Читать книгу Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher - Страница 5
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ОглавлениеEr erwachte abrupt aus einem traumlosen Schlaf.
Erschrocken sah er sich um, und es dauerte eine Weile, bis er sich seine Situation vergegenwärtigt hatte: Er befand sich in einem drittklassigen Hotel in einer holländischen Stadt, deren Namen für ihn bisher noch nicht einmal einen eindeutigen Punkt auf einer Landkarte bezeichnet hatte, und das alles, weil er gestern seine Familie verlassen hatte. Je länger ihm die Worte durch den Kopf gingen, desto lächerlicher kamen sie ihm vor.
Und dann war augenblicklich diese fürchterliche Unruhe wieder da. Er sah auf seine Armbanduhr und fuhr erschrocken hoch. Es war bereits kurz vor halb zehn. Er stand auf und war nun bemüht, möglichst viel Lärm in dem Zimmer entstehen zu lassen, bis ihm seine hektische Betriebsamkeit vorkam wie das Pfeifen im Walde, mit dem man nur versuchte, die eigene Angst nicht wahrhaben zu müssen. Ansonsten war in dem Haus kein Laut zu vernehmen.
Er blickte aus dem Fenster. Trotz des grauen Februarwetters herrschte in der Fußgängerzone schon lebhafter Betrieb. Für einen Augenblick beneidete er die Menschen, die unter seinem Fenster herliefen und sich einfach ihrer täglichen Routine oder irgendeiner plötzlichen Eingebung hingeben konnten, weil es für sie ganz offensichtlich keinen Grund gab, dagegen zu rebellieren. Er zog die schmuddelige Übergardine vor die Scheiben und augenblicklich kam es ihm so vor, als wolle er damit allen anderen den Anblick eines Menschen ersparen, den er selber hasste und verachtete.
Schließlich schaltete er das Radio ein, zog sich aus und ging ins Bad. Den Kran der Dusche drehte er voll auf, wich kurz vor dem kalten Wasser zurück und stellte sich vor den Spiegel über dem Waschbecken.
In den letzten Wochen hatte er sich oft im Spiegel betrachtet, und war ihm das bewusst geworden, war es jedesmal fast peinlich gewesen. Was sollte das? Auf Äußerlichkeiten hatte er noch nie Wert gelegt. Ganz im Gegenteil: Es war häufig vorgekommen, dass Lisa ihn beim Frühstück darauf aufmerksam gemacht hatte, dass er nicht ordentlich rasiert war, dem Hemd ein Knopf fehlte oder er sogar zwei verschiedene Paar Socken trug. Das Kaufen neuer Kleidung war ihm schon immer ein Gräuel gewesen, meistens hatte Lisa diese Aufgabe übernommen. Probier das hier mal an, sagte sie nur, wenn sie irgendwo in der Stadt für ihn ein neues Hemd, eine Krawatte oder ein Jackett gekauft hatte. Und hätte Lisa ihm die Sachen für den nächsten Tag nicht zumeist schon zurechtgelegt, er hätte an manchen Tagen aus lauter Ratlosigkeit nicht zur Arbeit gehen können.
Michel hatte über solche Bekenntnisse immer gelacht. Ich glaube, dass es vielen Heteros so geht. Die haben eben ihre Frau, ihre Kinder, ihr Haus. Wozu sollen die sich also mit ihrem Aussehen noch Mühe geben? Bei Schwulen ist das ganz anders. Da musst du dir jeden Tag wieder Mühe geben, auch durch Äußerlichkeiten. Und als hätte es eines konkreten Beispiels überhaupt bedurft, hatte Michel immer noch lachend hinzugefügt: Weißt du eigentlich, wie man bei uns solche Unterhosen nennt, wie du sie immer trägst?
Er hatte es nicht gewusst, auch gar nicht wissen wollen, und war wohl gerade deshalb aufgeklärt worden: aardappelzak nannte man solche Unterhosen, wie er sie trug..
Es war fürchterlich peinlich gewesen, und nur weil jede andere Reaktion ihn noch verlegener gemacht hätte, hatte er schließlich aus lauter Verzweiflung mitgelacht. Also in der schwulen Szene hast du mit solchen Liebestötern keine Chance.
In der schwulen Szene will ich überhaupt keine Chancen haben.
Na, wer weiß.
Die wenigen Male, die sie in Arnhem zusammen in Schwulenkneipen verbracht hatten, waren für ihn tatsächlich fast eine lästige Pflichterfüllung gewesen, die sogar Magendrücken verursacht hatte. Und obschon sie nie darüber geredet hatten, wusste er, dass Michel über seine Reaktion enttäuscht war, etwas ganz anderes erwartet hatte: Hier bist du doch unter deinesgleichen, hier kannst du dich so geben, wie du bist!
Erzähl du vor allen Dingen nicht jedem, dass ich verheiratet bin, hatte er Michel gebeten. Beim ersten Besuch einer Schwulenkneipe war er sich unter Michels Bekannten vorgekommen wie ein Exponat aus einem Raritätenkabinett.
Was willst du auch in solchen Bumslokalen?, hatte Lisa ihn gestern empört gefragt. Du bist doch gar nicht schwul!
Woher willst du das denn wissen?
Na hör mal! Lisa hatte laut losgelacht. Wer soll es denn sonst wissen? Außerdem sehen Schwule doch ganz anders aus.
Das sind doch Vorurteile aus dem finstersten Mittelalter! Erschrocken hatte er den Überlegenen gespielt, weil Lisa in Wirklichkeit einen ganz wunden Punkt berührt hatte.
Man sieht mir doch nicht an, dass ich schwul bin!, hatte er einmal empört zu Michel gesagt, der mit unglaublicher Sicherheit seine wunden Punkte zu treffen wusste.
Und wie immer in diesen Fällen hatte Michel gegrinst: Das ist doch gar nicht die Frage. Die Frage ist, ob dich denn stören würde, wenn man es dir ansähe?
Man sieht es mir aber nicht an!
Es wurde dich also stören.
Verdammt noch mal ja, es würde ihn stören. Es würde ihn stören, weil es einfach nicht so war. Er fuhr sich mit der Hand durch den schon etwas schütteren blonden Haarschopf, dessen Farbe die Unzahl grauer Haare sehr gut kaschierte. Dann rieb er sich mit den Fingern über das Kinn, als müsse ihm die Stärke des Bartwuchses letzte Sicherheit geben über seine in Frage gestellte Männlichkeit.
Warum liebst du mich eigentlich?, hatte er Michel einmal gefragt.
Das frage ich mich auch immer öfter. Du bist 16 Jahre älter, viel zu dünn, und der ganze Kram, den du irgendwann einmal gelernt hast, interessiert doch heute keinen vernünftigen Menschen mehr. Dann hatte Michel nur gelacht und ihn geküsst. Entschuldige, aber ich weiß wirklich nicht, warum ich dich liebe. Ich liebe dich einfach.
Schließlich ließ der Dampf des nun heißen Duschwassers sein Bild im Spiegel verschwimmen.
Er ließ sich viel Zeit beim Duschen; aber jedes scheinbar noch so wichtige Getue konnte letztlich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Unruhe immer unerträglicher wurde: er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was er nun machen sollte.
An der Rezeption saß niemand. Erst nachdem er ein paarmal gerufen hatte, erschien die Frau, bei der er sich gestern Abend angemeldet hatte. Guten Morgen. Wollen Sie abreisen?
Ich glaube nicht.
Die Frau sah ihn einen Augenblick irritiert an und lachte dann. Sie wollen also bleiben.
Sehen Sie, es gibt da ein Problem. Eigentlich war es nur seine plötzliche Verlegenheit, jedenfalls erzählte er der Frau nun, dass er einen gewissen Michel Rijnders aus Schagen suche, und die Frau sah ihn nur fragend an. Sie wissen auch nicht, an wen ich mich wenden kann, um seine Adresse ausfindig zu machen?
Im Telefoongids haben Sie schon nachgesehen?
Im Telefonbuch, meinen Sie? Nein.
Die Frau kramte hinter der Theke ein Telefonbuch hervor, warf es auf den Tisch und blätterte lustlos darin herum. Rijnders gibt es mehrere, aber Michel Rijnders ... Sie schüttelte schließlich den Kopf. Also in Schagen wohnt der nicht.
Doch, er wohnt seit Anfang des Jahres hier in Schagen.
Dann kann er noch nicht im Telefonbuch stehen. Rufen Sie doch de Inlichtingsdienst an.
Sie meinen die Auskunft? Als die Frau nickte, grinste er linkisch. Dürfte ich Sie bitten, das für mich zu tun. Sie verstehen: die Sprache.
Nach weniger als einer Minute war die Frau zu dem selben Resultat gekommen, das schon das lustlose Blättern im Telefonbuch erbracht hatte: ein Michel Rijnders wohnte nicht in Schagen.
Welche Möglichkeit gibt es denn noch?
Die Frau hob gelangweilt die Schultern. Sie können es bei der Gemeinde versuchen; aber - sie schüttelte mit skeptischem Gesichtsausdruck den Kopf - da brauchen Sie schon einen triftigen Grund. So ohne weiteres wird man Ihnen dort keine Auskunft geben.
Die offensichtliche Skepsis der Frau hatte ihn unsicher gemacht. Er fühlte sich plötzlich geradezu genötigt, ihr zu erzählen, dass dieser Michel Rijnders ein alter Bekannter aus Arnhem sei; man habe sich über ein halbes Jahr nicht getroffen, und von Nachbarn habe er nur erfahren können, dass dieser Bekannte vor ein paar Wochen nach Schagen verzogen sei; und da er beruflich gerade in der Gegend beschäftigt gewesen sei, wolle er die Gelegenheit einfach nutzen. Dem Gesichtsausdruck der Frau konnte er entnehmen, dass sie ihm die Geschichte nur mit Mühe abnahm.
Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.
Wie denn?
Mein Schwager ist bei der Polizei, und da sind viele Dinge möglich, die eigentlich nicht möglich sind.
Das wäre wirklich sehr nett. Er bedankte sich fast übertrieben freundlich, meinte, dass er das Zimmer auf jeden Fall noch einen weiteren Tag, eventuell sogar noch länger benötige und verabschiedete sich. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Ach sagen Sie bitte: gibt es hier ein Krankenhaus?
Ein Krankenhaus? Dem Blick der Frau nach zu schließen hatte er durch diese Frage allen Kredit ganz offensichtlich schon wieder verspielt.
Mein Bekannter arbeitet nämlich im Krankenhaus. Ich könnte dort vorbeifahren und mich erkundigen.
Es gab in Schagen und unmittelbarer Umgebung zwei Krankenhäuser, deren Namen und Adressen die Frau auf einen Zettel notierte. Dann verließ er das Hotel.
Er frühstückte in einem Cafe in der Nähe des Hotels. Trotz seiner wie er meinte anderen immer offensichtlichen Beklemmung ließ er sich viel Zeit, ging dann zu seinem Wagen, den er in einer Seitenstraße geparkt hatte und fuhr los.
Es war gerade einmal eine Stunde später, als er den Wagen wieder in einer der Seitenstraßen der Fußgängerzone abstellte und nun mit Sicherheit wusste, was er seit seinem Erwachen heute Morgen geahnt und noch mehr befürchtet hatte: auch in den beiden Krankenhäusern hier kannte man Michel nicht, und nun hatte er nicht mehr die geringste Vorstellung davon, was er machen sollte. Hatte er noch vor einer Stunde die Menschen in der Fußgängerzone als angenehme Ablenkung von seinen nur auf sich selbst bezogenen Gedanken empfunden, war ihm die hektische Betriebsamkeit nun geradezu zuwider.
Er hasste es, nicht zu wissen, was er tun sollte. Schon immer hatten ihn Tage, an denen er sich nichts vorgenommen hatte, verrückt gemacht. Tage, die keine feste Struktur hatten, konnten ihn in Panik versetzen, ihn regelrecht depressiv machen. Auch in diesem Punkt war Michel ganz anders. Du kannst einfach nicht genießen: Michel fand es großartig, ganze Tage im Bett zu verbringen, einfach gar nichts zu tun.
Vor allem die Sonntagnachmittage waren ihm schon immer ein Gräuel gewesen, eine Art befohlener Langeweile im Kreise der Familie. Sogar die häufigen Pflichtbesuche bei Lisas Eltern waren an solchen Tagen meist eine willkommene Abwechslung gewesen.
Lisas Eltern! Er durfte nicht daran denken! Man konnte sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, was die Schwiegereltern sagen würden, wenn Lisa ihnen erzählte: Stellt euch mal vor, Gerd ist schwul. Aus irgendeinem Grund hatte er sich von Lisas Eltern nie vollständig akzeptiert gefühlt, und wenn Lisa sich hatte bescheinigen lassen wollen, dass sie im Recht war, dann war sie immer zu ihrer Mutter gelaufen, und damit war ihr auch die Zustimmung ihres Vaters sicher gewesen; der Schwiegervater hatte wahrscheinlich noch nie eine andere Meinung gehabt als die, die seine Frau zugelassen hatte. Obschon es ihm nun geradezu Spaß machte, zumindest in seinen Gedanken über die Schwiegereltern herzuziehen, blieb das mulmige Gefühl: Hatte Lisa möglicherweise schon mit ihren Eltern gesprochen? Eines war klar: zu lachen gab es dann für ihn gar nichts mehr.
Lisas Mutter machte zwar immer auf vornehm, auf große Dame, aber in Wirklichkeit hatte er sie nur kennen gelernt als eine eiskalt berechnende Frau, die schamlos und ohne alle Rücksichtnahme jede Situation zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen wusste. Er glaubte plötzlich, sich die Konfrontation mit ihr schon bis ins Detail vorstellen zu können.
Hast du dir eigentlich schon einmal überlegt, was durch deine Eskapaden allein finanziell auf dich zukommen wird? Unterhaltszahlungen für deine Frau und drei Kinder, mein Lieber. Man heiratet doch nicht, setzt drei Kinder in die Welt und verabschiedet sich dann einfach.
Tut man ja auch nicht, dachte er wütend; wenn man es so ausdrückte, konnte er ja nur im Unrecht sein. Aber andererseits: Wie sollte man es denn ausdrücken?
Es geht doch hier gar nicht um schuldig oder unschuldig sein, hatte Michel ihm schon oft gesagt. Je eher du das einsiehst, umso besser.
Ich kann es ruhig einsehen; andere werden aber genau so argumentieren.
Und über das, was im Falle einer Trennung allein an juristischem Kleinkrieg und finanziellen Verpflichtungen noch auf ihn zukommen musste, hatte er schon deshalb noch nicht eine Sekunde nachgedacht, weil er über eine Trennung von Lisa noch niemals ernsthaft nachgedacht hatte.
Lisa allerdings sofort: Ich nehme mal an, dass du die Scheidung willst?, hatte sie gestern mehrfach gefragt.
Nein. Ich will keine Scheidung.
Wie stellst du dir das denn in Zukunft vor? Glaubst du vielleicht, ich akzeptiere einen Ehemann mit schwulem Freund? Du kannst das nicht im Ernst glauben. Dann ist es aus, und die Schuld daran liegt bei dir. Einzig und alleine bei dir.
Lisa sprach von seiner Schuld, weil sie ihn liebte und ihn nicht verlieren wollte; davon war er überzeugt. Ein Gefühl, zu dem er die Schwiegermutter gar nicht für fähig hielt: Wie willst du das denn überhaupt machen? Gerade jetzt, wo es um eure Bildungsakademie alles andere als gut aussieht?
Lisas Mutter hatte immer schon die Fähigkeit besessen, das Wort Bildungsakademie in Anführungszeichen auszusprechen. Eine Einrichtung zur beruflichen Weiterbildung war für sie ganz offensichtlich so etwas wie eine Besserungsanstalt für straffällig gewordene Jugendliche und arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger. Und wenn sie mit Dritten über ihn sprach, dann war er auch nicht kleiner Angestellter einer Einrichtung zur beruflichen Weiterbildung, sondern einfach nur Akademiker. Mein Schwiegersohn ist ja auch Akademiker. Promovierter Akademiker. Weshalb hatte er sie eigentlich noch nie gefragt, über welche Qualifikation sie denn eigentlich verfügte außer der, sich einen über alle Maße langweiligen Juristen mit Pensionsberechtigung an Land gezogen zu haben?
Der Rest stimmte leider. Die Arbeitsverwaltung hatte die Mittel für Umschulungen in den letzten Monaten drastisch zusammengestrichen, die Orientierungskurse für Langzeitarbeitslose und Spätaussiedler waren allein im letzten Jahr um über die Hälfte zurückgegangen. Drei Abteilungen hatten sie schon zugemacht. Zuerst waren die Honorarkräfte gefeuert worden, aber es hatte auch schon einige festangestellte Kollegen erwischt. Ohne an Michel auch nur im Traum gedacht zu haben, hatte die Angst um die eigene berufliche Zukunft schon vor Monaten für schlaflose Nächte gesorgt.
Da Lisas Mutter als Beamtengattin über derart profane Dinge nicht die Spur einer Ahnung haben konnte, würde auch sie sehr schnell auf den vermeintlichen Kern des Problems kommen: Kommst du dir nicht selber schäbig vor? Warum hast du Lisa überhaupt geheiratet? Du hast das doch von Anfang an gewusst.
Was habe ich deiner Meinung nach gewusst?
Dass du schwul bist.
Er musste plötzlich lachen. Der Schwiegermutter würde das Wort schwul nicht über die Lippen kommen. Selbst unter verschärfter Folter nicht.
Dass du homosexuell bist.
Nein, nicht einmal dieses Wort würde sie gebrauchen können.
Na, dass du eben so bist.
Wie denn? Wie bin ich denn? Sag es doch mal! Du würdest mir wirklich sehr damit helfen.
Wieder musste er lachen. Er könnte noch so lange nachfragen, er würde von seiner Schwiegermutter niemals in Erfahrung bringen, wie er war. Und niemals würde es ihn in Wahrheit auch nur im geringsten interessieren.
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor zwei. Langsam ging er zu seinem Wagen zurück. Es war noch zu früh, um zum Hotel zurückzugehen; er würde es ohnehin nicht wagen, die Frau zu fragen, ob sie über ihren Schwager bereits etwas in Erfahrung hatte bringen können. Und was er ansonsten tun sollte, darüber hatte er nicht die geringste Vorstellung. Er nahm sich schließlich vor, ans Meer zu fahren, und nach kurzer Zeit konnte ihn die Vorstellung sogar beruhigen, stundenlang am Strand spazieren zu gehen.
Es war um diese Uhrzeit nicht einfach, die Stadt zu verlassen. Noch immer strömten die Menschen mit ihren Autos in die schon völlig überfüllten engen Straßen, um an diesem kalten und diesigen Nachmittag die Einkäufe für die Woche zu erledigen. Schließlich hatte er völlig die Orientierung verloren, hielt kurz hinter der Ortsgrenze noch einmal an und nahm die auf dem Beifahrersitz liegende, völlig zusammengedrückte Landkarte zur Hand. Bevor er Michel kennen gelernt hatte, war Holland für ihn nie etwas anderes gewesen als ein Ort, an dem man mit der Familie den Sommerurlaub verbringen konnte; wo es ansonsten noch Pommes frites mit einer Mayonnaise gab, die auch den Kindern auf Anhieb viel leckerer vorgekommen war als die in Deutschland; wo Frau Antje in Tracht und Holzschuhen durch die Gegend lief, um im deutschen Werbefernsehen für Käse aus eben diesem Land zu werben. Diese endlosen und raumfressenden Industriegebiete ringsum die Stadt passten absolut nicht in sein Bild. Nachdem er eine geraume Zeit gereizt die Landkarte betrachtet hatte, fuhr er weiter.
Erst als er die an den Dünen entlanglaufende Straße erreicht hatte, diese nach wenigen Minuten eine weite Linkskurve beschrieb und sein Blick auf den noch rund einen Kilometer entfernten Ort Callantsoog fiel, stimmten sein Vorurteil und die Wirklichkeit wieder überein. Mehr noch: die vielleicht gerade bei diesem nasskalten Februarwetter besonders anheimelnde Atmosphäre des kleinen Badeortes hatte er nicht erwartet.
Hier ist es gezellig, dachte er, als er den Wagen auf dem von kleinen Geschäften umstellten Dorfplatz abstellte. Obschon es zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter außer ihm offensichtlich kaum einen Menschen hierher verschlagen hatte, waren fast alle Läden rings um den Platz geöffnet.
Gezellig war eines der vielen Wörter, die Michel ihm beigebracht hatte; und hatte er versucht, ein Wort wie gezellig auszusprechen, so hatte Michel immer lachen müssen. Und dann war ihm plötzlich auch noch die Situation vor Augen, in der dieses Wort zum erstenmal aufgetaucht war: Sie saßen zusammen in einem Restaurant irgendwo in der Hoge Veluwe. Mitten in dem Heidegebiet in der Nähe von Arnhem waren sie von einem Unwetter überrascht worden, und vom ersten Augenblick an hatte ihn die Atmosphäre in dem Lokal beruhigt.
Nachdem Michel ihm beigebracht hatte, dass gemütlich gezellig hieß, hatte er das plötzlich seltsam gefunden.
Was ist daran seltsam?
Wenn ein Deutscher es irgendwo gemütlich findet, dann meint er damit seine eigene Stimmung in einer ganz bestimmten Umgebung; das holländische Wort setzt doch wohl voraus, dass man unter Menschen ist, die man in irgendeiner Weise nett findet.
Michel hatten derartige Spitzfindigkeiten ganz offensichtlich nicht interessiert, vielleicht hatte er sie auch wirklich nicht verstanden, jedenfalls hatte er schließlich nur gemeint: Aber gemütlich ist es auf deutsch doch auch nur mit anderen Menschen.
Na, ich weiß nicht. Zumindest habe ich in der letzten Zeit immer das Gefühl, dass es ungemütlich wird, sobald ich auftauche. Manchmal denke ich sogar, ich kann bis ans Ende der Welt laufen, und wenn ich dort ankomme, ist all der Schlamassel schon da, in dem ich stecke.
Michel hatte ihn angelacht. Ich kann mir vorstellen, dass du dich im Augenblick nicht sonderlich wohl fühlst in deiner Haut. Du bist bei dir selber nicht zu Hause. Aber das kriegen wir schon wieder hin.
Michels Worte waren ihm an jenem Tag seltsam nahegegangen, und er hatte wie ein verliebter Pennäler dessen Hand unter dem Tisch gedrückt.
Nur wenig später hatte er dann eine Vorstellung gegeben über das, was er mit seiner Ungemütlichkeit gemeint hatte. Er hatte Michel abgefertigt wie einen dummen Jungen. Es hat einfach keinen Sinn, wenn du jetzt über die verlorene Zeit trauerst, hatte Michel ihn nur trösten wollen; über den Umweg, den du gemacht hast, um endlich so zu werden, wie du immer schon warst oder sein wolltest.
Er hatte Michels Hand augenblicklich losgelassen. Es gab für mich keinen Umweg, und es gab auch keine verlorene Zeit. Ich habe Lisa ganz bewusst geheiratet, ich habe ganz bewusst drei Kinder haben wollen, und vielleicht gerade weil das alles oft auch mit vielen - sagen wir mal - Unannehmlichkeiten verbunden war, kenne ich überhaupt nicht dieses Gefühl, das man heutzutage als midlife-crisis bezeichnet. Und dann war er auch noch philosophisch ausschweifend geworden. Die meisten Leute ersticken eben heute irgendwann an der Menge ihres nicht-gelebten Lebens. Diese Karrieretypen, die immer nur geschuftet haben und plötzlich spüren, dass sie zum alten Eisen gehören. Oder die emanzipierten Schranzen, die ihr ganzes Leben lang schreien, dass ihr Bauch ihnen gehört, obschon niemand jemals das Gegenteil behauptet hat; und mit 45 stellen sie dann anscheinend ganz überrascht fest, dass es jetzt wohl doch ein Schoßhündchen sein muss, weil es für Kinder zu spät ist.
Oder nimm doch nur deine Bekannten in den Schwulenkneipen! Ich habe nicht die geringste Lust dazu, so zu werden wie diese Leute. Die jungen Kerle, die jeden Abend nur noch schön sind, weil sie den Arsch nie voll genug kriegen; die alten Säcke, die ihr verkorkstes Leben durch albernes Getue nicht wahrhaben wollen; und die besoffenen Tunten, für die das Leben anscheinend nie mehr sein wird als eine Prunksitzung des Kölner Karnevals.
Michel hatte ihn nach diesem zynischen Ausbruch fassungslos angesehen. Und dann hatte der Junge auf eine Weise reagiert, die ihn völlig überrascht hatte: Du hältst mich bestimmt für dumm?, hatte er gefragt. Für ganz dumm und oberflächlich.
Er hatte augenblicklich widersprechen, sich entschuldigen wollen; aber statt dessen hatte er nur in Michels Gesicht geschaut, das ihm plötzlich hilflos, geradezu flehend vorgekommen war: Sag bitte, dass es nicht so ist! Sag, dass du mich nicht für dumm und oberflächlich hältst! Und dann hatte er nicht widersprochen. Vielleicht aus Wut nicht. Wahrscheinlich aus einem anderen Grund.
Geblieben war nur dieses Bild, diese eine Sekunde, in der man einen Menschen bis auf den Grund seiner Seele durchschaut zu haben glaubte, weil man dem anderen wehgetan und ihm keine Chance mehr gelassen hatte, sich zu verstellen. Ein ganz tiefes Gefühl von Mitleid, das er selber niemals so bezeichnet hätte, weil er wusste, dass es in seinem Fall von jemandem geäußert worden wäre, der zu wirklichem Mitleid gar nicht fähig war; der es einfach brauchte, ein Gegenüber völlig klein zu machen, um von der eigenen Erbärmlichkeit abzulenken.
Erst Tage später hatte er sich bei Michel entschuldigt.
Ich will, dass wir zusammen sind, weil wir uns lieben, hatte Michel nur gesagt. Dein Mitleid ist jedenfalls das Letzte, was ich brauche.
Mit Lisa hatte er solche Situationen oft erlebt. Einmal hatte er Lisa sogar eine Ohrfeige verpasst, und noch heute konnte er aus seiner Erinnerung dieses Bild hervorkramen wie aus einem Fotoalbum: Lisas fassungsloses Gesicht, als sie neben Veras Kinderbett stand und mit der linken Hand ihre Wange hielt. Und noch heute konnten auch die grauenhaften Schuldgefühle bei Bedarf wiedererweckt werden und die Scham, wegen der alleine man sich dem anderen gegenüber verpflichtet fühlen musste. Nun kam ihm dieser seelische Mechanismus vor wie die inszenierten Bilder verhungernder Kinder mit ausgestreckter Hand und großen Kulleraugen, mit denen man etwa vor Weihnachten in den Kirchen Mitleid erwecken wollte bei den Spendensammlungen für die dritte Welt. Eine Art des Mitleids von Menschen, die in der Wirklichkeit gar kein Mitleid mehr empfinden konnten.
Als er langsam die über den Dünenkamm zum Strand führende Treppe emporstieg, dachte er wieder an Michel. Ich will nicht so werden wie du. Ich finde dich ekelhaft: auch dieses Gesicht Michels würde er nie vergessen.
Und plötzlich kam ihm sein Verhalten ganz unglaublich vor. Er hatte den Jungen auf die übelste Weise beleidigt, ihn gedemütigt, und doch war er davon ausgegangen, dass Michel nichts anderes zu tun wisse, als zu Hause sehnsüchtig auf ihn zu warten. Ohne Michel nach dem Streit auch nur ein einziges Mal gesprochen zu haben, war er gestern nach Arnhem gefahren. Nun ging es ihm schlecht genug, nun sollte der andere ihm gefälligst helfen. Er nahm sich vor, die Frau im Hotel bei seiner Rückkehr gleich wieder nach Michel zu fragen, sie für den Fall, dass sie noch nichts unternommen hatte, eindringlich zu bitten, ihm bei der Suche nach dem Jungen zu helfen. Und wenn er ihr dafür die ganze Wahrheit erzählen müsste, er würde Michel finden. Und sich entschuldigen.
Es war gerade Ebbe, und da außerdem der Wind vom Land blies, hatte sich das Wasser weit zurückgezogen. Die zum Küstenschutz aus schweren Steinen ins Meer hinausgebauten Buhnen lagen größtenteils trocken und kamen ihm vor wie die Kaimauern eines ausgestorbenen Hafens. Bis auf zwei Menschen, die er noch als kleine bewegliche Punkte in der Ferne wahrnehmen konnte, war der Strand menschenleer.
Er ging dicht am Wasser entlang, und schon nach kurzer Zeit hatte ihn die Monotonie der schwachen Brandung eingelullt, die schreckliche Unruhe vergessen lassen, ihm einen anderen Rhythmus aufgezwungen. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war, blieb er sogar stehen und häufte zunächst mit bloßen Händen, später mit einer angespülten Holzplanke den Sand zu einem ansehnlichen Berg auf, den er anschließend noch mit einem Graben umgab. Es musste bald die Flut einsetzen, und wie einem kleinen Kind machte es ihm plötzlich Spaß, zuzuschauen, wie lange seine Sandburg den Wellen widerstehen würde, sich seinen Phantasien hinzugeben angesichts dieses bescheidenen Schauspiels, an dessen Ausgang es letztlich ohnehin keinen Zweifel geben konnte. Erst als er in der Ferne Menschen auftauchen sah, ging er schnell weiter. Es war kurz vor vier, als er beschloss, den nächsten Strandaufgang zu benutzen, um anschließend durch die Dünen nach Callantsoog zurückzukehren.
Der Dünenstreifen war an dieser Stelle allerdings wesentlich breiter als in der Nähe des Ortes, zudem verliefen die Wege nicht parallel oder in rechtem Winkel zum Strand, sondern waren hier derart verschlungen angelegt, dass er nach kurzer Zeit bereits nicht einmal mehr wusste, ob er überhaupt in die richtige Richtung ging. Um sich zu orientieren, verließ er schließlich den Weg und lief durch tiefen nachgebenden Sand eine der Dünen hinauf.
Von oben waren weder das Meer noch sonst irgendein Anhaltspunkt zu sehen. Ringsum breitete sich scheinbar endlos die Dünenlandschaft aus, die ihm plötzlich wie eine geeignete Kulisse für die zahlreichen Karl-May-Filme vorkam, von denen er in den späten 60er Jahren nicht einen einzigen versäumt hatte. Erschöpft ließ er sich in den kalten und feuchten Sand fallen.
Durch laute und übermütig klingende Stimmen wurde er plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Auf dem Weg unterhalb seines Sitzplatzes sah er einen Pferdekarren mit vier jungen Leuten vorbeikommen. Der Karren wurde von einem stämmigen Ackergaul gezogen, der von zwei Mädchen auf dem vorderen Teil des Wagens angetrieben wurde. Auf dem hinteren Teil des Wagens saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung ein Mädchen und ein junger Mann. Das Mädchen zog ein kleines weißes Pferd am Zügel hinter dem Karren her, ein nervös und zerbrechlich wirkendes Tier, das ab und zu versuchte, an dem Gefährt vorbeizulaufen, und dabei jedesmal das Mädchen fast von dem Wagen zog.
Augenblicklich hatte ihn dieses Mädchen an Vera erinnert.
Sie war auf keinen Fall älter als 16, eher noch 15, hatte lange hellbraune Haare und den gleichen zarten Körperbau wie Vera, die sie auch heute noch am liebsten bei ihrem Spitznamen riefen: Floh. Unser Floh. Sie trug eine Reithose, große, plumpe Gummistiefel und eine gelbe Regenjacke, und auch diese Kleidung schien ihm nun geradezu typisch zu sein für die Art und Weise, auf die auch Vera es verstand, sich nach Lisas Ansicht geradezu zu verunstalten. Vera war immer ein ausgesprochen hübsches Kind gewesen; aber auf ihr Äußeres hatte sie ebenso wie er selber nie den geringsten Wert gelegt. Erst in den letzten Wochen hatte er sich immer häufiger gefragt, ob diese offensichtliche Nachlässigkeit oder sogar Gleichgültigkeit bei ihr echt oder nicht doch schon längst ganz bewusste Strategie war. Mittel zum Zweck eben, und als er nun in das Gesicht des Mädchens sah, fragte er sich, ob Vera nicht noch viel zu jung für die Beziehung zu Jochen war, viel zu jung eigentlich für jede Beziehung, und dann kam ihm dieser Gedanke plötzlich peinlich vor, geradezu ungeheuerlich, wie das dumme Gerede eines Spießers, der sich völlig überflüssigerweise in die Angelegenheiten eines fremden Menschen einmischt. Trotz ihres eher zerbrechlichen Äußeren hatte Vera schließlich immer schon gewusst, was sie wollte, und wie zur Bestätigung nahm er nun wahr, dass auch das Mädchen auf dem Karren es trotz des jetzt fast hämischen Lachens der anderen immer wieder verstand, das ängstliche Pferd, das sie am Zügel hielt, zu beruhigen und zum Weitergehen zu bewegen.
Vera war allerdings nie von dieser Schwärmerei für Pferde angesteckt worden, die er dem Mädchen auf dem Karren unterstellte und die anscheinend ganze Generationen junger Mädchen befiel wie Masern oder Windpocken. Und dann war ihm plötzlich fast zum Lachen zumute: Es gab da doch ein Ereignis, das allerdings schon Jahre zurück lag und geschehen war, als Vera 6 oder 7 Jahre alt gewesen war. Ganz genau konnte er sich plötzlich an diese Episode erinnern: Es war in dem Jahr gewesen, als Vera eingeschult worden war. An einem warmen Sommertag waren sie zu einem Ausflugslokal gefahren. Man hatte dort für die Kinder Ponys mieten können, und kaum hatte Vera die kleinen Tiere entdeckt, hatte sie so lange gequengelt, bis sie schließlich mit einem der kleinen Tiere durch den Wald gelaufen waren. Und von dem Tag an hatte Vera sich zu Weihnachten ein Pferd gewünscht. Natürlich hatten sie sofort mit amüsierter Einfühlungsgabe versucht, Vera von diesem Wunsch an das Christkind abzubringen und insgeheim gehofft, sie würde alles das ohnehin in ein paar Tagen vergessen haben; aber dem war nicht so gewesen. Je näher das Weihnachtsfest gerückt war, um so mehr hatte sich Veras Wunsch verfestigt und sogar konkretisiert: Am liebsten ein weißes. Aber die Farbe ist eigentlich nicht so wichtig. Und im gleichen Maße hatten sich Lisas und seine Reaktionen entschiedener und ärgerlicher gezeigt, bis Lisa eine erneute Erinnerung an den einzigen Weihnachtswunsch ihrer Tochter völlig gereizt mit dem Satz abgetan hatte: Du hast doch wohl einen Vogel!
Genutzt hatte es gar nichts. Als habe sie ihren Eltern zum ersten Mal als Boten an das Christkind zur Überbringung der Weihnachtswünsche nicht mehr getraut, hatte Vera einen Wunschzettel geschrieben und vor die Tür ihres Kinderzimmers gelegt: Liebes Christkind. Ich will ein Pferd haben. Es muss gar nicht groß sein, und am liebsten ein weißes. Lisa hatte den Zettel gefunden und zusammen hatten sie sich über die vielen Rechtschreibfehler fast totgelacht und waren zu der Entscheidung gekommen, dass diesem Wunsch nun doch entsprochen werden musste. Am nächsten Tag hatten sie in der Stadt ein sündhaft teures Steifftier gekauft und sich von dem Augenblick an auf die Bescherung gefreut.
Es war eine Katastrophe geworden. Wahrscheinlich hatte Vera ihre maßlose Enttäuschung am Heiligen Abend mit Rücksicht auf die Eltern noch zu verbergen versucht, aber am nächsten Morgen lag das Plüschtier mit einem Zettel versehen vor ihrer Zimmertür: Liebes Christkind, so eins nicht. Ich will nur ein echtes. Er spürte, wie ihm die Erinnerungen die Tränen in die Augen trieben und schnell wandte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder seiner augenblicklichen Umgebung zu.
Keine fünfzig Meter von ihm entfernt blieb der Wagen plötzlich stehen, und sofort fragte er sich, ob die jungen Leute ihn bereits gesehen hatten oder nicht. Als es deutlich war, dass sie ihn ganz offensichtlich noch nicht wahrgenommen hatten, glaubte er sofort, sich den anderen nun unbedingt durch irgendwelche Auffälligkeiten bemerkbar machen zu müssen.
Der junge Mann und das Mädchen sprangen vom hinteren Teil des Wagens, mit einem Satz saß das Mädchen auf dem weißen Pferd, das augenblicklich losschnellte, und nach wenigen Galoppsprüngen waren die beiden hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.
Es fiel ihm sofort auf, dass die anderen drei Leute ganz offensichtlich nur wenig Interesse füreinander hatten. Die beiden Mädchen, noch Kinder von 11 oder 12 Jahren, machten sich am Geschirr des anderen Pferdes zu schaffen, während der Mann mit in die Hüften gestemmten Armen auf dem Weg stand und in die Richtung blickte, in der das Mädchen auf dem weißen Pferd verschwunden war. Er mochte um die 20 sein, eher jünger, trug eine Jeans, einen dicken Pullover, dessen unterer Teil in die Hose gesteckt war, und schwarze Schnürstiefel. Auch der Haarschnitt unterstützte das fast militante Äußere: die Haare waren so kurz geschnitten, dass man aus der Entfernung nicht einmal sagen konnte, ob man nun die Farbe der Haare oder die der Kopfhaut wahrnahm.
Wahrscheinlich will der Kerl etwas von dem Mädchen, ging es ihm plötzlich durch den Kopf, und die beiden Kinder stören ihn nur dabei. Sofort war ihm dieser Gedanke peinlich, vor allem erstaunte ihn die Aggressivität, die das Bild des jungen Mannes ganz offensichtlich in ihm auslöste. Als Freund von Vera würde er diesen Kerl niemals dulden. Und wieder kam ihm dieser Gedanke albern vor, peinlich und unangebracht wie jede Einmischung in die Angelegenheiten anderer Menschen, um deren Angelegenheiten man sich nicht zu kümmern hatte.
Der Kerl war ordinär, dachte er, ordinär und ansonsten gar nichts. Und dann machte es ihm plötzlich einen seltsamen Spaß, sich seinen Gedanken hinzugeben. Der Kerl war ordinär im wahrsten Sinne des Wortes. Er war nicht hässlich, sah vielleicht sogar ganz gut aus, aber er hatte kein Gesicht, das ihn aus der Menge herausgehoben, an das man sich nach einer zufälligen Begegnung mit ihm noch erinnert hätte. Und schließlich glaubte er sogar, dieses kantige und schroffe Gesicht bringe bestenfalls das Geschlecht des Kerls zum Ausdruck, seine brutale Animalität, und entbehre ansonsten aber auch jeder individuellen Charakteristik. Dieser Kerl sollte nur seine Finger von Vera lassen. Und als das Mädchen auf dem weißen Pferd zurückkehrte, die Gruppe passierte und in der anderen Richtung davonpreschte, wusste er, dass der Mann ihn bemerkt hatte: für Sekunden waren dessen Blicke nicht dem vorbeireitenden Mädchen gefolgt, sondern an ihm hängengeblieben, und für Bruchteile von Sekunden hatten sich ihre Blicke sogar getroffen.
Der Körper des Jungen war allerdings perfekt, fast zu perfekt, unterstützte den Eindruck des Animalischen, der ihn von Beginn an beunruhigt hatte; und dann kam ihm auch dieser Gedanke vor wie etwas, das man nur widerwillig einräumen musste. Dieser junge Mann war ganz anders jedenfalls als der verhaschte und in sich gekehrte Woodstock-Typ in Sandalen, der zu seiner Zeit in den 70er Jahren angesagt gewesen war, einsam, selbstverliebt und unnahbar. Und plötzlich kam der Junge ihm geradezu gigantisch aufgeblasen vor. Der Kerl war ein Riese, Produkt des Körperkultes einer geistlosen Zeit, dachte er, der selbst dann noch nicht mit sich zufrieden sein durfte, wenn durch die Torturen in Fitness-Studios und die Einnahme von Hormonpräparaten die Arme aussahen wie Telefonmasten, die Oberschenkel Baumstämmen glichen und die Arschbacken das Format von Medizinbällen erreicht hatten. Die Art und Weise, wie die Kleidung die Körperformen auch noch betonte und hervorhob, kam ihm nun geradezu schamlos vor. Die Aufgeblasenheit platzte fast aus allen Nähten. Jochen hatte auf seine Nachfrage hin irgendwann gesagt, dass er regelmäßig in ein Fitness-Studio gehe.
Und dann war es plötzlich überdeutlich: Sekundenlang hatte der junge Mann zu ihm hergesehen, hatte versucht, seine Augen zu fixieren, die auf den jungen Mann gerichtet waren und doch wie geistesabwesend ins Ungefähre geblickt hatten.
Dann kam das Mädchen zurück, hielt das Tier an, saß ab und redete mit dem jungen Mann. Er spürte, wie sein Puls plötzlich schneller schlug: wenn auch das Mädchen nun zu ihm hersah, dann musste der Mann sie darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie beobachtet wurden. Er wusste nicht, was er dann tun sollte.
Das Mädchen sah nicht zu ihm hin, sondern wandte sich sofort den beiden Kindern zu, die sie ganz offensichtlich darauf aufmerksam gemacht hatten, dass mit dem Geschirr des anderes Pferdes irgend etwas nicht in Ordnung war.
Dann schaute er wieder völlig ungeniert auf den Mann, der nun abgelenkt war, weil er das weiße Pferd am Zügel halten musste und diese Situation ihm ganz offensichtlich peinlich war, so dass er wie hilflos zu den Mädchen herübersah.
Größere Gegensätze konnte es wirklich nicht geben als diesen plumpen grobschlächtigen Kerl und das kleine, leichte Pferd, dachte er, als der Mann plötzlich völlig unerwartet wieder in seine Richtung schaute. Diesmal hätte es keinen Sinn mehr gemacht, dem Blick des anderen auszuweichen; außerdem sah er mittlerweile nicht mehr die geringste Veranlassung dazu. Ganz im Gegenteil: Er wollte es plötzlich geradezu darauf anlegen herauszufinden, wer den Blick zuerst abwenden würde, er oder dieser Kerl.
Auch als der Mann sich schon längst wieder ausschließlich dem Tier zugewandt hatte, dessen Hals klopfte, um es zu beruhigen, und schließlich mit seinen riesigen Pranken über dessen schmalen Rücken strich, hatte er mehrfach das Gefühl, dass der Kerl zu ihm hergesehen hatte; und war ihm dessen Blick bis jetzt relativ gleichgültig vorgekommen, so war er nun davon überzeugt, dass der andere verärgert war, sich durch ihn gestört fühlte.
Mit einem kurzen Sprung saß der Kerl plötzlich auf dem Rücken des Tieres, und im ersten Moment kam es ihm so vor, als müsse das Tier augenblicklich zusammenbrechen. Auch die Mädchen schauten offensichtlich besorgt zu dem Mann, der das kleine Tier vorwärtstrieb, ohne dass es mit hochaufgerichtetem Hals und wie in Panik weit aufgerissenen Augen über ein paar nervöse Trabschritte hinauskam; vor der Wegbiegung hielt der Kerl das Tier an und ließ es im ruhigen Schritt zurückkehren. Eines der Kinder kam ihm entgegen und hielt das Pferd am Halfter fest.
Und dann war alles blitzschnell gegangen: Der Mann zeigte plötzlich in seine Richtung, schob das Kind zur Seite, schlug mit dem Ende des Zügels ein paarmal hinter sich, bis das Tier die schwere Last durch den tiefen Sand die Düne hinaufschleppte. Deutlich war das angestrengte Keuchen des Tieres zu hören, als der Mann vor ihm anhielt: Zal ik je een foto van mij geven? Dan hoef je me niet zo aan te staren!
Trotz der fremden Sprache hatte er sofort verstanden, was der Kerl gemeint hatte, schon weil er nur genau das gemeint haben konnte. Er glaubte, dass ihm wegen des plötzlichen Blutandrangs augenblicklich der Kopf zerspringen müsse. Es kam ihm noch zu Bewusstsein, dass er sich nun unbedingt zur Wehr setzen, irgend etwas sagen musste, und dann sah er nur noch wie gebannt auf den Mann.
Der lachte plötzlich höhnisch und spuckte vor ihm aus. Vieze, vuile flikker, sagte er leise und grinste, als habe er schlagartig jegliches Interesse an ihm als Gegner verloren. Wie in einer Zeitlupenaufnahme zog der Mann den Kopf des Tieres mit dem Zügel zur Seite und ließ es langsam durch den tiefen Sand der Düne wieder zurück auf die Kindern zugehen.
Für Sekunden gelang es ihm noch, die Attitüde des empörten und von einem Flegel zutiefst beleidigten Unbeteiligten aufrechtzuerhalten; dann brach die Fassade schlagartig zusammen. Er sprang auf und lief los, es war ihm völlig gleichgültig, wie die anderen auf sein Tun reagierten, wahrscheinlich würden sie ohnehin lachen, er wollte weg, nur noch weg. Irgendwann blieb er mit rasendem Puls stehen und musste sich übergeben. Wenig später hatte er völlig die Orientierung verloren.
Es war bereits dunkel, als er wieder in Schagen eintraf.
Die Frau im Hotel schien schon auf ihn gewartet zu haben. Es tut mir leid, aber in Schagen wohnt Ihr Bekannter nicht. Er steht jedenfalls nicht im bevolkingsregister.
Er nickte nur. Kann ich eigentlich vom Zimmer aus nach Deutschland anrufen?
Sicherlich. Sie müssen nur eine Null vorwählen und die Landesnummer. Für Deutschland ist das die 49. Ganz offensichtlich war die Frau betroffen, weil er sich für ihre Bemühungen nicht einmal bedankt hatte. Dieses Gespräch muss ich Ihnen natürlich auf die Rechnung setzen, sagte sie unfreundlich.
Selbstverständlich.
In seinem Zimmer angekommen, zog er nicht einmal die Jacke aus. Und auch als der Ruf durchging, schien es ihm viel zu lange zu dauern, bis endlich jemand den Hörer am anderen Ende der Leitung abnahm.
Weber.
Lisa? Ich bin's.
Mein Gott, wo bist du denn jetzt?
Es dauerte eine ganze Weile, bis er Lisa erklärt hatte, wo er war.
Bleib einfach da.
Wie bitte?
Bleib da! Ich komme morgen zu dir.
Ich kann doch nach Hause kommen.
Wir brauchen beide eine Woche Urlaub. Ich komme morgen zu dir.
Das geht doch gar nicht.
Doch das geht. Ich rufe gleich meine Mutter an. Sie kann sich eine Woche um die Kinder und den Haushalt kümmern, und den Wagen brauchen meine Eltern ohnehin nicht.
Hast du deinen Eltern schon irgend etwas erzählt?
Bist du verrückt?
Es dauerte noch lange, bis sie sich endlich verabschiedet hatten.
Übrigens, Gerd?
Ja?
Ich liebe dich.
Ich dich auch, Lisa.
Er legte den Hörer auf den Apparat zurück, und dann war es wieder um seine Fassung geschehen: er warf sich auf das Bett und heulte los wie ein Schlosshund.
Een vieze, vuile flikker: Er selber hatte Michel einmal gefragt, was man eigentlich sagen musste, wenn man einen Schwulen auf holländisch beleidigen wolle.
Een vieze, vuile flikker.
Aber warum willst du das denn wissen?, hatte Michel ihn völlig entgeistert gefragt. Das ist doch ein schrecklicher Ausdruck. Hier bei uns kannst du jeden anzeigen, der dich so nennt. Das ist nämlich Diskriminierung.
Außer sich vor Wut schlug er plötzlich mit der geballten Faust gegen die Wand. Seine Geduld mit Michel war einfach zu Ende. Lisa sollte endlich kommen, oder er würde verrückt werden.
Es war kurz nach halb sechs, und regungslos sah er aus dem Fenster auf die nassen, dunklen Straßen, durch die sich noch immer viele Menschen zwängten, die sich wegen des nun wieder einsetzenden Regens zumeist dicht an den Hauswänden hielten. Alle diese Leute, dachte er plötzlich, wussten, was sie zu tun hatten, kannten ihren Platz in der Gemeinschaft, betrachteten Diskriminierung allerhöchstens als juristisches, aber auf gar keinen Fall als existentielles Problem; und dann kam ihm dieser Gedanke widerlich vor, wie bodenloses Selbstmitleid, zu dem er kein Recht mehr hatte und das zu nichts anderem mehr führen konnte als dazu, den Ekel vor sich selber noch zu vertiefen.
Er wusste, dass er nun Alkohol brauchte, und augenblicklich sah er sich in einem unerträglichen Dilemma: Ohne Alkohol würde er den Rest des Tages nicht überstehen, davon war er völlig überzeugt, aber nichts würde ihn dazu bringen, diesen Raum noch einmal zu verlassen, unter Menschen zu gehen, die seine Erbärmlichkeit sofort bemerken und ihn auslachen mussten. Um fünf vor sechs verließ er das Zimmer, war an der Rezeption bemüht, jegliches Geräusch zu vermeiden, ließ wie ein Dieb die Tür hinter sich behutsam ins Schloss fallen und lief durch den strömenden Regen zu dem Eingang des Supermarktes, den er bereits heute Morgen ganz in der Nähe des Hotels ausfindig gemacht hatte. Es erschreckte ihn dann, dass in niederländischen Supermärkten ganz offensichtlich keine harten alkoholischen Getränke zu kaufen waren, und nach langem, unschlüssigem Hin und Her, das ihn zunehmend verunsicherte und peinlicher wurde, je länger er unentschlossen vor dem riesigen Angebot alkoholischer Getränke stand, nahm er schließlich zwei Weinflaschen aus dem übervollen Regal und ging zur Kasse. Es kam ihm vor, als grinse die Verkäuferin an der Kasse ihn schamlos an, weil auch sie seine Hilflosigkeit schon längst durchschaut haben musste. Nirgendwo sah er Tragetaschen, und da er die Verkäuferin nicht danach fragen wollte und für den kurzen Weg keine Jacke angezogen hatte, lief er schließlich mit den beiden Flaschen unter den Armen zurück zum Hotel. Dort angekommen blieb er einen Augenblick atemlos stehen, glaubte wieder die Blicke aller Passanten auf sich gerichtet und betrat schließlich das Gebäude. Sollte die Frau nun an der Rezeption sitzen, würde er vor Scham in den Erdboden versinken. Als sie nicht dort saß, war er davon überzeugt, dass sie ihn längst von einem Fenster aus gesehen hatte oder ihn nun aus dem Hinterzimmer oder mit Hilfe einer hier irgendwo versteckten Kamera beobachtete.
Auch im Zimmer wollte sich seine Unruhe nicht legen. Weshalb hatte er heute Morgen die Frau überhaupt angesprochen? Was, wenn sie nun doch noch irgendetwas für ihn in Erfahrung gebracht hatte, ihm dies unbedingt noch mitteilen wollte und womöglich an seine Zimmertür klopfen würde? Er würde den ganzen Abend angstvoll jedes Geräusch in diesem Zimmer vermeiden, das wusste er, nur weil er zu jeglichem Kontakt zu seiner Umwelt ganz offensichtlich nicht in der Lage war. Dann wurde er aggressiv, weil sich im Zimmer nichts fand, um die Flaschen zu öffnen, und als es ihm schließlich mit äußerster Gewalt gelang, die Korken in die Flaschen zu pressen, schoss aus einer der Flaschen ein Schwall Rotwein und ergoss sich auf den ausgetretenen und schmuddeligen Teppichboden.
Er mochte keinen Wein, wegen des hohen Säuregehalts würde sein Magen dagegen rebellieren und er sich wahrscheinlich im Lauf der Nacht übergeben müssen. Er stürzte die ersten Schlucke gierig hinunter und nach wenigen Minuten spürte er, wie die Wirkung des Alkohols einsetzte und seine Aufregung sich legte. Aus Erfahrung wusste er, dass dieses Gefühl der Entspannung anhalten würde bis zum Einschlafen, man sich bei der ausreichenden Menge an Alkohol nicht einmal mehr Gedanken machen musste um den richtigen Zeitpunkt.
Irgendwann nahm er auch die Geräusche im Haus, auf die er zunächst ängstlich fixiert war, nicht mehr wahr. Es kam ihm plötzlich absurd vor, in einem dunklen Raum zu sitzen, er schaltete das Licht ein, und dann hielt er es für besser, den roten Flecken auf dem Teppichboden noch heute zu entfernen. Als dies nicht gelang, war ihm auch das gleichgültig. Fast befriedigt nahm er dann zur Kenntnis, dass seine Augen offensichtlich bereits nicht mehr in der Lage waren, ein einheitliches Bild der Stehlampe auf dem Nachttischchen neben dem Bett zu erzeugen. Als auch die zweite Flasche geleert war, wusste er, dass es für ihn hier und heute nichts mehr zu tun gab. Vielleicht, dachte er noch, musste er sich noch darum kümmern, häufig genug seine Blase zu entleeren, weil das Bettnässen in einem Hotel wohl der Gipfel der Entwürdigung sein musste. Für Sekunden nur erschrak er, als er daran dachte, bei Lisas Ankunft am nächsten Tag womöglich immer noch betrunken zu sein. Dann löschte er das Licht und legte sich auf das Bett.
An Schlaf war nicht zu denken. Einen Augenblick dachte er daran, nun zumindest noch die genaue Uhrzeit in Erfahrung zu bringen, weil Lisa doch morgen kommen würde; doch dann war ihm auch das gleichgültig. Er lag schließlich regungslos auf dem Bett und starrte auf das schmuddelige Viereck der Zimmerdecke, auf die irgendeine aggressive Neonreklame von außen ihre unregelmäßigen Lichtblitze warf und die plötzlich zur Leinwand wurde für Bilder, auf deren Auftauchen und Verschwinden er nicht mehr den geringsten Einfluss hatte: Michel saß vor ihm auf dem Fußboden, fasste sich an den Hinterkopf und starrte dann völlig ungläubig auf seine Hand, die voller Blut war. Ich will nicht so werden wie du, weil ich dich ekelhaft finde. Dein Mitleid will ich bestimmt nicht, sagte Michel und lächelte nun wieder, aber gemeinsam kriegen wir das schon hin. Und als der Junge ihm seine blutverschmierte Hand hinhielt, die ihn fast berührte, wandte er sich mit Widerwillen ab. Erst als Michel plötzlich einen Fotoapparat in der Hand hielt und im Begriff war, den darin enthaltenen Film zu belichten, warf er sich auf den Jungen, versuchte, ihn mit allen Mitteln von seinem Vorhaben abzubringen. Es kam zu einem Handgemenge, und er hörte, wie er die Lampe auf dem Nachttisch zu Boden warf. Dann stand Michel vor ihm und hielt triumphierend den herausgerissenen Film hoch. Voller Hass stürzte er sich auf Michel, riss ihm den Film aus der Hand und stellte mit rasendem Puls und größter Genugtuung fest, dass Michels Vorhaben gescheitert war.
Er hielt den schmalen Streifen mit den Bildern gegen das Licht. Er sah nichts, aber er wusste ohnehin, dass die Bilder eine Wiese zeigten, ein paar schmuddelige kleine Ponys, und da war Klaus Ferner.
Und wieder die verschlissene blaue Cordhose, die sich über eines der kleinen Pferde spreizte, sich schließlich immer fester und unerbittlicher in den weichen Rücken des kleinen Tieres presste, den Hals immer energischer zwischen die Oberschenkel zog, als gelte es dort etwas, wenn nicht zu verbergen, so doch auf jeden Fall nur so weit deutlich werden zu lassen, dass man sich jederzeit davon noch distanzieren konnte.
Das ist geil, sagte Klaus Ferner, saugeil, als habe es da noch den geringsten Zweifel geben können.
Macht dir das Spaß?
Und nun lachte Klaus Ferner. Na klar! Der ist genauso wie du. Mit dem kann man machen, was man will. Er lehnte den Oberkörper leicht zurück und warf übermütig die Beine nach vorn. Deutlich war jetzt die Wölbung in der blauen Cordhose zu sehen. Ich liebe schwule Gäule, die genießen das. Meinst du nicht auch?
Vieze, vuile flikker, sagte plötzlich der grobschlächtige Kerl vom heutigen Nachmittag. Soll ich dir mal ein Foto von mir schenken? Und weil der Mann ganz dicht vor ihm stand, ihn fast berührte, konnte er nicht anders als zwischen die riesigen Oberschenkel sehen, die das kleine weiße Tier fest im Griff hatten, dessen eigenen Willen einfach erstickten. Hier hast du ein Bild von mir, dann brauchst du mich nicht immer so anzuglotzen.
Zu seinem Entsetzen zeigte das Bild Jochen, als er Weihnachten zum ersten Mal bei ihnen aufgekreuzt und er selber schon dermaßen betrunken gewesen war, dass er dem jungen Mann unentwegt zwischen die auf der Couch weit gespreizten Beine gesehen hatte. Und nun war es Jochen, der auf dem kleinen Tier in den Dünen saß und ihn mit dem verächtlichen Grinsen desjenigen ansah, der die Erbärmlichkeit seines Gegenübers durchschaut und damit jedes weitere Interesse an ihm verloren hatte.
Es ist doch jetzt gut, rief er plötzlich, es ist doch jetzt genug!
Und als der schwere Kerl das vor Angst und Anstrengung zitternde Tier schließlich wendete, es energisch durch den tiefen Sand die Dünen hinuntertrieb und seine schamlos präsentierten Arschbacken das Rückgrat des Tieres schließlich wie ein zum Zerreißen gespanntes Seil zwischen sich verschwinden ließen, wusste er, dass er mit seinem erbärmlichen Gezeter gar nichts ausrichten würde, man gegen diese Gewalt vor kein Gericht der Welt ziehen konnte. Das Grinsen in Klaus Ferners Gesicht kam ihm nun geradezu teuflisch vor. Eigentlich hätte ich Lust, das blöde Vieh kaputt zu machen.
Dann mach es doch kaputt!, schrie er plötzlich los. Mach es doch endlich kaputt!, schrie er immer wieder, bis irgendjemand im Nebenzimmer heftig vor die Wand schlug und in einer ihm unbekannten Sprache ganz offensichtlich die Einhaltung der Nachtruhe einforderte.