie die Diplomatenpässe. Und in Führmanns Reisetasche steckten zusätzlich Autokennzeichen des Diplomatischen Korps.
»Wir müssen für jede Eventualität gewappnet sein!« Damit hatte der Oberst am Morgen die vielen Papiere begründet. Laut seiner kurzen Rede am Frühstückstisch habe er seinerseits alles Notwendige organisiert. Die ganze Aktion würde daher seiner Meinung nach ohne Probleme ablaufen.
Bauerfeinds unterschwellige Aufgeregtheit blieb dessen ungeachtet bestehen. Schließlich lagen geheime militärische Stabskarten von Bayern und Österreich im Handschuhfach!
Zu seiner Beruhigung ließ er diese schon vor Erreichen der Grenze zur BRD in seinem Beutel verschwinden. Führmann hatte gelacht, als er ihn dabei beobachtete.
Warum nur musste er so etwas –Militärisches– mitnehmen fragte sich Bauerfeind. Wenn sie uns im Westen oder in Österreich damit erwischen, ist Feierabend!
Bei ihrer Fahrt durch den Bregenzer Wald ging ihm beim Anblick der hohen, verschneiten Gipfel regelrecht das Herz auf. Unvermittelt fühlte er eine lange vermisste, innere Rührung.
Führmann hingegen grinste hämisch. »Wieso treiben dir so ’n paar Berge mit Schnee drauf gleich die Tränen in die Augen? Mensch, Hauptmann, bleib’ auf dem Teppich. Bisher konntest du ja auch ohne so was auskommen. Oder bist du in deinem ollen Schwerin etwa auf Skiern groß geworden?«
Bauerfeind zeigte sich entschlossen. Auf diese Seitenhiebe wollte er nicht reagieren. Stattdessen genoss er unbeirrt den imposanten Anblick und stellte sich unwissend.
Die Sonne ging soeben unter, als im Vorarlberg vor ihnen das Städtchen Feldkirch auftauchte. Sie hatten ihr Tagesziel erreicht.
Auf dem vom Schnee beräumten Hotelparkplatz standen nur wenige Wagen. Mit steifen Beinen stiegen sie aus, reckten sich nach der langen Reise.
Die reine Luft war kalt und klar.
»Das »Hotel Post« am Schlossgraben ist »eine historische Herberge«. Hinter ihr erhebt sich die Schattenburg. Am Horizont, aber doch so nah, glühen die schneebedeckten Gipfel des Vorarlbergs im Abendlicht.« Das hatte Bauerfeind während der Fahrt in dem Reiseführer gelesen.
Jetzt bot sich ihnen genau dieser Eindruck!
Führmann stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Reiß’ dich los und pack’ das Zeugs aus dem Wagen!«
Es folgte eine flüchtige Anmeldung in der kleinen Rezeption, wo sie eine ältere Dame überschwänglich begrüßte. Anschließend schleppten sie ihr Gepäck nach oben. Die beiden großen Koffer, in denen die »diplomatic bags« mit dem Geld steckten, brachten sie in Führmanns Zimmer.
In der rustikalen Gaststube nahmen sie ein deftiges Abendessen ein. Anschließend kaufte der Oberst am Büfett ein Sixpack mit Bier. Eine kleine Flasche »Jagertee« komplettierte den Einkauf.
Daraufhin stiegen sie die knarrenden, mit Teppichen belegten Treppenstufen nach oben.
»Wir gehen auf meine Bude, weil wir noch ein paar Kleinigkeiten besprechen müssen!«, ordnete der Oberst an.
Sein Zimmer zeigte sich landestypisch eingerichtet und mit allem Komfort ausgestattet. Zudem war es angenehm geheizt.
Sie lümmelten sich in die bequemen Polster der Sitzecke.
Das Bier tranken sie aus der Flasche.
Führmann rauchte. Eingangs lockerte er seinen Binder, wobei er dem Hauptmann bedeutete es ihm gleich zu tun.
Einige Zeit schwiegen sie. Bauerfeind zeigte sich gespannt, was sein Vorgesetzter ihm Wichtiges mitteilen würde.
Nach einer Weile, der vollen Aufmerksamkeit von Seiten des Hauptmanns versichert, räuspert sich der Oberst. »Frank, ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen!«, begann er halblaut. »Worüber ich mit dir sprechen muss, ist, sagen wir mal so, – ein ziemlich heißes Ding!«
Bauerfeind schaute überrascht. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, sprach ihn sein Vorgesetzter mit dem Vornamen an. Bisher hieß es immer »Genosse« oder nur »Bauerfeind«.
Weil er hierauf etwas erwidern wollte, wehrt Führmann mit einer Handbewegung ab. Daraufhin deutet er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die beiden Koffer. »Da drin befinden sich fünfundzwanzig Millionen in D-Mark. Alles nur große Scheine!«
Bauerfeind verschlug es für einen Augenblick die Sprache. In seinem Hals würgte plötzlich ein dicker Kloß.
Mit solch einer Riesensumme hatte er keinesfalls gerechnet! Gestern, in Berlin, wurde immer nur von einigen Millionen D-Mark gesprochen. Aber nie über die konkrete Summe!
Führmann sog an der Zigarette und stieß ein leises Lachen aus. »Knapp vierzig Kilo richtiges Geld hast du vorhin hier herauf geschleppt!« Er nutzt die Pause, die ihm der Hauptmann in seiner Verblüffung bot. Mit unruhiger Hand goss er den Schnaps in zwei bauchige Gläschen. »Doch jetzt zum Thema. Ich wollte dir ja etwas vorschlagen, Frank!«, knurrte er. Er drückte seine Zigarettenkippe aus und prostete Bauerfeind zu.
Der trank vorsichtig, spülte sofort mit Bier hinterher.
Der Oberst hingegen kippte den Schnaps, auf Ex. Doch sein Gesicht zeigte keine Regung. Obwohl der Hochprozentige sicher auch bei ihm ein Höllenfeuer in Richtung Magen entfachte.
Bauerfeind registrierte es mit einiger Überraschung, äußerte sich jedoch nicht.
Gelassen als spräche er über das Wetter, fuhr der Oberst mit gesenkter Stimme fort. »Ich bin bereits seit Jahren bei der Firma, wie du weißt. Und ich musste in dieser Zeit mehrere heikle Aktionen durchführen. Verdeckte Handlungen, die richtig viel Geld gekostet haben. Dabei spreche nicht von DDR Mark, sondern von harten Devisen! Wenn ich ehrlich bin, muss ich mir eingestehen, dass ich mir nie die Frage gestellt habe, wo all diese Kohle eigentlich herkommt. Doch das interessierte mich im Grunde genommen nie! Warum nicht? Nun ja. Wir erhielten Aufträge, erfüllten sie auftragsgemäß, die erforderlichen Mittel dafür waren stets vorhanden. Egal ob wir in der Schweiz, in England oder in Schweden eingesetzt worden. Von den blöden Rubelchen, die wir für die Flamme in der SU bisher verheizt haben mal ganz abgesehen.« Er goss in die Gläser nach, nahm noch einen Schluck vom Hochprozentigen und räusperte sich. »Was will ich dir damit sagen? «, fragte er, wobei er seine Hand auf den Unterarm seines Gegenübers legte.
Bauerfeind hielt den Atem an. Über Führmanns unverhohlene und zugleich ernüchternde Worte wollte er im Augenblick nicht nachdenken. Weshalb er sich auf dessen Antwort regelrecht erpicht zeigte.
»Jetzt, wo in unserer geliebten Republik alles den Bach runter geht«, fuhr der Oberst mit gesenkter Stimme fort, »erhielt ich von ganz oben diesen Auftrag. Für eine geheime Mission, von der wirklich nur eine Handvoll Leute etwas wissen. Man ist der festen Überzeugung, dass die »Flamme« zumindest für einige Jahre in Funktion bleiben muss. Damit »man«, und ich weiß nicht einmal wer genau das ist, eine gewichtige Waffe behält! Sie drückten mir also eine riesige Menge Westgeld in die Hand. Das aus Kanälen kommt über die wir alle besser nichts wissen wollen.« Führmann stieß ein heißeres Lachen aus. Er brannte sich erneut eine Zigarette an, blies den Rauch an Bauerfeind vorbei. »Ja, Frank! Dieses Geld zahlen wir morgen in einem Steuerparadies auf einer international renommierten Bank ein. Und ich alleine habe für die Zukunft den Zugriff auf das Konto, das wir dort eröffnen werden. Als Einziger! Ich verwalte alle Belege und Dokumente, die mit diesem Geld zu tun haben! Es gibt keine Abrechnungsstelle mehr! Keine Buchhaltung, die irgendwelche Unterlagen prüft oder wo ich Rechenschaft geben müsste!« An dieser Stelle unterbrach Führmann seine Rede erneut. Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht, er kniff seine Augen bis auf einen Spalt zusammen. »Sag! Was hältst du von der ganzen Sache, Frank?«
Bauerfeind musste heftig schlucken. Rasch öffnete er daher ein weiteres Bier. »Man scheint ein grenzenloses Vertrauen in Sie gesetzt zu haben, Genosse Oberst!« Er füllte eine kurze Denkpause, indem er aus seiner Flasche trank. »Oder irgendjemand besaß in dieser Situation einfach keine Alternative?«
Führmann stieß ein abgehacktes, fast böse klingendes Lachen aus. »So kann man es ebenfalls betrachten!« Er nahm sich noch ein Bier. »Aber zu meinem ursprünglichen Thema. Wie sehen eigentlich deine Vorstellungen von deiner beruflichen Zukunft aus? Ich meine, wenn wir morgen das Geld eingezahlt haben und nach Berlin zurückgekehrt sind?« Er hob rasch die Hand. »Ja, ja! Wir gehen nach Westberlin und führen dort, von unserer neu gegründeten Firma aus, das Vorhaben weiter. Völlig selbstständig. Keiner sagt uns was oder wie wir es tun und lassen sollen. Ich frage dich aber eines.« Er deutete mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Meinst du nicht auch, dass wir dennoch zu gering bezahlt werden? Ich meine, für das, was wir in Zukunft machen werden? «
Bauerfeind legte fragend den Kopf etwas schräg, hob die Brauen und unterbrach so den Wortschwall des Obersten.
Der deutete nochmals mit dem Finger auf ihn, als er fortfuhr. »Gut! Ich will es mal anders formulieren, Frank! Wollen wir weiterhin Mitarbeiter in einem Ministerium sein, das es schon jetzt nicht mehr gibt! Das ist doch absurd, das alles. Oder? Entspricht das deinen Vorstellungen? Auch dann, wenn ich für uns drei eine angemessene Bezahlung sichern kann?
Bauerfeind, der mit Führmanns Frage immer noch nichts rechtes anzufangen wusste, zuckte lapidar mit den Schultern.
Der Oberst drückte die Kippe aus und grinste schief. »Na gut, dann eben ohne Fransen! Wie wäre es, wenn du zumindest die nächsten Jahre unbehelligt in unserer neuen Firma in Westberlin tätig sein könntest? Wobei du aber gleichzeitig noch zusätzlich ein gewaltiges finanzielles Polster in der Hinterhand hättest?« Führmann unterbrach sich kurz, weil sein Gegenüber die Augen aufriss. »Ich meine, wenn mit der Firma eines Tages etwas schiefgehen sollte, dann könntest du sofort verschwinden. Von da an lässt du dir in der Karibik die Sonne auf den Bauch brennen. Machst Fettlebe, solange du willst!«
Jetzt hatte Bauerfeind begriffen. Zumindest das Grundsätzliche. Aber auch, dass das Ansinnen seines Vorgesetzter nicht koscher erschien. »Gut, Oberst! Ich würde es hier und jetzt als ausgesprochen hilfreich empfinden, wenn sie Klartext sprächen! Nur damit wir nicht aneinander vorbei reden!«, entgegnete er daher beherzt.
Führmann erhob sich, ging leisen Schrittes durch den Raum und öffnete mit einem Ruck die Zimmertür. Vorsichtig schaute er auf den Flur hinaus, um daraufhin die Tür wieder zu verschließen. Er drehte den Schlüssel herum und ließ sich, Bauerfeind vis-à-vis, erneut in die Sitzecke fallen. Gelassen griff er nach seinem Bier, setzte die Flasche an und trank. Er sog an der Zigarette, legte den Kopf schräg und deutete mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber.
Bauerfeind lehnte sich zurück.
»Ich sag’ dir jetzt genau was wir tun werden, Frank! « Der Oberst hatte die Stimme gesenkt. »Also pass’ auf. Wir zahlen morgen auf der Bank in Liechtenstein nur zwanzig Millionen auf ein Konto, das wir neu eröffnen. Nur zwei Leute, abgesehen von uns beiden, kennen die korrekte Summe, die wir heute Morgen in Berlin übernommen haben. Doch keiner außer uns wird je wissen, welcher Betrag von uns auf der Bank eingezahlt wurde!« Er grinste breit, legte seine Hand auf Bauerfeinds Arm. »Die restlichen fünf Millionen teilen wir uns! Jeder nimmt seinen Anteil mit zurück. Das Geld zahlen wir in Westberlin oder irgendwo in der BRD ein. Von mir aus kannst du deinen Haufen unter der Matratze verstecken. Das geht mich nichts an.« Er holte tief Luft. »Nun sag, Frank, bist du dabei?«
Bauerfeind presste sich heftig ins Rückenpolster der Eckbank. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich und die Knie zitterten. Seine Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Führmanns Offenbarung empfand er als schier ungeheuerlich.
Verdammte Scheiße noch mal dachte er. In was will er mich da hineinziehen? Darauf kann ich mich niemals einlassen! Nein! Keinesfalls werde ich das tun!
Er griff zur Bierflasche, nippte mehrmals daran. Seine Augen starrten ohne etwas zu sehen. Beherzt zwang er sich zur Ruhe, atmete tief und langsam. Das Zittern in ihm ließ nach. Denn plötzlich trat der in ihm hochgeschossene Widerstand auf der Stelle.
Oder ist ein solches Wahnsinnsvorhaben unter gewissen Umständen doch machbar, sann er. Unvermutet wurde er ruhiger, lockerer. Warum eigentlich nicht fragte er sich wenig später. So eine Möglichkeit bietet sich mir im Leben sicherlich nie wieder! Wieso sollte ich sie nicht ergreifen? Jetzt, wo meine Perspektiven nicht gerade rosig aussehen? Auch, wenn im Augenblick das alles mit der neuen Firma recht gut klingt.
Führmann ließ Bauerfeind die Zeit, die er offensichtlich brauchte, um das Angebot zu durchdenken. Er trank sein Bier und schenkte nochmals von dem Hochprozentigen nach.
Schließlich schien sich sein Gegenüber gefasst zu haben. »In Ordnung!«, sagte Bauerfeind stockend. » – Ich – ich mache dabei mit. Doch da hab’ ich gleich eine Frage. Warum gerade ich und nicht der Bruhns?«
Führmann sog nochmals hastig an seiner Zigarette, drückte sie aus und lachte verhalten. »Ganz einfach«, entgegnete er und deutete auf sein Gegenüber. »Ich wollte die Sache mit dir durchziehen. Weil ich der Überzeugung bin, dass du der Richtige dafür bist. Denn wir werden zumindest die nächsten Jahre gut miteinander auskommen müssen. Oder siehst du das anders?« Daraufhin streckte er Bauerfeind seine Rechte entgegen.
Beide Männer besiegelten ihr Vorhaben mit Händedruck und einem letzten Schnaps.
Nachdem er lange nicht einzuschlafen vermochte, verbrachte Bauerfeind die Nacht ausgesprochen unruhig. Obwohl sein Bett sich als behaglich erwies, drehte und wendete er sich.
Immer wieder ging er alles, was Führmann ihm unterbreitet hatte, in Gedanken durch. Die mehrfach aufgetauchten Zweifel an der Richtigkeit seiner Zusage schwanden jedoch so rasch, wie sie kamen.
Denn die unerwartete Möglichkeit, dass ihm erstmals eine finanziell gesicherte Zukunft versprach, wog schwerer.
Wenn er sie denn am Schopfe packte!
Gerade jetzt, in diesen Zeiten voller Ungewissheit und Chaos, bot sich ihm diese Chance! Ich geh’ drauf ein, beschloss er. Käme es doch einem völligen Schwachsinn gleich, wenn er sich Führmanns Angebot verweigern würde.
Gleichzeitig verwarf er sofort einen plötzlich aufblitzenden Gedanken. Den an einen Rückzieher von seiner Zusage.
Denn ein nachträglicher Widerruf würde ihm ernste Probleme von Führmanns Seite einbringen!
Voller Unbehagen konstatierte er, dass er zumindest Mitwisser wäre und sich auf sehr dünnem Eis befände.
Hielte er sich jedoch an seine Zusage, bestünde künftig zwischen ihm und dem Oberst eine beiderseitige Abhängigkeit. Auch hätten beide gegenüber Bruhns, dem dritten Mann, ein gemeinsames Geheimnis zu wahren.
Doch damit zumindest käme er klar. Oder etwa nicht?
Trotzt aller aufkommender Euphorie mahnte ihn nochmals eine innere Stimme: Ich muss ab sofort vermehrt wachsam und vorsichtig gegenüber Führmann sein! Mehr noch als bisher schon!
Überdies stimmte ihn eine unerwartete Großzügigkeit von Seiten anderer seit jeher misstrauisch!
Mit seiner Taktik sich selbst zu beruhigen, die er oft in kritischen Situationen angewandt hatte, schlief Bauerfeind schließlich ein.
Der 08.Januar 1990
Am Morgen trafen sie sich um sieben Uhr in der Gaststube. Sie frühstückten rasch und wortlos. Da Führmann die Übernachtungen am Vorabend in bar bezahlt hatte, hielt sie nichts mehr auf.
Vor dem Hotel empfing sie Finsternis und Kälte. Nur einige niedrige Laternen erleuchteten den Parkplatz. Im Osten, hinter den schneebedeckten Gipfeln, zeigte sich ein rosaroter Streifen. Der prüfende Blick zum klaren Himmel versprach ihnen einen sonnigen Tag.
Sie verstauten das gewichtige Gepäck im Wagen. Dabei wies Führmann bedeutungsvoll auf eine graue, mittelgroße Reisetasche. In die er anscheinend das abgezweigte Geld gepackt hatte.
Am vergangenen Tag trug er ebenso wie Bauerfeind eine Joppe mit Pelzkragen. Heute hüllte ihn ein langer, schwarzer Ledermantel ein.
Ohne einen Blick zurück verließen sie Feldkirch.
Führmann, den sein Mantel beim Einsteigen etwas behinderte saß am Steuer. Erst, als sie ein Weilchen gefahren waren, brach er ihr Schweigen. »Deine Vermutung ist sicherlich richtig!«, sagte er laut und deutete mit dem Daumen zum Kofferraum hin. »In der grauen Reisetasche stecken – unsere Millionen!«
Bauerfeind blickte zum Obersten, griente und schüttelte den Kopf. »Dass in der Tasche zusätzlicher Proviant drin ist, hatte ich nicht mal in Erwägung gezogen!«
Führmann lachte bellend und hieb aufs Lenkrad.
An der Grenze zum Fürstentum wiesen sie ihre BRD-Pässe vor. Von einem frierenden Beamten wurden sie gleich weitergewinkt.
»Was mich da noch interessiert, Frank!«, sagte der Oberst, den Blick starr gerade aus gerichtet. »Wie hältst du es eigentlich mit den Frauen? Verheiratet bist du nicht. Das weiß ich. Aber wenn du ab morgen richtig viel Kohle hast, dann kannst du dir ja jede leisten. Egal, wie alt! Ist doch beruhigend zu wissen, dass man dabei bald keinen Notstand mehr hat. Kannst dir zum Ficken holen was und wann immer du willst! Oder wie siehst du das?«
Bauerfeind hielt die Luft an. Er schwieg, schüttelte nur den Kopf und sah zur Seite.
Über die vom Schnee beräumte Bundesstraße ging es flott hinein ins Ländchen. Nach rund einer Stunde erreichten sie Vaduz.
Bei einem kurzen Tankstopp an einer Shell–Station unweit der Stadtgrenze studierte Führmann den von ihm soeben gekauften Stadtplan. Er erkundete den Weg zur Bank und prägte ihn sich ein.
Daher gab es für ihn anschließend keine Probleme mit der Orientierung. Im dichten Morgenverkehr fand er wenig später die Adresse mit dem ungewohnten Namen »Städtle 49«.
Vor einem imposanten Gebäude hielt er den Wagen an. An der Fassade prangten in übergroßen Lettern die Worte »Liechtensteinische - Erste Landesbank - AG«.
Hinter dem Block befand sich ein ausgewiesener Kundenparkplatz. Der zeigte sich fast leer und akkurat vom Schnee beräumt.
Nach dem Aussteigen blinzelten beide in die noch tief stehende Sonne.
Mit einem kumpanenhaften Grinsen nickte Führmann zu seinem Beifahrer hin. »Packen wir ’s an!«
Der Oberst ging voran, Bauerfeind schleppte die Koffer mit dem Geld. Diese trugen sich im Gegensatz zu gestern spürbar leichter.
Auf den Fußwegen und in den Straßen herrschte reger Verkehr. Doch von ihnen nahm niemand Notiz.
Eine Minute nach neun Uhr betraten sie die Bank. Nach wenigen Schritten in die jugendstilgerechte Schalterhalle setzte Bauerfeind auf einen Wink von Führmann hin die Koffer auf dem spiegelnden Fußboden ab.
Nachdem sie sich einen raschen Überblick über die Empfangshalle verschafft hatten, tippte der Oberst leichthin gegen Bauerfeinds Arm. Er deutete zur Seite. »Geh‘ dort hinüber und warte! Ich frage mal, wer für uns zuständig sein könnte.«
Ein Herr im Ulster, der soeben nach ihnen die Bank betreten hatte, schaute beim Vorbeigehen flüchtig auf ihr Gepäck. Ein schmales Lächeln erschien auf seinem geröteten Gesicht.
Bauerfeind nahm die Last erneut auf. Er platzierte sich seitlich neben einer kleinen Sitzgruppe, während Führmann hinüber zu den Banktresen schritt.
Nach wenigen Augenblicken schon kehrte der Oberst zurück. Er befand sich in Begleitung eines älteren, akkurat gekleideten, grauhaarigen Herrn.
Der stellte sich ihnen mit seinem Namen und als Vizedirektor der Bank vor. Zugleich bat er sie, ihm zu folgen.
Gesetzten Schrittes geleitete er sie durch eine Seitentür. Daraufhin dirigierte er sie einen schmalen, verwinkelten Korridor entlang.
Gehorsam marschierte Bauerfeind mitsamt dem Gepäck den beiden hinterher. Seitliche bunte Bleiglasfenster und dicke Teppiche vermittelten hier eine eigentümliche Atmosphäre. Der Gang führte zu einem separaten Raum, der sich hinter einer massiven Tür verbarg.
Sie traten ein. Edle Möbel, große Spiegel und ein riesiger Safe prägten das Geviert.
Der Vizedirektor schloss die Tür hinter ihnen. Mit einer höflichen Handbewegung forderte er Bauerfeind auf, die Koffer neben einen niedrigen Tisch mit geschwungenen Beinen abzustellen. Auf dem stand ein vernickeltes, rechteckiges Tablett mit hohen Kanten.
»Wäre es Ihnen möglich die Banknoten auf das Tableau zu stapeln?«, fragte der Vizedirektor höflich an Führmann gewandt.
Der Oberst nickte, gab Bauerfeind einen Wink.
Der zögerte für einen Moment. Dann öffnete er die Koffer und die Bags. Entschlossen nahm er daraufhin das Geld aus dem deklarierten Diplomatengepäck heraus.
Das rief bei dem Vizepräsidenten keine Überraschung hervor. Nur ein Zucken seiner buschigen Brauen, ein schmales, flüchtiges Lächeln offenbarte sich als Reaktion.
Es erforderte geraume Zeit und Bauerfeinds ruhige Hand. Schließlich stapelten sich die Geldbündel aus beiden Taschen auf dem Tablett.
Gewissenhaft hatte der alte Herr jedes Bündel notiert, auch Stichproben vorgenommen.
Nachdem Bauerfeind zum Ende gekommen war, verschloss er die Koffer und stellte sie neben die Tür. Er selbst nahm in einem der wuchtigen Ledersessel am Fenster Platz. Von hier an überließ er Führmann alles Weitere.
Inzwischen hatte ein Angestellter den Raum betreten. Er schob eine Zählvorrichtung auf einem verchromten Wägelchen vor sich her. Höflich nickte er den Kunden zu. »Grüß Gott, die Herren!«, sagte er und drückte den Stecker eines Kabels in eine Steckdose neben dem Safe. Begleitet von den aufmerksamen Blicken des Vizedirektors öffnete er daraufhin eine Tür des Stahlschrankes.
Bündel für Bündel des Geldes nahm er vom Stapel auf dem Tablett und jagte es durch die ratternde Zählmaschine.
Anschließend verstaute er es in ein geöffnetes Fach des Safes.
Eine knappe Stunde später, nachdem alle Belege und Formulare vorlagen, verließen sie die Bank. Niemals hätte Bauerfeind geglaubt, dass es so einfach ist, ein Konto neu zu eröffnen. Um auf dieses sogleich zwanzig Millionen D-Mark einzuzahlen.
Nun trugen sich die Koffer in seinen Händen leicht. Innerlich ein klein wenig erregt ging er hinter dem Obersten her.
Der strebte mit weit greifenden Schritten ihrem Wagen auf dem Parkplatz zu. Ein dunkelroter Ordner, in dem sich die Bankunterlagen befanden, klemmte unter seinem Arm. Mit einem konzentrierten Rundblick vergewisserte er sich, dass sie von niemand beobachtet wurden. Rasch öffnete er den Kofferraum des »Opel«.
Bauerfeind erblickte die prall gefüllte graue Reisetasche.
Hastig riss Führmann deren Reißverschluss auf. Das Innere zeigte sich bis oben hin vollgestopft mit Geldbündeln. Als wäre er erleichtert stieß der Oberst einen leisen Pfiff aus und griff sich einige Geldscheine. Dann verschloss er die Tasche wieder, woraufhin er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen verzerrte. »Unsere schöne Gage! Zu blöd, wenn sie inzwischen verschwunden wäre.« Er steckte den Ordner in seine Reisetasche.
Bauerfeind schüttelte, ob der für ihn abwegig anmutenden Äußerung, wortlos den Kopf.
Führmann öffnete daraufhin einen der Koffer. Er weitete die Öffnung des darin steckenden »diplomatic bag« und stopfte die Tasche mit dem Geld hinein. »Alles nur zur Tarnung!«, murmelte er.
Bauerfeind begriff sofort, warum der Oberst so handelte. Sollte man sie bei der Ausreise an der Liechtensteiner Grenze kontrollieren, würden sie die »Diplomatenmasche« anwenden! Denn sicherlich tolerierte man bei jedermann die Einbringung von Geld ins Fürstentum. Doch wohl kaum dessen Ausfuhr in so großen Mengen.
Ohne sich länger in Vaduz aufzuhalten wollten sie sofort die Rückfahrt antreten. Gemäß ihrer Absprache vom Vorabend würden sie dabei vorgehen.
Der Oberst hatte nur eine kurze Mittagspause vorgesehen. Ansonsten wollten sie, jeden Zwischenhalt vermeidend, geradewegs zurück nach Berlin fahren.
Noch bevor sie in den Wagen stiegen, wendete sich Bauerfeind an Führmann. »Oberst! Ein Vorschlag zur Güte«, sagte er, »Sie sind die gesamte Strecke hierher gefahren. Lassen sie mich doch bitte den Rückweg übernehmen!«
Führmann winkte stirnrunzelnd ab und schwang sich hinter das Steuer. »Steig ein! Wir müssen noch einiges erledigen.«
Bauerfeind stutzte zwar, stieg jedoch ein, ohne zu fragen.
Nachdem sie den Stadtrand fast erreicht hatten steuerte Führmann unerwartet auf eine Telefonzelle zu. Die stand nur ein paar Schritte entfernt von der Straße.
»Ich muss da unbedingt noch jemanden anrufen. Lass’ den Motor laufen«, knurrte der Oberst, ohne aufzuschauen. Darauf hin sprang er rasch aus dem Wagen. Am Straßenrand stieg er über den flachen Schneewall vor der Telefonzelle, riss die Tür auf und ging hinein.
Verblüfft beobachtete Bauerfeind den Oberst. »Was sollte das denn jetzt? «, stöhnte er und schüttelte den Kopf. »Wen in Gottes Namen ruft der Kerl hier in Liechtenstein jetzt noch an?« Er sah, wie Führmann in der Zelle den Hörer in der Hand hielt und die Wählscheibe drehte. Doch er sah ebenfalls, dass er keine Münzen in den Automaten geworfen hatte! Woher auch sollte der Oberst das nötige Kleingeld herhaben? Und mit was für einer Währung zahlen die eigentlich in Liechtenstein? Diese Fragen bewegten Bauerfeind sofort.
Dabei sah er, dass Führmann augenscheinlich mit jemand durchs Telefon sprach. Gleichzeitig schoss ein unangenehmes Gefühl in ihm hoch. Und er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
Verdammt, was ging hier vor? Irgendetwas war faul!
Doch da kam Führmann auch schon zurück. Er riss die Wagentür auf, schlug die Mantelschöße übereinander, warf sich hinters Steuer. »Wir treffen uns nach dem Mittagessen mit jemand, der äußerst unentbehrlich für alles Weitere ist«, knurrte er. Dabei blickte er geradeaus und fuhr los.
Verwundert starrte ihn Bauerfeind von der Seite her an, ohne eine Reaktion zu erhalten. Zum Teufel dachte er, das stinkt gewaltig! Wieso taucht gerade jetzt ein großer Unbekannter auf? Und – was soll das alles? Wollten wir das Ding nicht zu zweit durchziehen?
Eine spürbare Unruhe schien unvermittelt von Führmann auszugehen.
Bauerfeind entschloss sich, die für ihn als wichtig erscheinenden Antworten sofort einzufordern. »Entschuldigen Sie, Oberst! Ich bin da doch etwas verunsichert. Wollten sie nicht, dass nur wir beide die Sache erledigen? Wer, bitteschön, ist denn dieser – neue Mann?«
Führmann starrte mit zusammengekniffenen Lippen auf die Fahrbahn. Letztlich antwortete er, wenn auch recht ungehalten. »Ich kam letzte Nacht nicht umhin, um andere Dispositionen zu treffen, Frank! Da gibt es noch einen hohen Genossen, den wir in jedem Fall einbinden müssen. Doch keine Angst um dein Geld, Hauptmann! Für den dritten Mann habe ich eine Extramillion eingepackt!«, stieß er knurrig heraus und deutete mit dem Daumen nach hinten.
Bauerfeind kniff die Brauen zusammen. Nein, um seinen Anteil war es ihm vorerst nicht bange. Doch dieses ganze Hickhack stank ihm mit einem Mal gewaltig.
Hier muss ich jetzt wohl mehr als achtsam sein, befand er. Sogar mehr, als vorsichtig!
Mit einem Mal verspürte er erneut diesen misslichen Kloß im Hals. Denn soeben war ihm eingefallen, dass die Makarov tief verborgen in seinem Campingbeutel steckte!
Scheiße! Wie komme ich an die heran, ohne dass es Führmann mitbekommt? Ich benötige die Waffe unter allen Umständen, um nicht zur Gänze schutzlos zu sein!
Auf der weiteren Fahrt, bis kurz vor Feldkirchen, sprach keiner von beiden ein Wort. Der Oberst starrte geradeaus, Bauerfeind grübelte.
»Wir werden hier noch rasch zu Mittag essen«, brach Führmann das Schweigen. Er bog nach rechts auf eine Straße ein, die in Richtung der Berge führte. Gekennzeichnet wurde sie durch ein Schild mit der Nummer »Einhunderteinundneunzig«.
Nach wenigen Minuten erreichten sie einen idyllisch gelegenen Gasthof.
Er nannte sich »Wirtschaft zum Schützenhaus«. Hohe Tannen säumten den Fachwerkbau und auch einen kleinen Parkplatz davor.
Zu dieser frühen Mittagszeit saßen sie allein in der gut geheizten, rustikalen Gaststube. Sie entschieden sich für das Tagesgericht. Das hatte ihnen die dralle Wirtin in einem breiten Österreichisch empfohlen.
Eine kurze Weile später standen zwei große, sehr volle Teller auf dem Tisch. Das deftig anmutende Gericht, das sie bisher nicht kannten, roch verführerisch. Zudem schmeckte es hervorragend.
Doch die beiden Männer zeigten keinen rechten Appetit. Sie stocherten mehr auf ihren Tellern herum, als dass sie etwas aßen.
Bauerfeind versuchte stattdessen, seine Beunruhigung im Zaume zu halten. »Wieso taucht denn erst heute so Knall und Fall ein Dritter auf? Wer ist das, Oberst? «, fragte er, mühsam ein Zittern in der Stimme unterdrückend.
Mit Nachdruck legte Führmann das Besteck auf dem Teller ab. »Du lernst ihn schon noch früh genug kennen. Aber, – ich muss ihn sowieso anrufen! Jetzt sofort wegen der Abstimmung«, schnauzte er zurück. Unvermittelt sprang er auf und lief zur Tür.
Vorhin beim Hereinkommen in den Gasthof hatte Bauerfeind im Flur vor der Gaststube einen Telefonapparat gesehen. Der hing dort an der Wand.
Den schien Führmann jetzt benutzen zu wollen, denn er verschwand aus dem Gastraum.
Die Wirtin kam an den Tisch. Nach Bauerfeinds Hinweis, »dass es gut geschmeckt habe«, räumte sie die halbvollen Teller ab. Kopfschüttelnd verzog sie sich mit dem Geschirr in Richtung Küche.
Bauerfeind fühlte sich durch die neue Lage ausgesprochen unwohl. Angespannt stierte er zur Tür.
Wieso telefoniert er jetzt schon wieder fragte er sich. Und wie komme ich nur an meine Waffe heran? Noch einiges mehr schoss ihm durch den Kopf. Doch da kehrte der Oberst in die Gaststube zurück.
»Ich habe soeben mit dem General gesprochen! Wir treffen uns mit ihm in einer halben Stunde. Und er sagte mir auch den genauen Treffpunkt durch«, knurrte Führmann leise aber mit gesenktem Blick. »Du erfährst alles, was für dich von Belang ist zur rechten Zeit, Frank! Lernst ihn bald kennen, den General. Also bleib locker und vertrau mir!« Daraufhin winkte er die Wirtin heran, um die Zeche zu zahlen.
Den angebotenen DM-Schein nahm sie ohne Widerspruch an. Wenn auch mit einem schiefen Lächeln. Als Wechselgeld gab sie nur österreichische Schillinge zurück.
Wenig später saßen sie wieder im Wagen.
Führmann drehte den Zündschlüssel, der Motor sprang sofort an. »Wo stecken die Stabskarten, Frank? Ich brauche sie!«, fragte er grantig.
»Hinten in meinen Campingbeutel!«, entgegnete Bauerfeind, wobei er die spontane Erregung in seiner Stimme unterdrückte. Er hob den Hintern, kniete sich auf den Sitz und langte nach dem Beutel auf der Rückbank.
Der Oberst kam nicht umhin sich zur Seite zu beugen, um ihm Platz zu schaffen. »Konntest du dafür nicht vielleicht noch mal aussteigen? «, zischte er gereizt.
Eben das wollte Bauerfeind aber auf keinen Fall! Er öffnete seinen Beutel, mit einem Griff fand er die unten liegende Waffe. Während er sie in der linken Brusttasche seines Anoraks verschwinden ließ, fasste er gleichzeitig nach den Karten. Daraufhin drehte er sich wieder herum. Die Papiere gegen die Brust gepresst, rutschte er auf seinen Sitz zurück.
Kopfschütteln riss ihm Führmann die Pläne aus der Hand, sortierte sie rasch. Eine österreichische Stabskarte breitete er auf dem Lenkrad aus. Die restlichen Blätter warf er auf Bauerfeinds Schoß.
Er brannte sich eine Zigarette an, kurbelte das Fenster ein Stück herunter und blies den Rauch hinaus. Stirnrunzelnd studierte er einige lange Minuten die Karte. Unbewusst kratzte er sich dabei mehrmals am Kopf, murmelte vor sich hin.
Bauerfeind indes bemerkte etwas. Die Hand des Obersten, in der er die qualmende Kippe hielt, zitterte sichtlich. Zugleich stieß ihm noch etwas anderes auf. Die Aufforderung, ihm doch zu vertrauen, ließ seine Alarmglocken zusätzlich schrillen. Und dass der unvorhergesehen aufgetauchte dritte Mann ein General sei, verwirrte ihn. Obendrein gestaltete es ihr Vorhaben noch ominöser als es ohne hin schon war!
Führmann faltete die Karte zusammen, gab sie wortlos an Bauerfeind zurück.
Der schmiss sie mitsamt den anderen auf den Rücksitz.
Führmann schnipste die aufgerauchte Kippe aus dem Fenster. Er drehte die Scheibe hoch, startete den Motor. »So, es geht los«, sagte er mit belegter Stimme. Er räusperte sich und warf einen flüchtigen Blick auf Bauerfeind. »Jetzt weiß ich, wo der Treffpunkt ist. Eine feine Karte ist das schon!«
Vom Parkplatz der Gastwirtschaft aus bog er nach rechts auf eine schmale Fahrbahn ein. Die wurde beiderseits von fast Halbmeter hohen geschobenen Schneewällen gesäumt.
Bauerfeind vermochte auf einem Straßenschild noch die Worte »Göfiser Straße« lesen. Daraufhin ging es leicht bergauf. Rechter Hand erhob sich dichter Wald. Auf der anderen Seite breiteten sich, bis weit in ein Tal hinab, verschneite Felder aus.
Sehe ich wahrhaftig nur Gespenster, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Stand der Oberst bisher nicht immer zu mir? Wie war das denn, als vor drei Jahren der Scheiß mit dem Projektingenieur in Bara passierte? Mit dem Becker, diesen Idioten! Dem Schnüffler, der fast die ganze Operation auffliegen ließ! Führmann reagierte in Berlin sofort auf meine Nachricht, die ich ihm über Weiler übermittelt habe. Er hat alles geregelt! Niemals kam wegen der Sache mit dem Projektanten etwas nach.
Der Oberst fuhr nicht zu schnell. Sie waren gut zehn Minuten unterwegs, da öffnete sich in der bisher geschlossenen Baumfront eine breite Schneise.
Ein paar Schritte von der Straße entfernt ragte aus dem Schnee ein Schild. Das wies diese Waldschneise als einen –Forstwirtschaftsweg– aus. Mehrere festgefahrene Spuren von grobstolligen Reifen führten in den Wald hinein. Sie deuteten darauf hin, dass hier nach dem letzten Schneefall noch öfters große Fahrzeuge unterwegs waren.
Wortlos lenkte Führmann in die Schneise ein, die beiderseits von hohen, dick verschneiten Fichten gesäumt wurde.
Die Wegstrecke erwies sich als gut befahrbar. Mit den Winterreifen kamen sie problemlos voran.
Nach etwa dreihundert Metern schwang der Weg in einen sanften Bogen nach links. In den Rückspiegeln verschwand die Einfahrt von der Straße her. Sie fuhren inzwischen durch die im Schnee versunkene Einsamkeit des Waldes.
Bauerfeind verspürte im Magen ein flaues, flatteriges Gefühl. Seine Unruhe wuchs.
Führmann lenkte den Wagen unbeirrt voraus.
Wenig später endete der Waldweg in einem Wendehammer. Am Scheitelpunkt dieser Schleife traten die Bäume beiderseits ein gutes Stück zurück. So gaben sie einen herrlichen Blick frei in ein weites, verschneites Tal, das am Horizont wiederum von dichten Wäldern umfasst wurde.
Indem Führmann um die Wegekehre herum fuhr sah Bauerfeind, dass der Berghang seitlich des Weges beängstigend steil abfiel.
In Richtung zur Straße hin brachte der Oberst den Wagen zum Stehen. »Der General ist ja leider noch nicht da. Hoffentlich verspätete er sich nicht zu lange! «, sagte er wie beiläufig. Dabei starrte er angestrengt nach vorn zur Wegbiegung. Unvermittelt erschienen auf seiner Stirn feine Schweißperlen. Mit den Händen knetete er das Lenkrad.
Rasch schaute sich Bauerfeind durch die Wagenfenster um. Nur einige Schritte entfernt, bemerkte er mehrere Stapel dicker Baumstämme. Dahinter erhob sich fast drohend der tiefe Wald. Der gesamte Weg am Wendehammer erschien ihm festgefahren und festgetrampelt zu sein.
Doch da gab es etwas, das ihn aufs Heftigste beunruhigte. Die Einsamkeit, die Stille und der steile Abhang!
Spontan empfand er eine herannahende Gefahr.
Führmanns Stimme ertönte. »Die transportieren wohl von hier aus die Stämme scheinbar auch im Winter ab. Darum ist der Weg befahrbar. Glück gehabt!« Plötzlich schwang sich der Oberst recht behände aus dem Fahrzeug.
Wie auf einen Befehl hin stieg Bauerfeind ebenfalls aus. Er ging jedoch hinten um den Wagen herum zur Fahrerseite.
Führmann stand jetzt neben der geöffneten Tür. Breitbeinig, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben schaute er ihm lauernd entgegen.
»Hoffen wir, dass heute Nachmittag keiner mehr ne’ Fuhre Holz abholen will. Aber Ihr General sollte sich beeilen!«, presste Bauerfeind heraus. Dabei drehte er sich zur Seite, warf er einen raschen Blick zum sonnenüberfluteten Tal hin. In der Ferne vermochte er eine zusammengedrängte Ansammlung von mehreren Häuschen erkennen.
Über einigen Dächern stiegen feine Rauchfahnen in die klare Luft empor. Alles erscheint so idyllisch, dachte er. Wenn da nicht dieses blöde Gefühl in meinem Magen brodelte!
Da hörte er hinter sich ein wohlbekanntes, metallisch schnappendes Geräusch. Instinktiv drehte er sich herum und starrte in die Mündung einer Waffe.
Führmann stand gut drei Meter von ihm entfernt. Die Hand mit der Pistole erhoben.
»Wieso hat der Mann keine Makarov?« Dieser im Augenblick komplett unsinnige Gedanke schoss durch Bauerfeinds Kopf. Wobei er gleichzeitig registrierte, wie sein Gegenüber die andere Hand von unten her an die Waffe hob.
Er wusste sofort was das bedeutete. Der Oberst wollte einen todsicheren Treffer!
Daraufhin ging alles schnell.
Aus dem Stand heraus hechtete Bauerfeind hinter das Heck des »Opels«, wo er sich mit dem Oberkörper flach auf die Kofferraumklappe warf. Durch die Heckscheibe sah er, wie der Oberst zu einem Satz in seine Richtung ansetzte.
Um dann, aus unerfindlichen Gründen, unverhofft nach vorn auf den Boden zu stürzen. Mit vorgestreckten Armen
fiel Führmann in den Schnee, wobei er seine Pistole verlor.
Instinktiv nutzte Bauerfeind den unerwarteten Vorteil. Er stoppte die Bewegung seiner Hand, mit der er nach der Makarov in der Innentasche seines Anoraks greifen wollte.
Stattdessen sprang er hinter dem Wagen hervor. Den Obersten, der soeben Anstalten machte sich zu erheben, trat er mit dem Fuß seitlich gegen den Hals. Nach zwei raschen Schritten riss er die nur angelehnte Fahrertür auf.
Er hechtete hinters Steuer, drehte den Zündschlüssel um. Bei noch offenstehender Tür warf er den Gang hinein und gab Gas.
Die Vorderräder drehten durch, dann schoss der Wagen vorwärts. Schneestaub wirbelte ins Innere.
Er zerrte die Tür zu, schaute hastig in den Rückspiegel.
Der Oberst hatte sich von dem Tritt erholt. Soeben versuchte er sich aufzurappeln. Dabei tastete er unübersehbar im Schnee nach seiner Waffe.
Ein Blick nach vorn zeigte Bauerfeind, dass sich der Wagen der Wegbiegung näherte.
Den Schuss aus Führmanns Pistole, die dieser mittlerweile gefunden hatte, hört er nicht. Doch der Durchschlag des Projektils neben der rechten C-Säule, wie auch der Einschlag im Deckel des Handschuhfachs war nicht zu leugnen. Zugleich sah er im Rückspiegel den mehrmals auf ihn feuernden Oberst auf und ab springen.
Als der Wagen endlich hinter der Biegung anlangte, verlor Führmann das Ziel für seine Waffe endgültig aus den Augen.
Kurz entschlossen stoppt Bauerfeind ein Stück weiter das Gefährt. Er sprang hinaus, zerrte die private Reisetasche des Obersten vom Rücksitz und warf sie auf den Weg. Über diese Handlungsweise vermochte er sich in diesem Augenblick keine Rechenschaft zu geben. Er tat es einfach.
Daraufhin raste er mit dem Wagen auf dem Waldweg voran. Bis zur Hauptstraße, wo er abrupt anhielt.
Seine schweißigen Hände umkrampften das Steuer, er rang heftig nach Luft. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ihm wurde übel.
Denn soeben hatte er begriffen, dass er vor wenigen Augenblicken dem Tode entronnen war!
Worauf verdammt noch mal hatte er sich da nur eingelassen?
Doch etwas anderes hatte ihn ebenfalls veranlasst, den Wagen zu stoppen.
Neben der Stelle, wo der Waldweg in die Straße nach Göfis einmündete, stand jetzt ein silberfarbener Daimler.
Der zuvor nicht dort gestanden hatte!
Im Mercedes saß keiner. Doch um ihn herum erblickte er im Schnee mehrere Fußabdrücke. Auch frische Spuren von Skiern und Schneestöcken zeichneten sich deutlich ab. Sein Auge folgte den lang gezogenen Fährten der Ski, die zuerst über die Straße, daraufhin auf das Feld führten. Überdies entdeckte er zwei Skifahrer. Schon weit von ihm entfernt glitten sie hinab ins Tal.
Ein Blick in den Rückspiegel ließ ihn aufatmen. Von Führmann war noch nichts zu sehen.
Entschlossen fuhr er wieder an, lenkte nach links in Richtung Feldkirch auf die Straße ein und gab Gas.
Auf der Flucht
Hektisch hatte er den Wagen vorangetrieben, fuhr stets nur knapp unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Kurven ging er bedächtig an. Mehrmals schob die Karre hinten weg. Nur nicht von der Straße abkommen! Nur keinen Fahrfehler begehen, obwohl die Zeit drängte.
Im Gegensatz zum ersten Abschnitt der Rücktour zeigte sich der nördliche Teil des Bregenzer Waldes heute recht unwirtlich. In den Tälern glänzte der Asphalt streckenweise überfroren. Zudem wurde die Straße von breiten, tückischen Schneefahnen überzogen. Es war bisweilen höllisch glatt, höchste Vorsicht schien geboten.
Bauerfeind stöhnte laut. Voller Wut hieb er aufs Lenkrad. Die Ausflüchte, die Führmann gebraucht hatte, die Mär von einem General, alles Lug und Trug. Geistiger Dünnschiss! Nur, um ihn in eine Falle zu locken! Seine Hände zitterten immer noch, je länger er über das Vorgefallene nachdachte. Dass ihm immer noch schier den Atem nahm.
Führmann wäre fast sein Tod gewesen! Und wie hinterhältig er von Anfang an alles geplant zu haben schien. Um ihn, seinen Genossen als Mittel zum Zweck, nach einer erfolgreich manipulierten Geldeinzahlung auf dem Rückweg nach Berlin zu beseitigen!
Er musste heftig schlucken und nochmals hieb er wütend mit der Hand aufs Lenkrad. Für einen kurzen Moment verschwamm die heranrasende Straße vor seinen Augen.
Verdammt! Warum nur vertraute er dem Oberst? Wenn der ihn getötet, seine Leiche den steilen Abhang hinab geworfen hätte, wäre alles für lange Zeit unentdeckt geblieben!
Mehrmals atmete tief durch. Gleichwohl stellte er fest, dass der Druck im Magen langsam nachzulassen schien.
Einem Bedürfnis folgend nahm er den Fuß vom Gas. Er steuerte einen Rastplatz an, der seitlich der Straße mitten im Wald lag. Hastig kletterte er aus dem Wagen. Ein aufmerksamer Rundblick bestätigte ihm seine Einsamkeit.
Sodann zerrte er die Hose auf und schickte einen dampfenden, gelben Strahl weit über die weiße Schneedecke. Vom abnehmenden Druck erleichtert atmete er die kalte Luft tief ein und lauschte der Stille nach, die ihn umgab.
Kurz entschlossen öffnete er den Kofferraum. Da lagen die Koffer! Unbeschädigt. Einer von beiden prall gefüllt mit der Reisetasche, in der die fünf Millionen steckten.
Ja! Alles war real, kein Trugbild narrte ihn!
Das Motorengeräusch eines Autos ließ ihn erstarren. Doch der Wagen fuhr vorn auf der Straße vorbei.
Spontan fasste er einen Entschluss. Das viele Geld, das ihm fast das Leben gekostet hätte, sollte ihm von nun an in seinem Leben weiterhelfen.
Dafür würde er von der Bildfläche verschwinden und woanders neu beginnen.
Bis gestern Morgen vor Antritt dieser verhängnisvollen Fahrt zeigte er sich darüber noch unentschlossen. Doch jetzt unter veränderten Bedingungen und mit einem Haufen Geld stand es für ihn fest.
Gewissenhaft verklebte er das Einschussloch am Wagenheck mit schwarzem Klebeband, das im Handschuhfach lag.
Die Tasche mit dem Geld nahm er aus dem Koffer, stellte sie zurück in den Kofferraum. Auch den zweiten Koffer, in dem nur der leere Segeltuchsack steckte, zerrte er heraus. Die Klappe drückte er zu.
Lauschend schaute er sich um, musterte das Umfeld.
Hinter der Baumgruppe, die den Parkplatz zur anderen Seite hin begrenzte, befand sich offenbar ein Abhang.
Mit den Gepäckstücken in der Hand drängte er sich durch die niedrigen Bäume, von denen der Schnee auf ihn herab stob.
Unvermittelt stand er vor einem hüfthohen Holzgeländer, hinter dem es steil bergab ging. Nach einem langen, prüfenden Blick in die Tiefe, holte er weit aus. Kraftvoll schleuderte er beide Koffer nacheinander in die Schlucht, wo sie unter schneebedeckten Baumwipfeln verschwanden.
Danach lief er zurück, sprang sofort in den Wagen.
Vorwärts! Nur weiter und weg von hier! Er gab Gas.
In seinem Kopf kreisten unzählige Gedanken. Wie sollte er jetzt handeln? Was würde er als Nächstes tun? Eine Welle tiefsten verloren Seins schoss für einen kurzen Moment in ihm empor, ließ die Straße vor seinen Augen verschwimmen.
Er öffnete das Fenster einen Spalt breit, hielt das Gesicht in den kalten Luftstrom. Langsam durchatmend zwang er sich zu nüchterner Sachlichkeit.
Nachdenken, analysieren, Lösungen finden!
Ihn drängte es nach einem praktikablen Ausweg. Zurück nach Berlin kann ich auf keinen Fall. Auch nicht nach Schwerin! Denn über kurz oder lang dürfte Führmann dort auftauchen. In dessen Augen gelte ich als gefährlicher Mitwisser, der ihn jederzeit bloßzustellen vermag. Der Oberst würde nach dem soeben erlittenen Fehlschlag sofort versuchen meiner habhaft zu werden.
Daher käme eine Rückkehr nach Berlin für mich einem Todesurteil gleich. Zudem scheint es unwahrscheinlich, dass Führmann nochmals solch ein Pech haben würde wie vorhin.
Warum fiel der Misthund eigentlich auf die Schnauze? Egal warum ihm das passierte, das ist jetzt nicht wichtig!
Soviel stand fest. Kehre ich in die Zentrale zurück, befinde ich mich in Lebensgefahr! Auch, wenn ich vor dem Oberst dort auftauchen und berichten könnte was vorgefallen war gefährdete mich das ebenfalls. Denn bei wem soll ich mir Glauben und Gehör verschaffen, wo da alles Drunter und Drüber ging? Und wer stand in dem Chaos, das in der Zentrale herrschte noch unbeeinflusst über Führmann?
Wütend schüttelte er den Kopf. Den Blick fest auf die glatte Straße gerichtet suchte er Auswege aus seiner üblen Lage.
Nein! Das wäre alles reiner Schwachsinn. Unterm Strich betrachtet habe ich doch keinerlei Veranlassung überhaupt nochmal in die DDR zurückzukehren! Dahin, wo sich jetzt alles in chaotischer Auflösung befand! Zudem wartete dort niemand auf mich. Auch bestehen meinerseits für keine Menschenseele in diesem Land irgendeine Verantwortung oder irgendwelche Verpflichtungen.
Noch vor drei Tagen fühlte er sich an einen beschissenen Fahneneid gebunden. Diese letzte Verbindlichkeit, die er einging, hätte ihm heute fast das Leben gekostet!
»Ach was soll’s? «, rief er laut und nahm den Fuß vom Gas, weil ihm ein Fahrzeug entgegenkam.
– So viele Veränderungen finden derzeit ohne mein Zutun statt. Warum sollte ich nicht die Gelegenheit wahrnehmen, um mein Leben vom Grund auf zu verändern? Dahinten im Kofferraum des Wagens liegt genügend Geld für eine neue Existenz! Ich besitze hervorragende Papiere und eine echte Motivation für einen Neustart–.
Wo ihn dieser hinführen würde, das musste er noch heute entscheiden.
Unbehelligt gelangte er bei Bregenz über die Grenze, fuhr weiter in Richtung Nordwesten nach Ravensburg.
Hier, nördlich des Bodensees lagen in der Landschaft nur noch verstreute Schneereste. Die Straßen zeigten sich frei und trocken, die Sonne stand bereits tief.
Am Ortseingang von Ravensburg lenkte er den Wagen gleich an die erste Tankstelle. Er füllte randvoll. Vorsichtig darauf bedacht, dass ihn niemand beobachtete, nahm er einen Hundertmarkschein aus dem Koffer.
Dabei bemerkte er, dass obenauf nur ein einziges Bündel mit Hundertern lag. Alles anderen erkannte er als Fünfhunderter und Tausender. Solche großen Scheine hatte er in echt noch nie gesehen. Geschweige denn in der Hand gehalten!
Nach dem Tanken fuhr er nach Ravensburg hinein. Für die Schönheiten der Stadt hatte er kein Auge.
In einem Buchladen an der Hauptstraße kaufte er einen Autoatlas. »BRD und Westeuropa« stand auf dem Cover.
Es begann bereits zu dunkeln.
Gegenüber der Buchhandlung setzte er sich in ein mollig warmes Café. Dort hockten außer ihm nur drei junge Mädchen an einem der runden Tischchen beisammen und schnatterten.
Er bestellte sich einen großen Kaffee und ein Hörnchen, das die Bedienung als Croissant bezeichnete.
Jetzt brauchte er dringend einen Moment der Besinnung, um seine Gedanken zu ordnen. Und er musste endgültig festlegen, wohin er letztendlich fahren würde!
Denn zumindest eines stand felsenfest: Führmann befand sich längst in der Spur, um ihn und das Geld gnadenlos zu jagen.
Doch der Oberst besaß ein großes Handicap. Er wusste nicht, wohin sich der von ihm Gesuchte aus dem Staube machte! Und er hatte keine Ahnung von dessen französischen Papieren. Ebenso wenig wie über seine privaten Kontakte in Frankreich!
Nach dem ersten Kaffee glaubte Bauerfeind sich so weit gewappnet, dass er einen konkreten Plan fasste.
Er würde nach Paris fahren, um dort eine neue Existenz aufzubauen!
So einfach daher gesagt nahm sich sein Vorhaben etwas großspurig und abgehoben aus. Aber besaß er denn nicht alle Voraussetzungen dafür?
Seine guten französischen Sprachkenntnisse zeigten sich damals in der HVA als ausschlaggebend für seine Auswahl. Er erwies sich als der geeignete Mann für eine Infiltration in Frankreich.
Die jahrelangen, abendlichen Büffeleien auf der Volkshochschule hatten Früchte getragen. Ebenso wie sein häufiges Engagement für die FDJ-Bezirksleitung. Im Besonderen für die Betreuung frankophiler Jugendgruppen zeigte er sich stets bereit.
Dass alles prägte neben der Erweiterung des Sprachschatzes auch sein Wissen. Insbesondere, wie man mit Leuten aus den verschiedenen Schichten der Bevölkerung umzugehen hatte.
Bis Ende Dreiundachtzig befand er sich als Mitarbeiter der HVA-AIII mehrmals über längere Zeit in Paris und Lyon im Einsatz.
Dabei knüpfte er vor allen Kontakte mit Franzosen, die einer bestimmten Zielgruppe angehörten.
Doch darüber hinaus stellte er weitere Verbindungen her, die nicht seinem eigentlichen Auftrag entsprachen.
Bei den Ersteren handelte es sich um systematisch ausgesuchte Leute. Die zeigten sich gewillt, für Geld interne Dinge preiszugeben. Hierbei ging es um Dienstgeheimnisse und vertrauliche Informationen aus Firmen und Ministerien, wo sie beschäftigt wurden.
Die von ihm angeworbenen Informanten wiegte er dabei stets in einem guten Glauben.
So suggerierte er ihnen, dass sie für einen amerikanischen oder britischen Geheimdienst arbeiten würden. Das wirkte auf sie beruhigend und minderte ihre moralischen Bedenken. Vor allen tat es das in Verbindung mit den vielen Dollars und englischen Pfunden, die sie für ihre Informationen erhielten.
Das betraf auch jene gestandenen französischen Patrioten. Die nach außen hin nicht unbedingt eine freundliche Haltung gegenüber den Amerikanern vertraten.
Diese Art der Anwerbung von Informanten galt in der HVA als eine gesicherte Vorgehensweise. Weil sie sich in den kapitalistischen Ländern über viele Jahre bestens bewährt hatte. Denn die wenigsten von denen die als Zuträger oder Informant angeworben werden sollten würden jemals für die DDR arbeiten!
Hingegen für die Amis oder Briten zu schnüffeln rief bei den meisten Informanten keinerlei Skrupel hervor.
Da gab es noch die zweite Kategorie von Franzosen, die er aufwendig recherchierend für seine Dienste gefunden hatte. Die aber präsentierten sich aus anderem Holz geschnitzt.
Einige waren radikal politisch motiviert. Die meisten hingegen halfen ihm aus purem geschäftlichem Kalkül heraus, um für ihn unerlässliche Brücken zu bauen.
Auf diese Menschen setzte er jetzt seine Hoffnungen.
Dennoch konnte und wollte er die Augen nicht vor einem anderen, wenn auch geringen Risiko verschließen.
Oberst Führmann hatte sich stets mit dem beruflichen Vorleben seiner Mitarbeiter beschäftigt. Vor allen mit den von ihnen absolvierten Einsätzen im NSW. Das tat er mit jedem, bevor er ihn zur »Flamme« holte.
Seiner tiefgründigen Kenntnis über die bisherigen Tätigkeiten seiner Mitarbeiter waren jedoch Grenzen gesetzt.
Es lag wohl in der Natur der Sache, dass sich im Ministerium die Abteilungen weitestgehend voneinander abschotteten. Wobei die HVA sich trefflich hervortat.
Das resultierte bei den meisten Bereichen vorgeblich aus der »proletarischen Wachsamkeit«. Die aber im Grunde genommen zumeist nur ein zutiefst egoistisches Erfolgsstreben bemäntelte.
Daher flossen an andere Abteilungen nur so viele Informationen, wie es die Erfüllung einer Aufgabe unbedingt erforderte.
Das betraf vorrangig die Daten von Mitarbeitern, die zuvor bereits an heiklen Aktionen mitgewirkt hatten.
So etwa an »Aktiven Maßnahmen« in NATO-Staaten.
»Die Wichser machen schon wieder dicht!«, schrie Führmann eines Tages, wie er sich erinnerte. Der Oberst schäumte nahezu vor Wut, da ihm eine andere Abteilung das angeforderte Datenmaterial vorenthielt.
Nach einem Blick auf die Uhr ließ sich Bauerfeind von der hübschen, schwarzhaarigen Bedienung einen zweiten Kaffee bringen.
Er benötigte noch etwas mehr Zeit für seine Überlegungen.
Sein Partner bei den Einsätzen in Frankreich hieß Erich Ehlert. Ein eigenwilliger Typ, Mitte der Dreißig, Raucher und Trinker. Doch aus den Erfahrungen dieses bulligen Gemütsmenschen zog er hohen Nutzen.
In Paris arbeiteten beide nicht gemeinsam, sondern parallel und mit unterschiedlichen Aufgaben. Ihre enge Verbindung, die ungeachtet dessen entstand, war nicht nur ungewöhnlich. Sie hätte ihnen schaden können! Denn als eiserne Regel galt immer, dass man im Ausland allein tätig war. Außer, dass man als Paar eingesetzt wurde.
Dessen ungeachtet erwies ihm Ehlert einen unschätzbaren Dienst. Er beschaffte ihm einen zweiten französischen Pass samt Führerschein. Ebenso die passende Legende. »Damit bist du für alle kommenden Eventualitäten gewappnet!«, sagte der Rostocker bei der Übergabe der Papiere und grinste breit. »Behalte sie unter Verschluss und setzte sie nur bei Gefahr ein!«
Er wusste von einem Vorkommnis in der HVA, wobei ein Mitarbeiter in Schweden aufgeflogen war. Und das nur, weil seine falsche Identität von seinem Partner verraten wurde. Woraufhin man ihn beim Grenzübertritt schnappte.
Seit dem trug Ehlert bei seinen Einsätzen in Frankreich immer einen zweiten Satz Papiere bei sich. Die benutzte er bei den Kontrollen an den Grenzen. Von diesen Ausweisen wusste man in der HVA nichts. Er ließ sie in Lyon auf eigene Kappe anfertigen. Dafür nutzte der Rostocker einen seiner undurchsichtig wirkenden Kontakte. Den er ihm später selbst vermittelt hatte.
Zu dieser Zeit kam in ihm kurz der Verdacht auf, dass Ehlert auf zwei Schultern trüge. Es tat sich in der Folge jedoch nichts, was es bestätigen konnte.
Als ihn vor drei Tagen der Ruf aus Berlin erreichte, nahm er seine gefälschten französischen Papiere daheim aus dem Versteck. Die packte er ebenfalls in seinen Beutel. Bei den Erinnerungen an Ehlert, die in ihm dabei aufkamen, befiel ihn eine leise Traurigkeit.
Keiner der Genossen in der HVA und später in der HA, durfte Kenntnis von ihrer freundschaftlichen Beziehung haben. Der Grund dafür lag nicht nur darin begründet, dass beide gegen die Regeln der Konspiration verstießen.
Während ihrer Zeit in Paris erwies ihm Ehlert auch einen etwas ungewöhnlichen Dienst. Er nahm ihn in der ruchlosen Welt der sexuellen Verführungen unter seine Fittiche.
Dabei machte er ihn eines Tages mit Susanna bekannt.
Die schwarzhaarige, großäugige Tochter eines Franzosen und einer Marokkanerin empfing beide in ihrem Apartment. Das befand sich nahe dem Musée du Louvre.
Der Anblick ihres biegsamen, schlanken Körpers erregte ihn bereits, als sie noch dieses lange, rote Kleid trug.
Alle drei tranken Champagner, den er sich zuvor nie geleistet hatte.
Niemals bisher erlebte er eine derart heißblütige Frau. Zumal gemeinsam mit einem anderen Mann.
Indessen Susanna nackt auf ihm ritt bediente sie Ehlert, der dicht neben ihnen stand mit ihrem kirschroten Mund.
Später besuchte er sie noch einige Male allein, zahlte stets den geforderten Preis. Was ihm davon blieb, waren die zugewonnenen Erfahrungen und Fertigkeiten, mit denen ein Mann eine Frau bis zur Ekstase befriedigen vermag.
Die Verbindung mit Ehlert hielt er weiterhin geheim. Auch noch, nachdem der Freund vor mehr als einem Jahr über Großbritannien bei irgendeinem Einsatz tödlich verunglückte.
Zuvor hatte er ihn nochmals im Ministerium getroffen, wo er aus der Ukraine kommend zum Rapport antreten musste. Er begegnete Ehlert zufällig auf dem Flur. Erstmals seit langer Zeit kreuzten sich dabei ihre Wege.
Der frühere Partner schien in Eile zu sein. Nachdem er sich misstrauisch umgeschaut hatte, raunte er ihm nur einige Worte zu. »Ich muss weg, fliege morgen über den großen Teich! Doch ich melde mich bei dir, wenn ich zurück bin. Versprochen!« Dann war er weg.
Am darauf folgenden Tag, dem einundzwanzigsten Dezember Achtundachtzig, explodierte eine Bombe an Bord einer Boeing 747-10 der Pan American World AW. Sie stürzte über Lockerbie in Schottland ab. 270 Menschen fanden den Tod.
Befand sich Ehlert unter den Opfern? Auch, wenn er fraglos einen anderen Namen trug? Auf diese Frage gab es keine Antwort. Der Freund blieb spurlos verschwunden.
Bauerfeind war zu einem Entschluss gekommen. Er zahlte, verließ das Café und fuhr in Richtung Stadtgrenze.
Abendnachrichten
Hinter dem Nachrichtensprecher hatte man ein Foto eingeblendet. Es zeigte ein Polizeifahrzeug auf einer verschneiten Straße. Davor konnte man zwei am Boden liegende, mit weißen Laken abgedeckte Personen erkennen.
Der Moderator las vom Blatt: »Hier eine Meldung der Landespolizei aus dem Vorarlberg. Dort wurde heute am frühen Nachmittag, unweit von Feldkirch an der Straße Richtung Göfis, ein Polizeifahrzeug mit laufendem Motor aufgefunden. Neben dem Wägen lagen die Leichen von zwei Polizeibeamten. Diese hätten sich auf einer Dienstfahrt befunden.« Der Kommentator warf einen raschen Blick in die Kamera, bevor er weitersprach. »Die Landespolizei bildete sofort eine Sonderkommission zur Untersuchung dieser Bluttat. Was sich an dieser Straße abspielte, die zu dieser Jahreszeit wenig befahren wird, ist noch unbekannt. Zum Täter sowie zur Ursachen für die Gewalttat hat die Polizei noch keine Erkenntnisse. Gesichert ist nur, dass die Beamten aufgrund einer telefonischen Anzeige ausrückten. Dem gemäß soll in Göfis eine Familienstreitigkeit unter Alkoholeinfluss im Gange gewesen sein. «
Ebenso, wie der Tankstellenpächter, starrte Bauerfeind interessiert auf den Fernseher. Der hing in Kopfhöhe hinter dem Verkaufstresen.
Hastig würgte er das letzte Stück des belegten Brötchens herunter. Das hatte er hier zuvor gekauft, um es auch gleich zu essen.
Obwohl in Eile, musste er vorhin einen kurzen Stopp einlegen. Plötzlich hatte ihn ein heftiges Hungergefühl befallen. Zudem fand er im Wagen nichts zum Trinken.
Er nickte dem Pächter zu, nahm die Wasserflasche vom Stehtisch und verließ den hell erleuchteten Kundenraum.
Draußen, unter dem Vordach bei den Tanksäulen, schaute er sich aufmerksam um. Dann ging er die wenigen Schritte ins Dunkle, wo er den »Opel« abgestellt hatte.
Die Nachricht, die er soeben im Fernsehen mitbekommen hatte, beschäftigte und beunruhigte ihn zugleich.
Konnte es sein, dass es sich dabei um den selben Ort handelte, wo er sich mit Führmann am frühen Nachmittag aufhielt? Und wo er mutmaßlich dem sicheren Tod von der Schippe sprang?
Er schwang sich in den Wagen, schaltete die Scheinwerfer ein, gab Gas und fuhr auf die Bundesstraße.
Von jetzt an galt es für ihn, seine Spuren zu verwischen!
Strikt folgte er der Marschroute, die er zuvor in dem Café auf der Karte festgelegt hatte. Abwechselnd benutzte er Fernstraßen und Landstraßen. Über Sigmaringen, Albstadt und Balingen ging es weiter in Richtung Nordwesten.
Um nicht einzuschlafen, ließ er im Wagen das Autoradio an. Noch immer hörte er den von Führmann am Morgen eingestellten österreichischen Sender.
Während dessen man die Spätnachrichten sendete, wobei die Worte Vorarlberg und Feldkirch fielen, wurde Bauerfeind hellhörig. Rasch drehte er die Lautstärke hoch, nahm sogar den Fuß vom Gas.
Die Meldung wurde eine Stunde später wiederholt. Da er die Sache zuvor am Fernseher verfolgt hatte, gab sie ihm erneut Anlass zu intensiven Überlegungen.
Ort und Zeit kann doch kein Zufall sein, dachte er. Hatte Führmann dabei seine Finger drin gehabt?
Er suchte sich zu beruhigen. Was dort im Österreich passiert war, das würde er die nächsten Tage in der Zeitung nachlesen können. Jetzt hatte er andere Sorgen.
Tief in der Nacht erreichte er Freudenstadt, wo er sich in einem kleinen Motel am Stadtrand einmietete. Die Tasche mit dem Geld nahm er aus dem Kofferraum mit.
Der verschlafene, zottelhaarige Typ an der Rezeption fragte nicht nach seinen Personalien. Hauptsächlich, weil er ihm den geforderten Übernachtungspreis in bar auf den Tresen legte.
Bevor er sich ins Bett legte, prüfte er ob Fenster und Tür des Zimmers verschlossen waren. Durchgeladen und gesichert schob er die Makarov unters Kopfkissen.
Wider seiner Vermutung schlief er, nachdem er geduscht hatte, sofort ein.
Immer weiter westwärts (am 08.Januar 1990)
Am nächsten Morgen gönnte sich Bauerfeind ein rasches Frühstück aus einem der Automaten im Frühstücksraum. Die Tasche behielt er dicht bei sich. Anschließend fuhr er gleich los.
Zum Glück war auch in dieser Nacht kein Schnee gefallen, obwohl ein leichter Frost alles mit Raureif überzogen hatte. Daher rückten schon früh am Morgen die Fahrzeuge vom Straßendienst aus, um die Hauptstraßen mit Lauge zu beglücken.
Mit der gebotenen Vorsicht vermochte er den Schwarzwald zügig in westlicher Richtung zu durchfahren. Der Anblick der verschneiten Bergwälder entlang der Strecke erfüllte ihn mit sanfter Wehmütigkeit.
Wie gern würde er, unter anderen Umständen, diese bezaubernde Landschaft zu Fuß erkunden.
Über Oberkirch und Appenweier ging es hinab ins Rheintal. Dort lagen die Temperaturen spürbar höher. Der Schnee war bis auf klägliche Reste verschwunden.
Dicht am gebotenen Limit fuhr er nach einem nochmaligen Tankstopp auf der Autobahn Richtung Süden. Immer der Sonne entgegen.
Am frühen Nachmittag hatte er Freiburg erreicht.
Zielgerichtet und unauffällig erkundete er die Örtlichkeiten. Dabei peilte er zuerst die Lage an den Ortsumfahrungen. Auch an den Einfallstraßen der Stadt schaute er sich um. Bald fand er, wonach er suchte.
Es war bereits dunkel geworden, als er sich für eine Nacht in einer bescheidenen Pension einmietete. Er entdeckte sie in der Nähe des Hauptbahnhofes.
Gleich bei seiner Ankunft zahlte er die Übernachtung in bar.
Die ältliche Pensionswirtin saß mitsamt ihrem Pekinesen und einer Tasse Tee in einer schmalen Portiersloge.
Ihre neugierigen Fragen wehrte er höflich aber bestimmt ab.
Mit dem Schlüssel in der Hand stieg er ins Obergeschoss der Pension und öffnete das Zimmer. Seinem Beutel entnahm er nur das Waschzeug. Anschließend verließ er die Übernachtungsstätte, wobei ihn die Wirtin nicht bemerkte. Den Hund im Arm haltend schnarchte sie vernehmlich.
Die paar hundert Meter zum Bahnhof fuhr er mit dem Wagen, parkte ihn auf dem Vorplatz. Die Tasche mit dem Geld nahm er aus dem Kofferraum.
Zielstrebig den Hinweisschildern folgend durchquerte er die Bahnhofshalle. Die Bagage schloss er in einem Gepäckfach ein. An einem der Schalter kaufte er einen Fahrschein. Für die 2. Klasse nach Amsterdam. Die Abfahrtzeit des von ihm ausgewählten Zuges prägte er sich ein.
Einem wachsenden Drang nachkommend suchte er die Toiletten am Rande der Halle auf. Ein einsamer, kleiner Teller auf einem Tisch im Vorraum, kein Toilettenwärter zu sehen.
Er betrat die Anlage für »Herren« und hielt überrascht inne. Wegen der offen stehenden Tür einer der Kabinen sah er darin zwei Männer in enger Umarmung.
Kopfschüttelnd trat er an eines der Pissbecken und ließ den Dingen freien Lauf. Bevor er die Hose wieder schließen konnte, beugte sich von hinten jemand zu ihm hin.
»Lass’ ihn doch gleich draußen, schöner Bursche!«, raunte ein langhaariger, älterer Mann. Entzückt schaute er ihn an und streckte die langen Finger nach unten aus.
Er stieß den Spanner so heftig gegen die Brust, dass er zurücktaumelte und zwischen zwei Pissoiren zu Boden rutschte.
Hastig verließ er Toilette und Bahnhofshalle.
Jetzt musste er nur noch den Wagen verschwinden lassen.
Er fuhr zu dem Schrottplatz, den er bei seiner Stadterkundung entdeckt hatte. Dieser lag einsam neben einem Wäldchen am Stadtrand. Wohnhäuser befanden sich nicht in der unmittelbaren Nähe.
Diese Schrottdeponie glich mehr einem Autofriedhof. Am Nachmittag hatte er sie von der Straße aus geraume Zeit beobachtet. Dabei bemerkte er, dass der ältere Betreiber eine winzige Holzbude als Büro nutzte. Andere Baulichkeiten, die sich als Unterkunft eigneten, konnte er nicht entdecken.
Ohne Probleme erreichte er sein Ziel. Gut einhundert Meter vor dem Schrottplatz löschte er die Scheinwerfer. Langsam ließ er den Wagen das letzte Stück im Leerlauf heranrollen. Das doppelflügelige Metalltor im übermannshohen Maschendrahtzaun wurde nur mit einem schlichten Vorhängeschloss gesichert.
Er öffnete es innerhalb weniger Augenblicke.
Daraufhin fuhr er den Opel auf den Platz.
Er stellte den Motor ab und stieg aus. Für einen Moment blieb er lauschend neben dem Wagen stehen.
Ringsum herrschte Stille, nur in der Ferne bellte ein Hund. Er glitt ins Auto zurück und zog die Tür leise heran.
Bedächtig und ohne Licht fuhr er erneut an.
Zwischen den Schrotthaufen und Containern lagen noch Schneereste. Jetzt, da es frostig geworden war, knirschte der Boden unter den Reifen.
Am Ende des Platzes stellte er den Opel endgültig hinter aufgestapelten Autowracks ab.
Leise stieg er aus, lauschte wieder einen Augenblick.
Todesstille herrschte ringsum. Wenige Meter entfernt begrenzte der Maschendrahtzaun das Gelände. Nur ein paar Schritte weiter begann das dichte Waldstück.
Hastig schraubte er die beiden Nummernschilder ab und bog sie zusammen. Daraufhin kontrollierte er nochmals den Wagen. Im Innenraum lag nichts herum. Das Handschuhfach bot sich ebenso wie der Kofferraum mit gähnender Leere dar.
Für die Beseitigung der Motornummer und Fahrgestellnummer fehlten ihm die Mittel. Es wäre auch zu laut dabei geworden.
Mit der Entfernung aller offensichtlichen Attribute hatte er in der gebotenen Eile das Mögliche getan. Zudem bestückte man den Wagen von vornherein nur mit den unerlässlichen Dingen.
Würde er schon morgen entdeckt werden, bedeutete das keinen Beinbruch. Denn warum sollte sich der Betreiber des Schrottplatzes veranlasst fühlen, ein unerwartet bei ihm abgestelltes Fahrzeug der Polizei zu melden? Nur weil er es nicht selbst angekauft hatte?
Er wäre doch blöd, diesen Zuverdienst auszuschlagen.
Leise, mit einem Blick für die Umgebung, verließ er den Schrottplatz. Vorsichtig drückte er das Vorhängeschloss zu und schlug den Rückweg ein.
Unweit der Bushaltestelle bei einer Reihenhaussiedlung standen einige Müllcontainer. Die hatte er ebenfalls am Nachmittag entdeckt.
In einen von ihnen verbarg er die Nummernschilder unter Holzabfällen und Sperrmüll. Sollte man sie entdecken, entstünde dadurch kein Problem. Sie worden ohnehin gefälscht!
In den kleinen Häusern ringsum zeigten sich viele Fenster beleuchtet. Entlang der Straße konnte er keinen Menschen erblicken. Nur ein rasch fahrendes Auto überholte ihn.
Er hatte Glück. An der Haltestelle brauchte er nicht lange zu warten, bis der Bus kam. Am Hauptbahnhof stieg er wieder aus und ging das letzte Stück zur Pension zu Fuß.
Nach einer unruhigen Nacht quälte sich Bauerfeind am nächsten Morgen rechtzeitig aus dem Bett.
Nach einer raschen Morgentoilette, ohne ein Frühstück und mit dem Beutel über der Schulter, verließ er die Pension in Richtung Bahnhof.
Dort holte er die Reisetasche aus dem Schließfach.
Danach blieben ihm noch fünfzehn Minuten Zeit bis zur Einfahrt seines Zuges.
Zur ersten Mahlzeit des Tages erhob er einen heißen Kaffee und ein belegtes Brötchen. Beides nahm er hastig an einem Kiosk auf dem Bahnsteig zu sich.
Wenig später bestieg er einen Waggon des Zuges, der von Bern kommend nach Amsterdam fuhr. Im Zugbistro genehmigte er sich eine Flasche Bier. Daraufhin suchte er sich ein freies Abteil.
Fast die gesamte Fahrt verschlief er. An die Tasche in der Ecke des Fensterplatzes gelehnt, den Beutel oben in der Ablage. Die Waffe steckte schussbereit in seiner Brusttasche.
Nur der Schaffner weckte ihn auf seiner Runde, um die Fahrkarte zu verlangen. Ob es anderweitige Kontrollen gab, das entzog sich seiner kühnen Spekulation.
Am späten Nachmittag erreichte der Zug den Bahnhof »Amsterdam Centraal« in den Niederlanden. Die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen in die große Bahnhofshalle, als Bauerfeind an einem der vielen Schalter eine Fahrkarte nach Paris löste.
Schon eine Stunde später sollte sein Zug fahren.
An einem Imbiss auf dem Bahnsteig kaufte er sich einen Burger und einen heißen Tee. Der Verkäufer starrte ihn einen kurzen Augenblick mit unbewegter Mine an. Dann steckte er den Zehnmarkschein wortlos ein.
Im Zug saß er erneut allein in einem Abteil.
Die Vorhänge zum Gang hin zog er gleich zu. Nachdem der Schaffner seine Fahrkarte kontrolliert hatte, wurde er bis zu seinem Ziel von niemandem mehr gestört.
Vom sanften Rhythmus der Räder in den Schlaf gewiegt verbrachte er die Nacht auf dem Fensterplatz. Nur zweimal, fest an seine Tasche gepresst, öffnete er kurz die Augen und schaute um sich.
Sehr früh am Morgen des neuen Tages rollte der Zug ins Zentrum von Paris. Das noch von tausenden Lichtern erhellte wurde und soeben zum Leben erwachte.
Frank Bauerfeind hatte seinen angestrebten Fluchtpunkt erreicht.