Читать книгу Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher - Страница 3
1.
ОглавлениеDer Regen war mittlerweile noch stärker geworden.
An vielen Stellen hatten sich auf der Bahn große Mengen Wasser gesammelt, das nicht mehr ablaufen konnte und das Fahren mit hoher Geschwindigkeit lebensgefährlich machte. Die Autos zogen dichte Wasserfahnen hinter sich her, und wenn er einen Lastwagen überholte, war ihm für Sekunden jede Sicht genommen. Dennoch verringerte er die Geschwindigkeit nicht.
Er würde nicht mehr anhalten, dachte er; nun hatte er diesen Schritt getan, und es gab kein Zurück mehr. Und plötzlich schämte er sich wegen der trotzigen Endgültigkeit, die in diesem Satz lag; es kam ihm so vor, als sei dieser fast kindische Trotz mittlerweile das einzige, was seine Person noch zusammenhielt.
Am Morgen war er nach Arnhem gefahren, um Michel aufzusuchen, fest entschlossen, einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen. Wenn es hart auf hart kommt, dann bin ich jederzeit für dich da, das hatte Michel ihm schließlich nicht nur einmal gesagt. Er lachte gereizt: Jederzeit für dich da! Was hieß das denn schon? Gar nichts. Ein Satz, geäußert in der unverbindlichen Atmosphäre einer Kneipe, dummes, bierseliges Gerede, das zu gar nichts verpflichtete. Das hatte er heute morgen schließlich erlebt.
Schon seit Tagen hatte er vergeblich versucht, Michel telefonisch zu erreichen. Zunächst wie gewohnt nur von der Arbeit aus; aber schließlich war ihm diese Vorsichtsmaßnahme albern vorgekommen, und er hatte auch von zu Hause aus Michels Nummer gewählt. Allerdings nur nachts, wenn Lisa längst schlafen gegangen war.
Michel konnte ihn nicht anrufen. Er hatte ihm seine Telefonnummer natürlich nicht gegeben. Selbst als Michel einmal von „deiner Wohnung in Essen“ gesprochen hatte, hatte er nicht widersprochen. Allein die Vorstellung, dass Michel seine Privatadresse kannte, war ihm einfach unerträglich gewesen. Er selber hatte schließlich viel mehr zu verlieren als Michel, davon war er immer überzeugt gewesen.
Dass Michel in Arnhem wohnte, das hatte er hingegen bereits am Tag ihres Kennenlernens erfahren. Schon von der Autobahn war das riesige Hochhaus zu sehen, das Michel bei ihrem ersten Treffen, fast entschuldigend oder als schäme er sich dafür, als kippenhok, als Hühnerstall, bezeichnet hatte.
Wie immer so hatte auch heute morgen die Haustür offen gestanden, war er über den Außenbalkon in der dritten Etage bis zur Wohnungstür gelaufen. Und dann hatte er zunächst geglaubt, sich im Stockwerk geirrt, irgendwo in dem riesigen Betonkasten die Orientierung verloren zu haben, hatte den Irrtum auf die schlaflose Nacht, den Alkohol und die Auseinandersetzung mit Lisa geschoben. Dabei war von Beginn an ein Zweifel ausgeschlossen gewesen: das neue Namensschild mit dem fremden Namen war nämlich viel kleiner gewesen; und deutlich waren noch die Umrisse des Schildes mit dem vertrauten Namen auf dem grauen Beton zu erkennen gewesen: M.Rijnders. Dennoch war er völlig konsterniert weitergelaufen, hatte schließlich die Namensschilder in mehreren Etagen überflogen, und erst, als er davon überzeugt gewesen war, dass nun alle Leute in dem riesigen Gebäude auf sein seltsames Verhalten aufmerksam geworden sein mussten, hatte er das Haus verlassen, war in seinen Wagen gestiegen und in die Innenstadt gefahren.
Eine halbe Stunde lang war er wie ein geschlagener Hund durch die Straßen der Arnhemer Innenstadt gelaufen, dann hatte er es nicht mehr ertragen können. Nach all dem, was zwischen ihnen geschehen war, zog man doch nicht einfach aus, verschwand man nicht einfach sang- und klanglos in der Versenkung, ohne dem anderen auch nur Aufwiedersehen gesagt zu haben. Seit ihrem letzten Treffen waren nicht einmal sechs Wochen vergangen, und schließlich hatte er sich sogar noch einmal einreden können, wegen seiner Übermüdung irgendwo in dem riesigen Haus ganz einfach die Orientierung verloren zu haben.
Dem war aber nicht so gewesen. Noch immer hatte er an der vertrauten Stelle das Schild mit dem fremden Namen vorgefunden. Nach langem Zögern hatte er endlich mehrfach auf den Klingelknopf gedrückt. Den Klang der Schelle, die bis auf den Außenbalkon zu hören war, hatte er jedenfalls sofort wiedererkannt.
Und dann war da diese Farbige gewesen.
Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche einen gewissen Michel Rijnders. Er hat bis vor kurzem hier gewohnt.
Die Frau hatte ihn nur ängstlich angesehen. Sorry, hatte sie schließlich in staccatohaftem Englisch gesagt, I don't speak Dutch. I know I have to learn it but I don't speak Dutch. Not yet.
Dann hatte auch er sein Schulenglisch bemüht, aber es war zu dem gleichen Ergebnis gekommen.
I don't know. I can't help you.
How long have you been living here?, hatte er noch mehrfach gefragt, aber jedesmal hatte die Frau nur ängstlich die Schultern gehoben. Sorry, but I can't help you.
Er war wieder zu seinem Wagen zurückgelaufen und ohne weiter nachzudenken einfach losgefahren. Es war ein Automatismus gewesen, und erst als er auf der Autobahn das Hinweisschild auf die Grenze erblickt hatte, war er umgekehrt.
Es gab kein Zurück mehr. Soviel war jedenfalls sicher. Nach der vergangenen Nacht gab es kein Zurück mehr. Du musst dich einfach selber unter Zugzwang setzen, hatte Michel gesagt; du musst nach außen gehen, einen Punkt erreichen, von dem aus es nur noch vorwärts gehen kann. Und dann wirst du selber erstaunt sein, wie schnell diese Entwicklung gehen wird.
Noch einmal lachte er ironisch auf. Diesen Punkt hatte er inzwischen ganz offensichtlich erreicht.
Es konnte in Arnhem kein Krankenhaus geben, das er heute nicht gesehen hatte. Michel war Krankenpfleger, und irgendwann war ihm die Idee gekommen, Michel an seinem Arbeitsplatz zu suchen. Vielleicht war der Junge umgezogen, hatte er heute morgen noch gedacht; aber den Arbeitsplatz gab man schließlich nicht so leicht auf.
Mithilfe seines Stadtplanes hatte er die Krankenhäuser abgehakt. Beim erstenmal war es ihm peinlich gewesen, sein Anliegen vorzubringen, dann war es fast zur Routine geworden. Erst im sechsten oder siebten Anlauf, einem kleinen Haus, das gar nicht auf dem Stadtplan vermerkt, sondern ihm von einem hilfsbereiten Pförtner eines anderen Hauses genannt worden war, hatte er Michels Arbeitsplatz gefunden. Zumindest seinen ehemaligen. Ein äußerst reservierter Personalchef hatte ihm kurz und knapp mitgeteilt, dass ein gewisser Michel Rijnders mit Ablauf des vergangenen Jahres seinen Arbeitsplatz in diesem Haus aufgegeben habe; wenn er kein Verwandter sei, könne er aus verständlichen Gründen keine weiteren Auskünfte über Herrn Rijnders geben. Erst nach peinlichem Hin und Her hatte der Mann ihm gesagt, dass Michel nach Schagen verzogen sei.
Schagen? Wo liegt das denn?
Schagen ist eine kleine Stadt in Nordholland. Zu weiteren Auskünften war der Mann nicht bereit gewesen.
Sofort hatte er im Wagen auf seiner Landkarte den Ort gesucht, und dann war er losgefahren.
Wenn es hart auf hart kommt, dann bin ich jederzeit für dich da: es war wirklich lächerlich!
Unverbindlich, das war die passende Charakterisierung für Michel! Unverbindlich. Der wusste alles, konnte alles, machte alles, ohne dass es ihn selber irgend etwas kostete. Und wenn es ihn doch etwas kosten konnte, dann machte er sich aus dem Staub. Vor allem gab er gerne Ratschläge, um die niemand ihn gebeten hatte. Du musst mit Leuten sprechen, die in der gleichen Situation stecken wie du. Im Augenblick denkst du natürlich, dass deine Situation einmalig ist, aber das ist sie nicht. Bei uns gibt es spezielle Gesprächsgruppen für Leute wie dich; so etwas muss es doch auch bei euch geben. Er hatte es Michel geradezu verbieten müssen, sich nach vergleichbaren Gruppen irgendwo im Ruhrgebiet umzusehen. Vielleicht, dachte er nun, lag es nur daran, dass Michel über zehn Jahre jünger war; aber dann zog er es vor, sich über die mögliche Unreife eines 26 Jährigen weiter keine Gedanken zu machen.
Noch immer goss es in Strömen, und in den lang gezogenen Kurven blendeten ihn die Scheinwerfer der Wagen auf der Gegenfahrbahn. Die Gegend ringsum lag im Dunklen und ging wahrscheinlich gerade in den Wassermassen unter. Den Hinweisschildern neben der Fahrbahn war zu entnehmen, dass er sich kurz vor Utrecht befand.
Wie oft war er eigentlich nach Arnhem gefahren? Achtmal, neunmal, zehnmal? Er wusste es nicht genau. Um es genau sagen zu können, müsste er nur die Zahl seiner freien Tage in Erfahrung bringen, von denen er Lisa nichts gesagt hatte. Und den Samstag vor acht Wochen hinzuzählen, an dem er sich mit Michel verabredet hatte, weil er die vorweihnachtliche Familienatmosphäre nicht mehr hatte ertragen können. Er war so ausgelaugt gewesen, dass er sich nicht einmal eine plausible Erklärung für diesen Tag zurechtgelegt hatte.
Wo willst du denn hin?, hatte Lisa gefragt, und er hatte nichts sagen können. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand der Adventskranz, in einer Holzfigur auf dem Fernseher verbrannten Unmengen von Räucherkerzen in zwei Holzfiguren aus dem Erzgebirge, und Lisa wollte am Nachmittag mit den Kindern Weihnachtsplätzchen backen.
Ich muss einfach noch mal raus, mir ist nicht gut.
Wo willst du denn hin?
Er hatte insgeheim gehofft, sie würde endlich skeptisch werden, wisse womöglich alles schon oder würde ihn nun zumindest zur Rede stellen, um alles in Erfahrung zu bringen, was er ihr wegen seiner Feigheit nicht sagen konnte.
Ich kann nicht mehr, hatte er Michel gleich bei seiner Ankunft in Arnhem in den Ohren gelegen; und wenn ich an Weihnachten nur denke, dann werde ich wahnsinnig.
So geht das nicht mehr weiter. Zum ersten Mal war Michel ihm gegenüber energisch geworden. Du musst es ihr jetzt endlich sagen. Das hat doch auch mit mir zu tun, und wenn du es ihr nicht sagst, dann tu ich es.
Wenn du das tust, bringe ich dich um.
Das war noch einer der freundlicheren Sätze gewesen, die sie sich bei diesem Treffen gegenseitig zugemutet hatten. Ihr letzter gemeinsamer Tag war zur Katastrophe geworden.
Die Rückkehr am späten Abend nicht.
Die Familie hatte inzwischen die angedrohten Weihnachtsplätzchen gebacken, er selber hatte in der Stadt angeblich einen alten Studienkollegen getroffen, und alles war wie immer in bester Ordnung gewesen. Zunächst hatte er geglaubt, Lisa sei wütend auf ihn und wisse inzwischen natürlich alles, nähme lediglich noch Rücksicht auf die Kinder; aber dann hatte er schnell gemerkt, dass sie völlig ahnungslos und gleichgültig war. Und noch am gleichen Abend hatte er sich auch diesen Samstag auf seine ganz eigene Weise zurechtgelegt: Lisa traute ihm so etwas überhaupt nicht zu, weil sie ihn insgeheim für einen Trottel, einen mickrigen Spießer, eine Null hielt. So wie heute morgen.
Auch heute morgen hatte sie gefragt, wo er denn nun eigentlich hin wolle.
Das ist doch völlig gleichgültig.
Ach, es ist dir also völlig gleichgültig, wohin du nun gehst!
Ja, es ist mir völlig gleichgültig.
Sie hatte fast hysterisch gelacht. Soll ich dir mal was sagen! Mir ist das alles schon so lange völlig gleichgültig. Deine Mätzchen bin ich nämlich leid. Warum sollst du denn weggehen, und ich muss mit drei Kindern hier bleiben? Ich gehe weg. Ich schmeiße die Brocken hin.
Geh doch, hatte er gesagt. Geh doch weg.
Als er dann in den Wagen gestiegen war, hatte Lisa ihn nur völlig verblüfft angesehen.
Sag mal, bist du verrückt geworden?
Nein, bin ich nicht. Dann hatte er den Motor gestartet.
Du hast doch wirklich keinen Kopp und keinen Arsch!
Das war ihre Bemerkung gewesen, die es ihm endlich ermöglicht hatte, ihr Gespräch für beendet anzusehen und wegzufahren. Einen kleinen Koffer hatte er schon Tage zuvor gepackt und heimlich im Kofferraum verstaut. Der Stadtplan von Arnhem hatte bereits seit Wochen im Handschuhfach gelegen und war ihm oft vorgekommen wie der Passierschein, mit dem er jederzeit das miese Theaterspiel verlassen konnte, in dem er sich seit Wochen befand.
Keinen Kopp und keinen Arsch!, hatte Lisa ihm scheinbar ohne jede Rücksicht auf mögliche Zeugen dieser Szene nochmals nachgerufen. Und es tut mir wirklich leid für dich, dass du 16 Jahre Ehe gebraucht hast, um das endlich einzusehen! Anschließend hatte sie noch eine Zeit lang in der Tür gestanden, als wolle sie ihm wie einem trotzigen Kind eine letzte Chance geben oder als warte sie darauf, dass er Kerl genug sein würde, diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen zu lassen. Aber dann hatte sie es plötzlich fertiggebracht, ihre ganze Aufmerksamkeit der durch den Briefschlitz geworfenen Post zu widmen, die Briefe aufgehoben, und noch im Rückspiegel hatte er gesehen, wie sie nicht ihm nachgeschaut, sondern anscheinend sogar mit Interesse und Neugier die Briefe ein paarmal gewendet und dabei langsam die Tür ins Schloss hatte fallen lassen.
Er liebte Lisa. Das wusste er. Es war einfach so: er liebte sie, und nichts und niemand würde daran jemals etwas ändern. Vor allem diesen letzten Augenblick würde er nie vergessen, wie sie nach seinem Geständnis, das ihn Monate an schlaflosen Nächten gekostet hatte, einfach zur Tagesordnung übergegangen war. Sie hatte ihm gesagt, was ihrer Meinung nach gesagt werden musste, dass er nämlich ein Schlappschwanz war, und anschließend hatten irgendwelche Briefe ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Privates, Amtliches, Reklame. Wahrscheinlich wenig Erfreuliches; denn da war schließlich immer noch der Kredit für das schlüsselfertige Eigenheim, das sie niemals hätten bauen dürfen. Die Initiative war wie immer von Lisa ausgegangen: Wenn ich auch wieder zumindest halbtags arbeiten kann, muss es doch finanzierbar sein. Gerade wegen deiner beruflichen Unsicherheit wäre es eine sinnvolle Geldanlage. Und obschon er diesmal an der Richtigkeit ihrer Argumente gezweifelt hatte wie nie zuvor, hatte er wie immer nichts gesagt und den Dingen ihren Lauf gelassen. Und anderthalb Jahre später waren sie in das neue Haus eingezogen, das gar nicht schlüsselfertig war, sondern sich zur ewigen Baustelle entwickelte, wohnten seit dieser Zeit zwar im Grünen, aber nach zwei Jahren hatte dieser Begriff für ihn grundlegend seine Bedeutung verändert: eine Ansammlung kleiner, sich gegenseitig argwöhnisch beobachtender Spießer in kleinen Häuschen mit kleinen Gärtchen und ebenso kleinem Horizont, tausendmal unerträglicher als eine Mietwohnung im letzten Proletenviertel irgendeiner Ruhrgebietsstadt. Und die steigenden Zinsen in den letzten Jahren hatten die Begleichung ihrer finanziellen Verbindlichkeiten zu einem immer größeren Problem werden lassen.
Allein schon wegen dieses Kredites hatte er wochenlang den Gedanken, Lisa sitzenzulassen, nicht einmal im Traum zulassen können. Du lässt sie doch gar nicht sitzen!, hatte Michel ihm mehrfach dazwischen gefunkt. Du gibst euch beiden nur eine neue Chance. Euch beiden! Und plötzlich glaubte er, seine Wut auf Michel nicht mehr beherrschen zu können. Natürlich hatte er Lisa nun sitzen lassen. Mit drei Kindern, mit einem Berg von Schulden, mit seinem maßlosen Geständnis. Und vor allem mit ihrer bodenlosen Enttäuschung. Was er für sich als Freiheit einforderte, würde ihr schließlich an zusätzlichen Pflichten aufgebürdet. Plötzlich liefen ihm Tränen über das Gesicht, und dann geschah augenblicklich wieder dieses Umschalten in seinem Kopf, das er in den letzten Wochen so oft bei sich festgestellt hatte: mitten in einem Gefühlsausbruch war er schlagartig nicht mehr wütend, verzweifelt oder jähzornig, sondern nur noch ein distanziert interessierter Beobachter, der seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Menschen richtete, der wütend, verzweifelt oder jähzornig war. Und auch nun fragte er sich sofort, wie er die Situation bewerten sollte, die er da beobachtete: als Gefühlsausbruch, den er sich schon lange einmal hätte erlauben sollen, weil er Erleichterung brachte, oder als erneute Bestätigung für seine abgrundtiefe Erbärmlichkeit. Mit dem Ärmel der Jacke wischte er sich über das Gesicht und sah gereizt auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war kurz vor fünf. Sie war nun also längst wieder zu Hause, würde sich über Kai und Sven ärgern, die sich zankten oder die Schularbeiten nicht machen wollten, würde Vorkehrungen für das gemeinsame Abendbrot treffen, und um kurz vor sechs würde sie seine Prinzessin ins Auto setzen und zum Ballettunterricht bringen. Wie immer würde sie Vera zur Eile antreiben müssen, würde die mit ihrer pubertären Schnippigkeit Lisa provozieren, bis endlich seine beiden Weiber unter unverbindlichem Gezanke das Haus verlassen hatten.
Inzwischen hatte er Utrecht erreicht. Auf der rechten Seite hob sich in der Ferne deutlich die hell angestrahlte Silhouette des Domes gegen die tiefhängenden Wolken ab. Obschon der Regen nun etwas nachgelassen hatte, machte es ihm Mühe, sich auf die Hinweisschilder über den hell erleuchteten Fahrspuren zu konzentrieren. Dann bog er auf die Bahn in Richtung Amsterdam ab.
Seine Prinzessin? Er spürte, wie ganz langsam wieder diese unglaubliche Aversion gegen seine doch angeblich über alles geliebte Tochter in ihm hochstieg. Es war eine Abneigung, die ihn in den letzten Wochen manchmal vor sich selber hatte erschrecken lassen. Was erlaubst du dir eigentlich deiner Mutter gegenüber für einen Ton? Jede noch so kleine Belanglosigkeit hatte er plötzlich zum Anlass genommen, die Auseinandersetzung mit Vera zu suchen. Du bist mir auch mit 15 Jahren nicht zu alt für eine Tracht Prügel. Augenblicklich hatte er sich für diesen Satz zu Tode schämen wollen, und seine plötzliche Hilflosigkeit hatte ihn dann tatsächlich um Haaresbreite etwas tun lassen, was er noch nie getan hatte: ein Kind mitten ins Gesicht zu schlagen. Du musst dich etwas zusammenreißen, hatte Lisa ihm dann am Abend vor dem Fernseher auch vorwurfsvoll gesagt; sie ist nun mal in einem schwierigen Alter und meint das alles nicht so. Und gerade weil er wusste, dass Lisa natürlich recht hatte, hatte er ihr widersprochen; und gegen alle Vernunft hatte er sich seit jenem Abend schließlich sogar einreden wollen, dass die beiden Frauen sich eigentlich nur Scheingefechte lieferten, insgeheim aber etwas ausheckten, das über kurz oder lang ihn treffen musste. Mehr noch: das ihn bloßstellen, der Lächerlichkeit preisgeben, ruinieren musste.
Natürlich hatte er immer ganz genau gewusst, dass alles das nicht stimmte. Weder Lisa noch Vera hatten irgend etwas getan, geschweige denn ausgeheckt, was zu seiner augenblicklichen Situation geführt hatte. Das war einfach geschehen, und die einzige Frage, die ihn in den letzten Wochen beschäftigt hatte, war die, ob ihn diese Entwicklung wirklich überrascht oder ob er nicht immer schon alles gewusst hatte. Ganz verschwommen war das alles zunächst noch, nebulös, dann wurde es immer deutlicher und unausweichlicher: Wie oft hatte er in den letzten Wochen solche Phrasen gedroschen, um sich zumindest anderen mitzuteilen, wenn man selber schon sein eigenes Leben nicht mehr verstand! Und bei Michels Kneipenbekanntschaften hatte das auch funktioniert, sie hatten schließlich sogar geglaubt, sein weinerliches Getue auf den Punkt bringen zu können: dein Leben ist im Augenblick ein Tanz auf dem Vulkan. Auch dieser Satz war zuerst von Michel in Umlauf gebracht worden; aber er selber hatte diese griffige Formulierung gerne aufgenommen zur Umschreibung seiner Situation. Mein Leben ist im Augenblick ein Tanz auf dem Vulkan, hatte er anderen nicht nur einmal gesagt, als ändere eine neue Begrifflichkeit irgend etwas an der völlig überraschenden Unerträglichkeit der eigenen Existenz.
In den letzten Wochen waren dann seine Angst vor dem Ausbruch des Vulkans und die Unterstellungen gegen die Tochter, diesen Ausbruch ganz bewusst erzwingen zu wollen, in gleichem Maße gestiegen. Schon die kleinste Bemerkung von Veras Seite, manchmal nur ein vermeintlich höhnisches Grinsen, hatte ihn außer sich geraten lassen.
Es gab für ihn nicht den geringsten Anlass, seine Tochter zu hassen; das wusste er genau; aber das hatte seine maßlose Wut auf Vera immer nur noch steigern können. Und jedesmal war er sich dann schäbig vorgekommen, wenn er im nachhinein auch noch nach Gründen für sein Verhalten gesucht hatte. Er benahm sich wie sein eigener Psychiater, der Erklärungen suchte, um die bodenlose Unfähigkeit eines Patienten aus dessen Vergangenheit zu erklären und zu entschuldigen. Wie ein schlechter Psychiater zudem, der auch gegen besseres Wissen das sagte, was der Patient hören wollte, aus Angst, einen Kunden zu verlieren.
Wie konnte ein Mann so schäbig sein, seine 15jährige Tochter zu hassen, weil er bodenlos eifersüchtig auf sie war! Das war die ganze Wahrheit, die kein Psychiater wegtherapieren konnte.
Am zweiten Weihnachtstag hatte Vera ihnen den neuen Freund vorstellen wollen, den angeblich endgültigen, die große Liebe, den Mann für den Rest des Lebens. Ausgegangen war die Idee von Lisa: Bring ihn doch mal mit! Ich möchte schließlich auch gerne wissen, mit wem sich meine Tochter herumtreibt.
Erwartet hatten sie beide eine Neuauflage des von Vera Gewohnten: irgendeinen pickeligen Gymnasiast mit gammeligem Outfit, Brillianten im Ohr, Ring in der Nase, schlechtem Benehmen und einer Jeans, bei der der Arsch in den Kniekehlen hing. Mit Jochen hatten sie absolut nicht gerechnet. Vor allem er nicht. Jochen hatte ihn völlig auf dem falschen Fuß erwischt.
Der Alkohol hatte ein übriges getan. Ohne Unmengen von Alkohol hätte er das Weihnachtsfest nicht ertragen können; aber für die Begegnung mit Jochen war der Dauerrausch offensichtlich die schlechteste aller Lösungen gewesen. Stundenlang hatte er auf den jungen Mann eingeredet, ihn pausenlos mit dem peinlichsten Blödsinn vollgequatscht. Und schon kurz nachdem Jochen sich nach dem Abendessen verabschiedet und mit Vera zusammen das Haus verlassen hatte, waren seine Phantasien angefangen, die ihn einfach nicht mehr losließen. Sag mal, was ist denn eigentlich mit deinem Alten los?, fragte Jochen in diesen Phantasien, und wenn diese Phantasien glimpflich verliefen, beließ er es bei der Bemerkung: Der hat ja echt 'ne tolle Macke!
Der Regen hatte inzwischen aufgehört, die ersten Hinweisschilder auf Amsterdamer Stadtteile tauchten auf.
Es war seltsam: seit ein paar Monaten verband sich der Name Amsterdam bei ihm mit einer ganz tief sitzenden Angst. Mehrfach hatte Michel ihn gebeten, doch mal mit nach Amsterdam zu kommen; da spiele die wirkliche Musik, nicht in Arnhem, und erst recht nicht im Ruhrgebiet. Mit Händen und Füßen hatte er sich gegen diese Vorschläge gewehrt.
Früher hatte diese Stadt etwas ganz anderes für ihn bedeutet. Und auch für Lisa.
Schon dreimal hatte er mit Lisa und den Kindern den Sommerurlaub in Holland verbracht. Oben im Norden, kurz vor den Helder, hatten sie einen Bungalow gemietet. Beim letzten Mal, es musste vor zwei Jahren gewesen sein, hatten sie Bekannte gebeten, auf die Kinder aufzupassen, und er war für einen Abend mit Lisa allein nach Amsterdam gefahren. Es war ein unvergesslicher Abend geworden; sie waren in mehreren Lokalen gewesen, hatten erstaunt festgestellt, dass diese Stadt für sie beide einmal das gleiche bedeutet hatte, und allem Augenschein zum Trotz war für einen Abend lang John Lennon noch nicht tot gewesen, hatte noch Sergeant Pepper`s Lonely Hearts Club Band gespielt, hatten Jimmy Hendrix und Jennis Joplin gezaubert, und erst als die anderen Gäste einer Kneipe deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass sie nun nicht auch noch zum hundertundersten Mal Joan Baez oder Bob Dylan aus der Musicbox hören wollten, waren sie zurückgefahren. Wir gehören doch eigentlich zu einer schlimmen Generation, hatte Lisa Tags darauf am Strand zu ihm gesagt. Wir sind egoistisch und autoritär, viel autoritärer als unsere Eltern, und wir weigern uns einfach, älter zu werden. Dann hatte sie gelacht, und dieser Augenblick gehörte zu den vielen kleinen Dingen, die Lisa und ihn verbanden und die man anderen ohnehin nicht erklären konnte.
Ist es möglich, dass man 16 Jahre lang eine Ehe führt und drei Kinder in die Welt setzt, wenn solche Kleinigkeiten, die man mit jedem x-beliebigen Schulkameraden gemeinsam empfinden kann, die Basis für alles ist? Er hatte sich in den letzten Wochen über solche Fragen den Kopf zerbrochen und war zu keinem Ergebnis gekommen, das er selber hätte akzeptieren können. Das einzige, das immer da gewesen war, war sein schlechtes Gewissen: Was du da tust ist nicht in Ordnung! Hör sofort damit auf! Am schlimmsten war es gewesen, wenn er zumeist mitten in der Nacht und außerdem völlig betrunken in der Küche gesessen und sich gefragt hatte, was denn nun eigentlich mit ihm los sei.
Und genau diese Frage hatte ihm vor ein paar Tagen auch der neue Geschäftsführer gestellt. Nach dem Frühstück in der Kantine hatte der sich neben ihn gesetzt.
Was ist eigentlich mit Ihnen los, Herr Dr.Weber?
Wie meinen Sie das?
Haben Sie Probleme?
Glauben Sie, dass ich die auf der Arbeit ausplaudern würde?
Nein, das glaube ich natürlich nicht; aber es ist nun mal meine Aufgabe, Sie darauf aufmerksam zu machen, wenn Sie Ihre Dienstpflichten nicht so erfüllen, wie das von Ihnen erwartet wird.
Es war ihm heiß geworden, er hatte sofort gewusst, dass er augenblicklich einen roten Kopf bekommen hatte.
Es ist doch wohl ein Scherz, wenn wir unsere Kursteilnehmer auf das absolute Alkoholverbot aufmerksam machen und unsere Dozenten sich nicht daran halten, hatte sein Vorgesetzter ihn im Flüsterton wie bei einer unverbindlichen Plauderei wissen lassen und dabei doch eine Entschiedenheit zum Ausdruck gebracht, die ihm einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Was er darauf geantwortet hatte, das wusste er nicht mehr.
Kurz vor Amsterdam bog er in Richtung Haarlem ab. Von der auf einer erhöhten Trasse geführten Bahn aus sah man auf das Häusermeer der Amsterdamer Vororte. Ab und zu flogen nun große Verkehrsmaschinen in geringer Höhe über die Bahn, und dann war auf der linken Seite das riesige Areal des Flughafen Schiphol zu erkennen. Als in äußerst geringer Höhe und mit ohrenbetäubendem Lärm ein Flugzeug die nun von Lärmschutzwällen eingeengte Bahn überflog, traf es ihn wie ein Schlag: Es grenzte doch an ein Wunder, dass dieser riesige Metallvogel irgendwo dort in dem hell erleuchteten Gewirr aus Straßen, Häusern, Fabriken und Masten noch einen Platz zum Landen finden sollte. Es gab einfach keinen Raum mehr, schoss es ihm durch den Kopf, keine Möglichkeit. Es gab nur noch dieses krankhafte Hin und Her zwischen Zielen, die wie diese Gegend den Aufenthalt gar nicht mehr lohnten, weil alles ausschließlich auf das Rasen zwischen vermeintlichen Zielen angelegt war. Es war ein Wahnsinn, dachte er, und dann nahm der plötzlich wieder verstärkt einsetzende Regen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Kurz vor Alkmaar stockte der Verkehr wegen einer Baustelle, die Bahn wies erhebliche Mängel auf, und die Schilder am Straßenrand verlangten, dass man die Geschwindigkeit auf 60 reduzierte. Für einen Augenblick glaubte er sich auf der A3, kurz vor dem Oberhausener Kreuz. Dort waren es Bergschäden, und die permanente Flickschusterei hatte den Zustand der Strecke im Laufe der Jahre wahrscheinlich eher verschlechtert als verbessert. Wenn er in den vergangenen Wochen von Michel gekommen war, hatte das plötzliche Schlagen der Räder auf der holprigen Fahrbahn ihn immer aus seinen Gedanken gerissen und ihm angekündigt, dass er nun fast zu Hause war. Aber erst fast, und es war ihm noch stets genügend Zeit geblieben, sich etwas einfallen zu lassen für den Fall, dass Lisa fragen sollte: Wo kommst du denn jetzt erst her? Sie hatte es aber nur zwei- oder dreimal gefragt, und jedes Mal war er noch bei Kollegen gewesen oder hatte sich noch um Praktikumstellen in irgendwelchen Betrieben kümmern müssen.
Weißt du, was das Schlimmste ist?, hatte Lisa heute Morgen gefragt und eine Antwort ganz offensichtlich gar nicht erwartet. Dass du mich so bewusst und gemein belogen hast. Hast du wenigstens ein schlechtes Gewissen gehabt bei deinen Lügengeschichten?
Lass mich doch mit deinem katholischen Gerede zufrieden!, hatte er nur zu sagen gewusst. Er hatte es nicht einmal fertig gebracht, Lisa einzugestehen, dass das permanente schlechte Gewissen die schlimmste Erfahrung der letzten Monate gewesen war.
Du bist wirklich ein mieses Schwein.
Er trat das Gaspedal tief nach unten und schoss mit viel zu hoher Geschwindigkeit an der Reihe der langsam fahrenden Wagen vorbei; seine plötzliche Angst vor einer Radarkontrolle kam ihm lächerlich vor, typisch eben für den kleinen mickrigen Spießer, der er war. Für das miese Schwein. Have you seen the little piggies crawling in the dirt?
In Alkmaar endete die Autobahn, und schließlich hielt er am Rand der breiten und hell erleuchteten Umgehungsstraße an, weil er nirgendwo ein Hinweisschild mit dem Namen Schagen entdecken konnte. Gereizt überflog er die Straßenkarte, versuchte sich ein paar Namen bis zu seinem Ziel einzuprägen und warf schließlich die inzwischen reichlich ramponierte Karte wütend auf den Beifahrersitz.
Als die Umgehungsstraße auf die am Nordholland-Kanal entlanglaufende Straße stieß und die letzten Häuser der Stadt hinter ihm lagen, schaltete er das Radio ein. Augenblicklich gingen ihm die aufdringlichen Werbespots auf die Nerven, er drehte gereizt an dem Knopf für die Senderwahl, erfuhr irgendwo auf Niederländisch, dass es inzwischen halb sieben geworden war, und schaltete das Radio wieder aus.
Weshalb tat er sich das alles eigentlich an?, dachte er wütend. Weshalb war er von Arnhem nicht einfach nach Hause gefahren? Dann erst kam ihm die Absurdität dieses Gedanken wieder zu Bewusstsein. Es gab kein Zurück mehr, und dieses Zuhause gab es erst recht nicht mehr. Und auf gar keinen Fall hatte er mit allem gebrochen, um nun auch noch Michel zu verlieren.
Irgendwie musste das heute auch der überkorrekte Personalchef des Krankenhauses bemerkt haben.
Sind Sie ein Verwandter von Herrn Rijnders?
Nein.
Dann kann ich Ihnen auch keine weiteren Auskünfte über ihn geben.
Aber verstehen Sie doch! Ich muss den Jungen einfach wiederfinden.
Hatte er wirklich „den Jungen“ gesagt? Wahrscheinlich, denn plötzlich hatte der Mann gegrinst und gesagt: Ach, Sie sind der Freund von Michel.
Er hatte nur genickt, wahrscheinlich einen roten Kopf gehabt und dann hatte der Mann gesagt: Michel wohnt seit Jahresbeginn in Schagen. Seltsam, hatte er noch süffisant lächelnd hinzugefügt, dass Sie das nicht wussten.
Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wo er jetzt arbeitet?
Darüber habe ich keinerlei Informationen.
Er spürte plötzlich eine unbeherrschbare Wut gegen diesen Mann in sich hochsteigen. Und je mehr er sich das Bild dieses Mannes mit dem korrekten dunklen Anzug und der Krawatte, auf dessen Schreibtisch Michels Personalakte gelegen hatte, wieder ins Gedächtnis rief, desto mehr steigerte er sich in diese sinnlose Wut, bis schließlich nur noch das Selbstmitleid übrigblieb und die Überzeugung, dass offensichtlich alle Welt gegen Michel und ihn zusammenhielt, weil sie ihre Beziehung nicht dulden konnten. Sie würden es nicht schaffen, sie auseinanderzubringen. Niemals.
Wo hast du denn diesen Stricher kennengelernt?, hatte auch Lisa heute morgen gefragt und damit endgültig alles zwischen ihnen zerstört.
Du ekelst mich an mit deinem widerlichen Gerede. Wie kann man so über diesen Jungen reden!
Als was bezeichnest du ihn denn? Als deinen Freund, dein Bratkartoffelverhältnis, deinen Geliebten? Es war vor allem ihr hysterisches Lachen gewesen, das ihn fast die Beherrschung hatte verlieren lassen.
Er hatte Michel vor vier Monaten am Essener Hauptbahnhof kennengelernt. Und zwar zufällig kennengelernt, das war für ihn immer wichtig gewesen. Er hatte dort nichts gesucht, als er Michel begegnet war. Gar nichts.
Es war ein Donnerstagabend gewesen, er hatte sich bei zwei großen Kaufhäusern noch um Praktikumstellen für einige Kursteilnehmerinnen bemüht und um halb sieben mit der S-Bahn nach Hause fahren wollen. Und dann war er in der großen Empfangshalle des Bahnhofs Michel begegnet.
Und weil auch Michel dort nichts gesucht hatte, hatten sie anschließend beide nicht gewusst, was nun zu tun war. Gerade das hatte diesen Abend so einzigartig gemacht. Und weil auch noch keine Sprache zwischen ihnen stand, die ihr Zusammensein unzweideutig auf den Punkt bringen wollte, war für ein paar Stunden plötzlich alles möglich gewesen. Ihre späteren Treffen waren jedesmal bis auf die Minute genau geplant gewesen, weil er sich immer nur für kurze Zeit von seinen Zwängen hatte freilügen können.
Sie hatten schon oft über diesen ersten Abend gelacht. Zunächst waren sie ziellos durch die Kaufhäuser gelaufen, und als diese um halb neun Uhr geschlossen hatten, waren sie durch mehrere Kneipen gezogen und schließlich bei McDonalds gelandet.
Weißt du eigentlich, dass ich mich bisher immer geweigert habe, so ein Lokal auch nur zu betreten?, hatte Michel ihn lachend gefragt.
Und warum bist du jetzt mitgekommen?
Ich weiß es auch nicht.
Irgendwann hatte Michel vorgeschlagen, zu seiner Wohnung nach Arnhem zu fahren, und nicht einmal die große Entfernung war an jenem Abend irgendein Problem gewesen.
Auch der Anruf bei Lisa nicht.
Wo bleibst du denn? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?
Sei bitte nicht böse. Wir sitzen hier noch bei Schorsch zusammen und sind alle schon ziemlich abgestürzt. Also warte nicht auf mich, du weißt ja, ich habe morgen frei. Da war nicht einmal die Angst gewesen, Lisa könne sich durch einen Rückruf bei dem Kollegen aus Dortmund Gewissheit verschaffen.
Auf der Fahrt hatten sie nicht ein Wort gesprochen. Erst als sie die Vororte von Arnhem erreicht hatten, hatte Michel auf das riesige Hochhaus gezeigt. In diesem kippenhok wohne ich. Wie heißt das eigentlich auf deutsch?
Es war bereits weit nach Mitternacht gewesen, als sie endlich in Michels Wohnung angekommen waren. Und plötzlich kamen die Ereignisse des heutigen Tages zurück, tat die Vorstellung weh, dass es diese Wohnung nicht mehr geben sollte.
Er sah sich wieder mit Michel auf der zu kurzen Couch sitzen, wieder würde der Fernsehapparat laufen, was ihn fürchterlich irritierte, wieder würde Michel den Apparat nur leiser stellen, und schließlich würde er bei laufendem Fernseher den Kopf auf den Schoß des jungen Mannes legen, die Beine über die Lehne der zu kurzen Couch baumeln lassen, bis sie schmerzten und reden, reden, reden. Von Lisa, von den Kindern und vor allem von sich selber.
Michel hatte seinen Kopf mit beiden Händen festgehalten und wortlos zugehört, bis es nichts mehr zu erzählen gab.
Und jetzt glaubst du, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist mit diesem Problem, hatte Michel schließlich gesagt und ihn zum ersten Mal geküsst. Zu seiner grenzenlosen Überraschung hatte der junge Mann es sogar zugelassen, dass er sich immer fester gegen dessen Körper presste, seine Hände zunächst über dessen Knie, dann über die Innenseiten der Oberschenkel streichen ließ. Michel hatte es nicht nur zugelassen, und schließlich waren bei ihm alle Dämme gebrochen.
Nach dem Orgasmus war augenblicklich die Welt zusammengestürzt.
Ich will sofort nach Hause.
Weshalb machst du dir jetzt Vorwürfe? Bleib doch hier.
Keine Sekunde länger. Ich will sofort nach Hause.
Du tust mir sehr weh.
So, warum denn?
Ik hou van jou.
Während er sich angezogen hatte, hatte Michel ihn in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Ik hou van jou. Dieser Satz hatte Panik in ihm ausgelöst. Er hatte ihn nicht verstanden, aber sofort gewusst, dass Michel damit nur eines gemeint haben konnte. Etwas, das nicht den Tatsachen entsprechen durfte.
Es ist aber so, hatte Michel noch einmal gesagt: Ich liebe dich.
Das geht nicht.
Warum denn nicht?
Es ist nicht so, wie du denkst.
Michels völlig überraschtes Gesicht hatte ihn aggressiv werden lassen.
Du musst dich vor den Spiegel stellen und es ganz laut sagen, hatte der junge Mann dann noch am gleichen Abend gemeint, und in dem Augenblick hatte er den ersten Streit mit Michel begonnen. Ich kann es nicht sagen, weil ich es nicht sagen will.
Und so ist es noch heute, dachte er plötzlich. Ich will es nicht sagen, ich will es einfach nicht. Die eigene Sprache, die man beherrschte wie die Fähigkeit, zu laufen oder Treppen zu steigen, war ihm in den vergangenen Wochen immer suspekter geworden.
Es ist doch ganz normal, dass du Angst davor hast.
Ich habe aber keine Angst davor.
Warum sagst du es dann nicht?
Weil es so nicht stimmt. Das ist doch auch nur ein Wort, ein Vorurteil, eine Schublade der Gesellschaft, und es bedeutet nicht das, was mit mir los ist.
Und wie nennst du das, was mit dir los ist? Bei dieser Frage hatte er zum ersten Mal geglaubt, zumindest für Sekunden dieses überlegene Grinsen in Michels Gesicht entdeckt zu haben, und er hatte nichts gesagt.
Ich mach mir Sorgen um dich.
Das brauchst du nicht. Dazu besteht kein Grund.
Doch.
Es goss mittlerweile wieder in Strömen, so dass selbst die weißen Fahrbahnmarkierungen oft nicht mehr sichtbar waren. Der Regen und der Kanal auf der rechten Fahrbahnseite vermittelten ihm den Eindruck, durch eine gigantische Wasserwüste zu fahren, und fast wäre er an dem Hinweisschild in Richtung Schagen vorbeigefahren. Als er die Geschwindigkeit abrupt verringerte, hupte jemand hinter ihm mehrfach. Es klang gereizt, und wütend zeigte er den beiden im Regen verschwimmenden Scheinwerfern den Vogel.
Als dann plötzlich das Ortsschild von Schagen auftauchte, erschrak er fast. Hätte ihm heute morgen jemand gesagt, dass er am heutigen Tag noch nach Schagen fahren würde, er hätte nur gelacht. Schagen? Wo liegt das denn? Was soll ich da überhaupt?
Und wie nennst du das, was da mit dir los ist? Genau diese Frage hatte auch Lisa ihm heute morgen gestellt, und auch da war er aggressiv geworden.
Er lachte resigniert. Wie nennst du das, was mit dir los ist! Das war doch völlig egal! Wichtig war nur die Realität, und die blieb immer die gleiche, aussichtslos und unfassbar, ganz gleichgültig, welche Worte man sich dafür ausdachte: Er war ein verheirateter Mann, hatte eine Frau und drei Kinder und ging mit einem Schwulen ins Bett. Und er war heute einfach weggegangen von zu Hause, ohne genau sagen zu können, weshalb eigentlich.
Weshalb eigentlich? Das hatte er Lisa heute morgen schließlich doch noch unmissverständlich beigebracht: Ich bin schwul, hatte er gesagt und war sich dabei vorgekommen wie ein drittklassiger Schauspieler an einem Provinztheater. Nein, ich habe keine homosexuellen Tendenzen in mir, war er Lisas Einwänden mit auswendig gelernten Worten begegnet. Ich bin schwul, und das musst du einfach einsehen.
Lisa hatte es nicht geglaubt. Sie hatte es einfach nicht geglaubt. Wenn es eine andere Frau wäre, hatte sie fassungslos gesagt, dann täte das zwar weh, aber ich könnte wenigstens etwas damit anfangen. Aber so? Ich glaube, du weißt selber nicht, was du da sagst.
Kurz hinter dem Ortsschild hielt er den Wagen direkt vor einem Stadtplan an einer Bushaltestelle an, deren Glasscheiben ringsum ganz offensichtlich mutwillig zerstört worden waren. Im strömenden Regen blickte er anschließend auf das verwirrende Labyrinth aus Wegen, Straßen, Ortsteilen. Die Namen sagten ihm nichts. Gar nichts.
Nach kurzer Zeit war seine Kleidung völlig durchnässt, und er hatte nur noch einen Wunsch: endlich nach Hause fahren zu können.
Dann kam ihm schlagartig noch zu Bewusstsein, dass es nun auch zu spät war, um in irgendeinem Geschäft noch Alkohol zu kaufen, ohne den er die letzten Wochen nicht hatte leben können. Den er gegen den Widerstand des eigenen Körpers zumeist mit großem Widerwillen hemmungslos in sich hineingeschüttet hatte, weil er immer weniger hatte sagen können, aus welchem Grund er sich den nächsten Tag überhaupt noch antun sollte.
Es war Dienstag, der 6. Februar 1996.