Читать книгу Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher - Страница 4
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ОглавлениеGenau so hatte er sich dieses Zimmer vorgestellt. Ein Bett, ein klappriger Kleiderschrank, ein kleines Tischchen, dessen gesamte Oberfläche von einem alten Fernseher eingenommen wurde, Toilette und Dusche in einem winzigen Anbau. Es war zwar sauber, dennoch machte alles einen alten, verbrauchten Eindruck und roch muffig nach Feuchtigkeit und Schimmel. Die Stadt lag zu weit vom Meer entfernt, als dass sich hier eine typische Bleibe für Touristen lohnen konnte. Von seinem Fenster aus sah er auf die menschenleere Fußgängerzone von Schagen.
Es würde nicht lange dauern, und es musste ihn in diesem Kabuff der große Katzenjammer überfallen.
Schon die Anmeldung war auf eine Art und Weise verlaufen, die er bereits wieder als für sich selber typisch empfand. Er war eine Zeit lang noch durch die ihm unbekannten Straßen gefahren und hatte darin schließlich keinen Sinn mehr gesehen. Wo sollte er die Suche nach Michel beginnen? Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon. Und nachdem er zweimal im strömenden Regen die Fußgängerzone durchquert hatte, war er schließlich in dieses alles andere als seriös wirkende Hotel gegangen. Die mürrische Frau an der Rezeption schien völlig überrascht gewesen zu sein, dass sich überhaupt ein Gast in dieses Etablissement verirren konnte.
Do you have a single room for one night? Für ein paar Augenblicke hatte der Gebrauch der fremden Sprache in ihm ein unerwartetes und undefinierbares Glücksgefühl hervorgerufen. Wie der erste Schritt weg von seiner erbärmlichen Existenz, die er keine Sekunde länger mehr ertragen wollte. Und nachdem die Frau ihn informiert hatte, wieviel ein Zimmer mit Dusche und Toilette pro Nacht kostete, hatte sie nach seinem Pass gefragt, als könne man jemandem wie ihm auf keinen Fall trauen.
Ach, Sie sind Deutscher, hatte sie dann auch schließlich in fast akzentfreiem Deutsch gesagt, und es hatte für ihn geklungen wie: Sagen Sie das doch gleich, und verstellen Sie sich nicht.
Er schaltete den Fernseher ein und stellte fest, was er ohnehin vermutet hatte: das Gerät war nicht verkabelt, er konnte durch das Hantieren an der Senderwahl lediglich drei niederländische Programme in schlechter Bildqualität empfangen und schaltete das Gerät wieder aus. Er sah auf seine Armbanduhr; es war kurz vor neun.
Und dann erschrak er darüber. Obschon er todmüde war, war es auf jeden Fall viel zu früh, um schon ins Bett zu gehen, und plötzlich türmte sich die zur Verfügung stehende Zeit vor ihm auf wie ein bedrohlicher Berg.
Nervös lief er im Zimmer auf und ab. Auf der kleinen Konsole neben dem Bett entdeckte er ein Radio; er schaltete das Gerät ein, aber die seichte Unterhaltungsmusik machte ihn aggressiv, so dass er es sofort wieder ausschaltete. Er warf sich auf das Bett und starrte an die Zimmerdecke.
Jetzt mussten sie längst zu Abend gegessen haben. Wahrscheinlich hatte Lisa die Jungen schon ins Bett geschickt, machte den Abwasch in der Küche und ließ dabei den Fernseher im Wohnzimmer laufen. Andauernd würde sie auf die Uhr schauen und sich fragen, ob Vera wenigstens heute einmal pünktlich um 22 Uhr zu Hause war. Seit sie Jochen kennengelernt hatte, war sie kaum noch zu Hause.
Der Gedanke an Jochen war ihm mehr als unangenehm. Das habe ich wirklich nicht erwartet, hatte auch Lisa nach Jochens Besuch zugegeben. Der junge Mann hatte sein Abitur gemacht, absolvierte gerade eine Lehre als Bankkaufmann, und obschon er fast vier Jahre älter war als Vera, hatte Lisa ihn als den idealen Schwiegersohn bezeichnet. Sie hatte es wie im Scherz gesagt, es aber doch genau so gemeint. Dann hatte sie nur gelacht: Na, warten wir mal ab. Ihm war seit jenem Abend nicht mehr zum Lachen gewesen, wenn er an Jochen nur dachte.
Was würde Lisa eigentlich den Kindern sagen, wenn sie fragten, wo er blieb? Schließlich gab es zwischen den Zwillingen und ihm feste Rituale, ohne die sie nicht dazu zu bewegen waren, ins Bett zu gehen. Habt ihr Papa schon einen Kuss gegeben?
Nein.
Dann mal los!
Nein, du musst mitkommen.
Manchmal gaben sie schon Ruhe, wenn er sie in ihr Zimmer gebracht hatte, sie in ihr Etagenbett gekrochen waren, er dann rief: Alle Mann an Bord? und das Licht ausschaltete; meist aber nicht. An manchen Abenden schafften sie es, ihn drei- oder viermal noch auf ihr Zimmer zu lotsen. Manchmal platzte ihm auch der Kragen: Jetzt bin ich es aber leid! Ihr geht jetzt ins Bett, oder es gibt was auf den Hintern! Da die beiden wussten, dass es ohnehin nie was auf den Hintern gab, war für besonders hartnäckige Abende Lisa immer die letzte Instanz. Jetzt schick du doch mal die Kinder ins Bett! Und wenn Lisa sagte: Schluss, dann war aus einem ihm letztlich unerfindlichen Grund Schluss.
Was würde Lisa den Kindern sagen? Wie würde sie ihnen erklären, dass er nicht mehr nach Hause kam? Wenn sie denn überhaupt fragten, dachte er, und dann packte ihn endgültig das heulende Elend. Er warf sich herum und presste sein Gesicht fest in das Kopfkissen.
Irgendwann kommt dieser Punkt ohnehin, hatte Michel gesagt; und je länger du die Entscheidung hinauszögerst, desto schlimmer wird es.
Es fiel ihm sofort auf, dass er nun anscheinend schon zu schwach war, sich über diese Bemerkung von Michel aufzuregen.
Du weißt doch gar nicht, was es heißt, Kinder zu haben. Du kannst dir das doch gar nicht vorstellen.
Was soll ich jetzt sagen? Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass du die Kinder nicht als Vorwand benutzen kannst.
Als Vorwand wofür?
Um Dinge nicht zu tun, die du eigentlich tun musst.
Ach, du hast doch gar keine Ahnung.
Die Kinder mussten den Streit zwischen Lisa und ihm einfach mitbekommen haben. Vera auf jeden Fall. Aber um Vera machte er sich auch keine Gedanken; sie war seit eh und je eine enorm starke Persönlichkeit gewesen, die immer gewusst und auch getan hatte, was sie wollte. Lisas Tochter eben. Aber bei Kai und Sven war das anders. Die beiden hatten bereits auf der Grundschule große Probleme, und die Zwillinge würden das alles überhaupt nicht begreifen können. Wie soll ich denn 8jährigen Kindern erzählen, dass ihr Papa schwul ist! Kannst du mir das vielleicht mal erklären.
Ein Patentrezept gibt es dafür bestimmt nicht. Du musst es einfach versuchen.
Ach hör doch auf! Du hast gut reden.
Im Nachhinein konnte man tatsächlich das Gefühl haben, als hätten sich die Gespräche zwischen Michel und ihm fast ausschließlich um die Kinder gedreht, ein Thema, bei dem er sich Michel gegenüber immer überlegen hatte fühlen können und das jedesmal in fruchtlosen und überflüssigen Streitereien geendet hatte. Ach, du hast doch überhaupt keine Ahnung.
Na gut, wenn du meinst.
Er hatte Hunger. Seit dem gestrigen Tag hatte er nichts mehr gegessen. Für einen Augenblick hatte er die Idee, nun noch das Hotel zu verlassen, irgendwo in der Stadt ein Restaurant oder auch nur eine Pommesbude zu suchen; aber er wusste sofort, dass er genau das nicht tun würde. Wenn Lisa nun da wäre, hätte sie schon längst die Initiative ergriffen. Ich sterbe vor Hunger, hätte sie gesagt; komm lass uns irgendwo noch etwas essen. Es war keine Bequemlichkeit, dass er nun nicht losging; es war schon immer so gewesen, dass Lisa sämtliche Dinge des täglichen Lebens regelte. Vor allem solche, die ihm selber aus irgendwelchen Gründen unangenehm waren.
Warum soll ich das denn immer machen? Irgendwann hatte Lisa aufgehört, ihm diese Frage zu stellen.
Ach nun mach schon, stell dich doch nicht so an!
Selbst Michel war schon seine Ungeschicklichkeit und oft sogar Hilflosigkeit bei ganz alltäglichen Dingen aufgefallen. Waren ihm zum Beispiel die Zigaretten ausgegangen, dann hatte er Michel in den Tabakladen geschickt; waren sie in einem Restaurant gewesen, hatte immer Michel für sie beide die Bestellung aufgeben müssen. Mit der ihm fremden Sprache hatte das nie etwas zu tun gehabt. Langsam begreife ich, warum du geheiratet hast, hatte Michel ihn einmal ausgelacht. Du bist ja wirklich völlig unselbstständig.
Langsam begreife ich, warum du geheiratet hast: In den Schwulenkneipen hatte er fast immer nur das Gegenteil gehört; und wie die Beurteilung außerhalb der schwulen Szene sein musste, konnte man sich an den Fingern einer Hand ausrechnen: Wie kann man denn als Schwuler überhaupt heiraten?
Wieso hast du Lisa geheiratet? Du musst doch gewusst haben, dass du schwul bist: In seinem gesamten Leben konnte es mittlerweile keine Frage mehr geben, die er sich noch öfter gestellt und auch beantwortet hatte. Lisa hatte er geheiratet, weil er sie liebte und weil er Kinder haben wollte. Und natürlich hatte er damals alles mögliche gewusst; aber dass er schwul war, das hatte er absolut nicht gewusst.
Mit Michel hatte er stundenlang über diese Fragen geredet, obschon Michel solche Fragen unsinnig fand. Es ist doch völlig gleichgültig, ob du immer schon schwul warst oder ob du es geworden bist. Wahrscheinlich bist du es immer schon gewesen und hast es vor dir selber nie zugeben können. Aber selbst das ist völlig gleichgültig. Jetzt bist du jedenfalls schwul, und warum das so ist, das brauchst du doch nicht zu erklären. Ein Hetero würde doch auch nie auf die Idee kommen, zu erklären, weshalb er hetero ist.
Diese Argumentation hatte ihn nie überzeugt. Ein Schwuler hat nicht unbedingt eine Frau und drei Kinder.
Du musst lernen, deine Frau und deine Kinder nicht zu gebrauchen, um doch noch als hetero durchzugehen. Und was spricht eigentlich für dich dagegen, dass ein Schwuler Kinder hat?
Die Tatsache, dass er keine Frau hat.
Er hat keine Frau! Michel hatte ihn ausgelacht. Er hat keine Frau, so wie jemand auch keinen Mercedes, keinen Computer und kein eigenes Haus hat. Du redest immer nur von deiner Frau und von deinen Kindern, als seien die eine Art beweglicher Besitz. Mir wird wirklich schlecht davon.
Man sagt das eben so.
Nein, du sagst das nicht nur so, du meinst das auch so. Und das ist das Schlimme.
Trotz Michels Skepsis hatte er ihn irgendwann dazu gebracht, gemeinsam mit ihm die eigene Vergangenheit zu durchforsten. Aber letztlich war bei ihren schier endlosen Gesprächen nur das herausgekommen, was er auch schon vorher gewusst hatte: die Begegnung mit Klaus Ferner, einem Nachbarjungen, etwas, das vor fast 30 Jahren geschehen und ihm selber im nachhinein der Mühe eigentlich nicht wert war. Ein pubertärer Ausrutscher: Mit dieser Begrifflichkeit hatte sich diese Episode irgendwann in seinem Bewusstsein festgesetzt und war nach kurzer Zeit ziemlich problemlos ad acta gelegt und vergessen worden. Nicht einmal an den Namen hatte er sich zunächst noch erinnern können. An den Vornamen schon, Klaus, aber der Nachname hatte ihm tagelang, wie man so sagt, auf der Zunge gelegen, ohne dass er sich daran hätte erinnern können. Und als der Name schließlich wieder aus seinem Gedächtnis aufgetaucht war, verwies auch dieser Name auf nichts, das für ihn neu gewesen wäre, war nicht mehr als ein Synonym für pubertärer Ausrutscher gewesen.
Vielleicht hatte er sich durch die Gespräche mit Michel von Beginn an auch nur mit Argumenten versorgen wollen für die Auseinandersetzung mit Lisa. Denn natürlich musste auch Lisa ihm letztlich vorwerfen, all das doch immer schon gewusst, sie auf die übelste Art und Weise durch ihre Ehe hintergangen zu haben. Und die Auseinandersetzung mit Lisa hatte so sicher kommen müssen wie das Amen in der Kirche. In den letzten Wochen hatte er sich immer häufiger gewünscht, dass Lisa ihn schon längst durchschaut hatte und von sich aus die Initiative ergreifen würde.
Das geht nicht, hatte Michel ihn mehrfach gewarnt; das ist ein Schritt, den du nur selber machen kannst.
Heute morgen war es dann so weit gewesen. Den Abend zuvor hatte er sich wieder einmal bis fast zur Hilflosigkeit betrunken, und die Tatsache, dass Lisa bereits um halb elf ins Bett gegangen war, hatte ihn maßlos wütend gemacht.
Um vier Uhr war Lisa dann zurückgekehrt. Sag mal, was ist eigentlich in der letzten Zeit mit dir los? Ich kann diese verdammte Sauferei einfach nicht mehr ertragen! Zunächst hatte sie es auf die sanfte Tour versucht. Was ist denn los? Sie hatte hinter ihm gestanden und ihre Hände behutsam auf seine Schultern gelegt. Man kann doch über alles reden.
So, meinst du wirklich?
Ja sicher.
Also gut, reden wir über alles. Ich bin schwul.
Er hatte es wirklich genau so gesagt, voller Zynismus und Aggressivität, und sekundenlang hatte es Lisa die Sprache verschlagen. Dann hatte sie lauthals angefangen zu lachen. Ah ja, du bist schwul! Sie hatte nicht mehr aufhören können zu lachen, und noch war es ein offenes und ehrliches Lachen gewesen über den mehr oder weniger misslungenen Scherz eines völlig Betrunkenen. Ich glaube wirklich, wir sollten jetzt endlich ins Bett gehen.
In den nächsten zweieinhalb Stunden war Lisa das Lachen vergangen und zwar gründlich. Was für sie zunächst nur ein völlig abstruses Wort gewesen war, hatte durch immer neue Geständnisse seinerseits langsam und unerbittlich Konturen gewonnen, die letztlich nicht mehr in Frage zu stellen waren. Erinnerst du dich noch an den Samstag, als du mit Sven und Kai im Phantasialand warst? Da habe ich dir erzählt, dass ich für ein Wochenendseminar in unserer Filiale in Chemnitz gebraucht würde. Oder das Mitarbeitertreffen in Bad Homburg? Es hatte ihm schließlich ein sonderbares Vergnügen bereitet, mit der gehässigen Akribie eines Buchhalters jedes Detail hervorzukramen, um bei Lisa auch den allerletzten Zweifel auszuräumen. In Wirklichkeit war ich auch da bei Michel in Arnhem.
Ich glaube es einfach nicht. Diesen Satz hatte Lisa sicherlich hundertmal gesagt. Ich kann das nicht glauben.
Schließlich hatte sie es geglaubt, und anschließend, wie es ihre Art war, ihren Gefühlen keinen Zwang mehr auferlegt.
Und irgendwann war dann der Vorwurf gekommen: Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du das nicht immer schon gewusst hast! Letztendlich war sie völlig außer sich gewesen. Man wird doch nicht von einem Tag auf den anderen mal eben schwul.
Ich glaube, irgendwie habe ich es immer gewusst.
Es war natürlich eine unglückliche Formulierung gewesen; in den Gesprächen mit Michel hatte der irgendwann gesagt: Du hättest es also doch irgendwann in deinem Leben wissen können; aber da hast du es einfach nicht zugelassen.
Lisa hatte seine Bemerkung jedenfalls endgültig in Rage gebracht. Was soll das denn heißen: Ich glaube, irgendwie habe ich es immer gewusst?
Er wusste es selber nicht. Du hättest es zumindest schon lange wissen können: Nun kam ihm selbst diese Formulierung schon völlig überzogen vor.
Es war da einfach nichts gewesen außer einem pubertären Ausrutscher, den, und das konnte man in der einschlägigen Literatur schließlich nachlesen, fast jeder erwachsene Mann einmal mitgemacht hatte.
Er war 16 oder 17 gewesen, als er diesen Klaus Ferner kennen gelernt hatte, die ganze Sache hatte nicht einmal ein halbes Jahr gedauert, und schon als er den Dienst bei der Bundeswehr begonnen hatte, war alles vergessen gewesen. Es hatte einfach keine Rolle mehr gespielt, ein sexuelles Erlebnis in der Pubertät, etwas spät vielleicht wegen seiner katholischen Erziehung, aber ansonsten kam so etwas doch wohl häufiger vor. Irgendwann in den vergangenen Wochen hatte er sich aus welchem Grund auch immer im Bahnhofsbuchhandel einen Kinsey-Report über das Sexualverhalten der Menschen in den USA gekauft, hatte das umfangreiche Register systematisch durchgearbeitet und das Buch durchstöbert, und er hatte sich letztendlich bestätigt geglaubt: die meisten Jungen hatten ihr erstes sexuelles Erlebnis während der Pubertät mit einem anderen Jungen. So etwas war also geradezu die Normalität.
Warum hast du mir nie davon erzählt? Irgendwann hatte Lisa nicht mehr locker gelassen.
Weil es völlig bedeutungslos war.
Das glaubst du doch selber nicht.
Er hatte sich monatelang bereits den Kopf zerbrochen, weil er es selber nicht glauben konnte. Da musste doch schon vorher etwas gewesen sein! Aber da war nichts gewesen. Kein Spielkamerad, den er körperlich attraktiv gefunden, kein Schulfreund, in den er sich heimlich verknallt, keine Unbekannten, denen er auf der Straße hinterhergesehen hatte, nichts, gar nichts. Vielleicht seine Vorliebe für Westernhelden, er hatte als Kind kaum eine dieser Pferdeopern im Fernsehen versäumt; aber schließlich waren ihm seine Gedanken lächerlich vorgekommen. Wenn jedes männliche Wesen schwul war, nur weil es Western verkonsumierte, dann konnte es nicht mehr viele Heteros geben.
Da war nichts gewesen. Nur dieser Klaus Ferner. Und im Rückblick bildete sein Zusammensein mit Klaus Ferner einen fest umrissenen Abschnitt in seinem Leben, klar und deutlich abgetrennt von allem, was vorher und nachher war. Ein pubertärer Ausrutscher eben, wie ihn Millionen anderer Männer auch erlebt hatten. Mit ein paar katholischen Gewissensbissen natürlich, aber ansonsten ohne jede Bedeutung und der Erinnerung nicht wert.
So etwas kann es doch gar nicht geben, hatte Michel sofort widersprochen, einen Lebensabschnitt, der von allem abgeschnitten ist, was vorher und nachher war. Dazu hast du diese Zeit im nachhinein gemacht, weil sie dir nicht ins Konzept passte. Du kommst mir vor wie jemand, der für irgendeine Bewerbung seinen Lebenslauf fälscht, weil er ein halbes Jahr Arbeitslosigkeit nicht erklären kann oder will. Belügen kann man auf Dauer aber nur andere, sich selber nicht.
Also hatte er sich wie ein vom Nikolaus gemaßregeltes Kind vorgenommen, von nun an ganz ehrlich zu sein, und anschließend festgestellt, dass es da kaum etwas zu erzählen gab. Und auch nun nahm er sich vor, sich noch einmal vorbehaltlos an diesen Klaus Ferner zu erinnern, nichts, aber auch gar nichts auszulassen, was dem Finden einer Wahrheit hinderlich sein könnte, die andere so ganz offensichtlich von ihm wie ein endlich abzulegendes Geständnis einforderten.
Es gab für diese Zeit in seinem Gedächtnis einfach keine Story, die im Laufe der Zeit ein fester Bestandteil seines Lebenslaufs geworden wäre, die man bei Bedarf hervorkramen und zum Besten geben konnte, keine dramatische Entwicklung, auf die sich im Laufe der Zeit das gesamte Geschehen eines halben Jahres verdichtet hätte. Es gab gar keine Entwicklung. Eine Katastrophe gab es allerdings, aber auch die war letztlich nur eine von vielen Episoden, Eindrücken und Stimmungen, und wäre sie gleich zu Beginn eingetreten, dann hätte man sich den ganzen Rest getrost ersparen können.
Das siehst du ganz falsch, hatte Michel gemeint, und das weißt du auch. Dieser Klaus war eine große Chance für dich. Du hättest dir einen großen Umweg ersparen können; aber du selber hast damals diese Entwicklung einfach nicht zugelassen.
Meinst du mit Umweg etwa meine Frau und meine Kinder? Er war selber erstaunt gewesen, wie aggressiv er auf Michels Bemerkung reagiert hatte.
Nach der Katastrophe hatte er Klaus nicht mehr wiedergesehen, ihre Trennung erweckte auch in der Erinnerung nur ein kaum zu ertragendes Gefühl von Scham, auf keinen Fall irgendeinen Schmerz über den Verlust, kein Gekränktsein, am ehesten noch Reue, und plötzlich faszinierte ihn die Frage, wie dieser Mann heute nach fast dreißig Jahren wohl aussehen würde, was er machte, ob er verheiratet war, Kinder hatte. Und wenn ja, ob für ihn die ganze Geschichte damals so wichtig war, dass er sie seiner Frau oder irgendjemandem sonst jemals erzählt hatte.
Er konnte sich das nur schwer vorstellen. Dafür war dieser Klaus gar kein Typ gewesen. Dieser Menschenschlag tat einfach etwas, und dann behielt er das für sich. Solche Menschen hatten nie dieses weinerliche Mitteilungsbedürfnis, das für ihn selber gerade in der letzten Zeit so offensichtlich typisch war. Und obschon er augenblicklich wieder eine tiefsitzende Abneigung gegen diese Vorstellung verspürte, konnte er schließlich doch zugeben, dass das tatsächlich das bestimmende Moment in ihrer Beziehung gewesen war: Klaus war der Starke, der Überlegene, er selber war der Schwächling, der prinzipiell Unterlegene. Dass andere sie oft für Brüder gehalten hatten, hatte daran nie etwas ändern können. Für ihn war das so gewesen, und aus diesem masochistischen Verhältnis hatte er damals irgendein perverses Vergnügen ziehen können. Genau darin hatte die Faszination bestanden, die Klaus Ferner zumindest für kurze Zeit auf ihn hatte ausüben können. Heute war ihm das alles unverständlich, dachte er sofort, schon die Erinnerung daran geradezu peinlich.
An seine Depressionen, die in eben diesem halben Jahr so unerträglich geworden waren, dass die Eltern ihn zu einer Psychiaterin geschickt hatten, konnte er sich mittlerweile allerdings wieder sehr gut erinnern. Aber auch dieser Arztbesuch war eigentlich nur noch als eine Art Lachnummer in seinem Gedächtnis gewesen. Es war wirklich wie im dümmsten Psychiaterwitz, hatte er zu Michel gesagt; diese Frau kann nur Psychiater geworden sein, weil sie selber dringend einen brauchte.
Michel hatte diese Bemerkung überhaupt nicht witzig gefunden. Wenn ich mir vorstelle, andere Männer sind alles, nur weil sie hetero sind, und ich bin gar nichts, nur weil ich schwul bin, dann würde ich auch depressiv. Ich bin überzeugt davon, dass deine Depressionen nur eine Reaktion darauf waren, dass du dein Schwulsein auch damals schon nicht akzeptiert hast.
Das hätte ich gar nicht gekonnt, weil ich damals nicht mal das Wort schwul kannte.
Ach hör doch auf! Das glaube ich dir nicht. Ich glaube eher, du hast dieses Wort gar nicht kennen wollen. Statt dessen gehst du lieber zum Psychiater und lässt dir deine Beschwerden in einer Sprache erklären, die auch die Gesellschaft akzeptiert. Du bist natürlich nicht schwul, du bist nur exogen depressiv. Aber so etwas rächt sich auf Dauer. Und dann macht man halt mühevolle Umwege.
Obschon die Initiative eigentlich immer von ihm selber ausgegangen war, hatte es ihn irgendwann maßlos wütend gemacht, dass sein eigenes Leben für Michel anscheinend so klein und so gewöhnlich war, dass der sich ganz offensichtlich immer anmaßen konnte, es mit einem Mal überblicken und die Fehler darin aufzeigen zu können. Er hatte begonnen, diese Art des Denkens zu hassen, das die Vergangenheit sezierte, die einzelnen Teile bewertete und neu zusammensetzte, um sie dann als plausible Erklärung der Gegenwart heranziehen zu können. Mit diesem Denken erreichte man immer nur eines: man hatte Recht. Wenn ich die Wahl hätte, mir einen Vortrag über die Gefahren der Scheiße anzuhören oder selber reinzutreten, hatte er Michel schließlich gesagt, dann würde ich immer selber reintreten.
Ja eben, hatte der diese Vorlage sofort aufgegriffen. Darum steckst du ja jetzt auch so tief drin. Am meisten hatte ihn an jenem Tag geärgert, dass Michel sich anschließend mehrfach für diese Bemerkung entschuldigt hatte.
In der Erinnerung an die Zeit mit Klaus Ferner waren nur Bilder gewesen, nebulös und unwichtig, die in den Gesprächen mit Michel zunächst zu kurzen Episoden, schließlich zu einer Geschichte zusammengewachsen waren, die man bei Bedarf hervorkramen konnte, wenn man denn das Bedürfnis verspürte, sie zu erzählen. In dem formlosen Erinnerungsbrei mit seiner ungeordneten Abfolge von Bildern, Stimmungen, Episoden waren den einzelnen Elementen neue Bedeutungen und Gewichtungen unterstellt worden, bis er selber nicht mehr hatte sagen können, was von alledem Realität und was bloße Interpretation gewesen war.
Das eindringlichste Bild war die blaue, engsitzende Cordhose, die, obschon bereits erheblich verschlissen, Klaus Ferner anscheinend immer getragen hatte. Diese Hose saß mit weit gespreizten Beinen und locker auf einem Fahrradsattel. Einen eindeutigen Anfang konnte es in der Erinnerung schon deshalb nicht geben, weil da immer die Tatsache blieb, dass sie schon vorher jahrelang nebeneinander gewohnt hatten, ohne einander überhaupt wahrzunehmen.
Es war tatsächlich so: wenn eine Geschichte denn irgendwo beginnen musste, dann musste sie mit dieser blauen Cordhose beginnen. Und mit dem Fahrrad, auf dem Klaus Ferner saß, ein Bein auf der Pedale, ein Bein lässig auf dem Sims des Reihenhauses über den Kellerfenstern abgestützt. Wenn man sich nun noch einen lauen Frühlingsabend vorstellte, machte es tatsächlich keine Mühe, sich Klaus Ferner ins Gedächtnis zurückzurufen. Es musste im Frühling gewesen sein, weil alles nur ein halbes Jahr gedauert und die Katastrophe im Herbst stattgefunden hatte. Über die welken Blätter und die von Kindern mit Stöcken von den Bäumen geworfenen Kastanien war er Klaus letztendlich mit dem schlechtesten Gewissen der Welt nachgelaufen, um sich zu entschuldigen, irgendetwas klarzustellen, wieder hinzubiegen, obschon doch ganz klar gewesen war, dass es vorbei war, aus und vorbei für alle Zeit.
Auch nun wollte er, dass ihm die Erinnerung an diese Dinge eher lästig, der Mühe eigentlich gar nicht wert war, dramatisiert zu werden. Vor allem war da immer noch ein Punkt gewesen, den er auch Michel gegenüber nur in stark alkoholisiertem Zustand hatte zugeben können: er habe zwar diesen Klaus auf einen für ihn selber unerreichbaren Sockel gestellt, aber genau das sei ihm damals immer bewusst gewesen. Das, was dieser Junge für ihn bedeutet habe, sei seine eigene Gedankenkonstruktion gewesen, sein intimstes Geheimnis sozusagen. Fast wie ein Objekt sei der für ihn gewesen, an dem er seine eigenen Vorstellungen in der Realität habe ausprobieren wollen. Seinen Klaus Ferner habe es für andere nie gegeben, den habe es eigentlich überhaupt nicht gegeben, nur eben für ihn selber. Und in Wahrheit habe er sich Klaus Ferner immer haushoch überlegen gefühlt, sei der ihm sogar oft dumm und geradezu primitiv vorgekommen. Wenn es überhaupt irgendetwas Faszinierendes an diesem Jungen gegeben habe, dann sei es gerade diese Primitivität, die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Kerl einfach so war, wie er war, ohne Wissen über sich, ohne Alternative zu sich selber.
Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann wirst du immer arrogant und zynisch, hatte Michel nur geantwortet.
Er musste plötzlich loslachen. Wahrscheinlich wurden die meisten Menschen ironisch und zynisch, wenn es um die Erinnerung an die erste große Liebe ging; und ebenso wahrscheinlich taten sie das nur, weil sie diesem Gefühl nie mehr so schutzlos ausgeliefert sein wollten.
Dann kamen ihm seine Ideen augenblicklich pathetisch und geradezu albern vor. Erste große Liebe! Was hatte das mit Klaus Ferner und ihm zu tun? Michel hatte das einmal gesagt: also war doch dieser Klaus deine erste große Liebe.
Du warst und bist meine erste und einzige große Liebe, das hatte er Lisa immer wieder gesagt und es immer auch genau so gemeint.
Das ist nur typisch für verheiratete Schwule, hatte Michel lapidar dagegen gehalten. Ich sage dir doch, du musst Leute treffen, die auch in deiner Situation sind. Die meisten verheirateten Schwulen sind bei der allerersten Frau hängen geblieben, weil sie bei der die Erfüllung ihres größten Wunsches gefunden haben: nie mehr schwul sein zu müssen. Er verspürte plötzlich eine unglaubliche Wut auf Michel; anscheinend konnte er dem nur gefallen, wenn er in diesem erbärmlichen Sumpf saß, in dem er sich lächerlich und unmöglich gemacht hatte und aus dem ihn nur ein gewisser Michel Rijnders retten konnte.
Dass irgendeine dumpfe Form von Sexualität das alles bestimmende Element in seiner Beziehung zu Klaus Ferner gewesen war, daran gab es natürlich nichts zu deuteln. Aber er selber hatte dabei die Regie geführt, hatte Versuchsabläufe minutiös geplant und durchgeführt wie bei einem Tierversuch, und niemals war dabei irgendetwas eindeutig gewesen; ganz im Gegenteil: ein Wort wie schwul oder homosexuell hätte augenblicklich alles beendet.
Irgendwann hatte er diesen Jungen eben nicht nur wahrgenommen, sondern diese Person mit ganz bestimmten Bedeutungen verbunden, die aber in dem Maße, wie sie zwingender und fordernder wurden, auch immer weniger greifbar geworden waren, weil ihnen einfach die Worte gefehlt hatten. Wahrscheinlich hatten sie - bewusst oder unbewusst - diese Worte auch gemieden wie der Teufel das Weihwasser; denn schon der geringste Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden, war Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre häufig noch rigoros abgeblockt worden: Als er einmal Klaus Ferners Eltern gegenüber diesen als seinen besten Freund bezeichnet hatte, für den er alles tun würde, war ihm dessen Vater, ein Polizeibeamter, ziemlich unwirsch über den Mund gefahren und hatte den Rahmen des Möglichen abgesteckt: Sagen wir mal, ihr beide seid gute Kumpel. Mein bester Freund, das klingt mir zu feminin.
Wieso hatte der Kerl so etwas überhaupt gesagt?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, und dann verdrängte er diese Frage, weil sie ihm peinlich war.
Wenn überhaupt, dann war ihr Verhältnis eher zufällig und scheinbar ohne jede Absicht auf den Punkt gebracht worden. Aber eben nur scheinbar; denn hinter allem, was passiert war, hatte er selber gestanden und die Fäden gezogen.
Hast du nicht auch oft Bock darauf, 'nem Mädchen mal unter die Bluse zu fassen?, hatte Klaus Ferner ihn einmal gefragt, als sie noch spätabends nebeneinander auf der Bank des Spielplatzes gesessen hatten.
Nein, habe ich nicht.
Ach, hör doch auf! Du traust dich bloß nicht.
Nein, ich habe dazu einfach keine Lust.
Du bist doch 'ne impotente Sau.
Warum willst du es denn?
Na, du stellst vielleicht Fragen! Wenn ich nur daran denke, so warme Titten anzufassen, kriege ich schon 'ne Latte.
Dabei hatte sich Ferner in den Schritt gefasst, aber trotz der Dunkelheit hatte er selber nicht einmal gewagt, den Händen des anderen zu offensichtlich mit seinen Blicken zu folgen. Bei einem flüchtigen Blick aus den Augenwinkeln war alles nebulös geblieben genau wie Schwanz, Latte, schwul, einen Steifen kriegen nur Worthülsen blieben, die im eigenen Kopf zwar ständig neue Bilder produzierten, in der Wirklichkeit aber kaum etwas auf den Punkt brachten, weil man über so etwas nicht wirklich auch nur redete.
Wenn Ferner diese Wörter benutzte, dann nur weil er gewusst haben musste, dass sie sein Gegenüber in Verlegenheit brachten, da es keine wirklichen Antworten geben konnte; weil er ein instinktives Gespür dafür hatte, dass diese Wörter im Kopf seines Gegenübers Bilder produzierten, die den immer mehr unter Druck setzten, damit der endlich etwas tat, von dem ein Klaus Ferner sich anschließend völlig empört distanzieren konnte.
Wenn ihm selber lange unverständlich geblieben war, weshalb er trotz immer häufiger und immer ungenierter vorgetragener Demütigungen zu jeder Sekunde geradezu eifersüchtig die Nähe von Klaus Ferner gesucht hatte, so war ihm damals völlig unklar geblieben, was den anderen eigentlich an ihm hatte interessieren können. Im Nachhinein ließen sich natürlich plausible Erklärungen finden: nicht trotz, sondern gerade wegen aller Demütigungen war dieser Kerl immer attraktiver für ihn geworden; denn obschon ein Wort wie schwul oder Homo zwischen ihnen tatsächlich nicht ein einziges Mal gefallen war, musste Klaus Ferner natürlich die Macht gespürt haben, die er letztlich über ihn besessen hatte. Die kleinste Kleinigkeit wie das Berühren ihrer Oberschenkel, wenn sie nebeneinander auf der Couch in der Küche von Ferners Eltern saßen, hatte ihn schon in die schlimmste Verlegenheit bringen können. Und je unabsichtlicher von Ferners Seite alles ausgesehen hatte, um so mehr hatte es gewirkt.
Irgendwann hatte ihnen beiden diese Absichtslosigkeit wohl nicht mehr gereicht, und er hatte bestimmte Situationen ganz bewusst herbeigeführt, Rituale gezielt inszeniert, die das zum Ausdruck bringen sollten, für das sie niemals Worte gefunden hatten.
Sie saßen zusammen in seinem Zimmer und hörten die Beatles-Songs, deren Texte er heute noch auswendig hersagen konnte, obschon sie doch so offensichtlich nicht für jemanden wie ihn geschrieben waren, sondern exklusiv für Jungen, die gerne mal einem Mädchen unter den Pullover fassen wollten. Irgendwann fingen sie an herumzubalgen, schließlich war daraus ein regelrechter Ringkampf geworden. Wer zuerst auf dem Rücken liegt hat verloren. Er selber hatte diese Regel aufgestellt, und natürlich hatte er als erster auf dem Rücken gelegen.
Ich habe gewonnen!
Ich ergebe mich aber nicht.
Und dann hatte Ferner endlich auf ihm gesessen.
Ergibst du dich jetzt?
Nein, ich ergebe mich nie.
Ferner war weiter auf seinem Oberkörper nach vorne gerutscht und hatte die Knie auf seine Oberarme gesetzt. Jetzt denn?
Er wusste nicht mehr, wie lange er sich zwischen den weit gespreizten Oberschenkeln in der blauen Cordhose genüsslich irgendwelchen Torturen wie Muckireiten und ähnlichen Scherzen unterzogen hatte. Auf jeden Fall war irgendwann die Beule in der blauen Cordhose, die schließlich sogar sein Kinn erreicht hatte, einfach nicht mehr zu übersehen gewesen. Ihn hatte der Anblick und die Tatsache, dass er sie ganz offensichtlich hatte sehen sollen, völlig irritiert.
Ich verstehe wirklich nicht, warum du mir das überhaupt erzählst, hatte Lisa ihn gestern an dieser Stelle unterbrochen, und in ihrer Stimme hatte die Entrüstung darüber mitgeschwungen, dass eine derartig belanglose Peinlichkeit irgendetwas bedeuten, anscheinend sogar der Höhepunkt seiner skurrilen Anekdote über einen pubertären Ausrutscher sein sollte.
Ihn hatte ihr offensichtliches Unverständnis und Desinteresse nur wütend gemacht. Klaus fand das eben geil, und ich auch.
Was soll denn daran geil sein? Ich finde es einfach widerlich, wenn jemand einem anderen bewusst wehtut.
Du vielleicht, aber wir fanden das eben geil! Klaus hat sogar einen steifen Schwanz gehabt.
Mein Gott! Jetzt werde doch nicht auch noch ordinär. Das ist ja nur noch peinlich.
Und damit war diese Geschichte für Lisa endgültig beendet gewesen. Er hatte nichts mehr gesagt, und sie hatte nichts mehr davon hören wollen. Er hätte ihr die Geschichte ohnehin nicht weiter erzählen können.
Mit Lisa konnte man gar nicht über Sexualität reden. Es war verrückt, aber er hatte mit seiner Frau nie offen über Sexualität reden können. Von Beginn an hatte sie so etwas abgeblockt, und vor allem war ihr eine Sprache ein Horror, die die Dinge beim Namen nannte. Die Pille absetzen, Empfängnisverhütung, Monatsblutung, das waren die Wörter, mit denen Lisa diesen Bereich ihres Zusammenlebens abgedeckt hatte. Erst nach Jahren hatte sie ihm wahrscheinlich ohne es zu wollen einen möglichen Grund dafür genannt. Als Kind war sie während einer Ferienfreizeit einmal von einem Betreuer missbraucht worden. Nein, missbraucht war das falsche Wort: bedrängt hatte Lisa gesagt. Sie sei bedrängt worden.
Er hatte dieser Geschichte für ihr Zusammenleben ohnehin nie eine besondere Bedeutung beigemessen, hatte sogar kein einziges Mal das, was das Wort bedrängen denn nun genau bedeuten sollte, ernsthaft in Erfahrung bringen wollen. Aber nun war er plötzlich davon überzeugt, dass er es mit Lisa 16 Jahre lang überhaupt nur gekonnt hatte, weil er so etwas zwar nicht gewusst, ihre Angst vor Männern aber insgeheim immer schon gespürt hatte. Eine Frau, die von ihm etwas erwartet hätte, wäre ihm doch weggelaufen.
Michel hatte über die Episode mit Klaus Ferner nur gelacht. Ein besseres Bild kann ich mir für deine Situation kaum vorstellen: der arme schwache Homo, der dem bösen geilen Hetero ausgeliefert ist. Und da hatte er wieder einmal Angst gehabt, schon viel zu viel von sich preisgegeben zu haben, nur um letztendlich zum wiederholten Mal lächerlich zu wirken. Plötzlich hatte Michel sogar laut losgelacht, und er hatte sich endgültig auf den Arm genommen gefühlt. Ich weiß wirklich nicht, warum du mich jetzt auslachst.
Michel hatte ihn sofort in den Arm genommen und sich entschuldigt. Aber ich lache dich doch gar nicht aus. Es ist nur so seltsam, dass du über diese Dinge einfach nicht reden kannst.
Es ist doch auch pervers.
Was ist denn daran pervers?
Es ist sadistisch.
Sadistisch? Michel hatte noch ungenierter gelacht und den Kopf geschüttelt. Und wenn schon. Wenn du daran Spaß hast, findest du alleine in Amsterdam zig Läden, in denen du diese Vorliebe befriedigen kannst.
Zunächst hatte er überhaupt nichts verstanden; als Michel ihm dann von irgendeiner Lederszene und Schwulenläden mit SM-Praktiken erzählte, hatte er den Empörten gespielt. Das ist ja unglaublich! Du willst doch wohl nicht behaupten, dass derart alberne Rituale mit Peitsche und Gummiwäsche den adäquaten Rahmen für unsere Sexualität darstellen!
Ich will gar nichts behaupten, hatte Michel schnell beschwichtigt und nach einer Weile hinzugefügt: Bloß ist die Ehe auch nichts anderes als ein Ritual, um die Sexualität auszuleben, und ich frage mich oft, ob die nicht schon längst das albernste aller Rituale geworden ist.
Auch diese Bemerkung hatte ihm die Möglichkeit gegeben, noch einmal den Empörten zu spielen, bis Michel ihn ziemlich schroff aufgefordert hatte, nun endlich den Rest seines Zusammenseins mit Klaus Ferner zu erzählen.
Da ist nicht mehr viel zu erzählen. Ein paar Wochen später ist es dann halt passiert.
Was ist passiert?
Na ja, die Katastrophe eben. Da ist irgendetwas aus dem Ruder gelaufen. Wir waren wieder abends zusammen auf meinen Zimmer, meine Eltern waren im Theater oder bei Bekannten. Er hat sich breitbeinig in den Sessel gesetzt, und irgendwie habe ich gespürt, dass er es jetzt endgültig drauf anlegte. Und dann habe ich ihm den Gefallen getan.
Was hast du denn getan?
Das aufdringliche Nachfragen hatte ihn geärgert, und Michel hatte wieder gegrinst. Oder soll ich mal raten?
Er hatte es nicht unbedingt gewollt, es aber auch nicht mit Entschiedenheit nicht gewollt, dass Michel angefangen hatte zu raten: Du hast ihm einen geblasen.
Was soll das denn! Ich verstehe nicht, weshalb du auf einmal ordinär werden musst.
Ordinär? Und wieder hatte Michel laut losgelacht. Was soll denn daran ordinär sein? Wie nennst du es denn? Was ich einfach nicht verstehe ist, dass du tatsächlich Hemmungen hast, die Dinge beim Namen zu nennen. Statt dessen bezeichnest du sie als Katastrophe. Da ist etwas aus dem Ruder gelaufen! Ich könnte mich totlachen!
Damals hatte es Ferner und ihm allerdings endgültig die Sprache verschlagen. Er hatte plötzlich vor Ferner auf dem Boden gehockt, zwischen dessen weit gespreizte Oberschenkel gestarrt und seine Hände schließlich nicht mehr bei sich halten können. Am Ende hatte er sogar am Reißverschluss der Hose hantiert, und das Ding hatte geklemmt.
Mach doch!, hat Ferner dann gesagt. Er hat mich dazu animiert. Ich hätte das niemals getan. Noch die Erinnerung an dieses Bekenntnis Michel gegenüber war peinlich. Angestrengt versuchte er sich an Michels Gesichtsausdruck zu erinnern, als er diese Sätze gesagt hatte.
Aber es war tatsächlich so gewesen. Wahrscheinlich hatte Ferner an jenem Abend Angst gehabt, so kurz vor dem Ziel könne die Vorstellung schon beendet sein. Als habe er befürchtet, die Gelegenheit könne wegen der ängstlichen Unentschlossenheit der impotenten Sau vor ihm womöglich noch ungenutzt vorübergehen, hatte er schließlich selber den Reißverschluss der blauen Cordhose nach unten gezogen und sein Ding aus der Hose gepellt. Der Schmier unter der Vorhaut hatte ganz penetrant nach Fisch gestunken, und auch dem aufkommenden Gefühl des Ekels hatte Klaus Ferner keine Chance gelassen: Wenn du ihn nicht anfassen willst, dann geht er eben in deinen Mund.
Michel hatte sich vor Lachen auf den Boden fallen lassen. Wahrscheinlich glauben die Heteros, das Ding ist nur zum Pinkeln.
Michel hatte sich kaum einkriegen können. Soll ich dir sagen, was dann passiert ist? Er ist gekommen, und dann hat er plötzlich ein schlechtes Gewissen gehabt. Du warst ein dreckiges Schwein, und er war der arme verführte Hetero. So war`s doch?
Er hatte nichts darauf gesagt.
Hast du denn wirklich etwas anderes erwartet?
Eigentlich schon.
Plötzlich hatte Michel ihn von der Couch auf den Boden gezogen, sich rittlings auf ihn gesetzt und schließlich seine Hose geöffnet. Darf ich vorstellen: das ist mein Schwanz. Der beißt nicht und stinkt auch nicht nach Fisch, weil er nämlich unheimlich gerne geleckt wird.
Und dann hatte er das nicht gewollt, mit Michel hatte er diese Szene einfach nicht gewollt. Er verspürte plötzlich eine tiefe Abneigung dagegen, sich an diese Episode überhaupt noch zu erinnern. Macht es dir auch bei mir Spaß, unten zu liegen?, hatte Michel noch gefragt, dabei gegrinst und die Knie auf seine Oberarme gelegt. Mehrfach hatte der Junge sich auf seinen Körper zurückfallen lassen, die Oberschenkel gegen seinen Brustkorb gepresst und ihm die Luft genommen. Ich glaube, du brauchst das einfach, hatte er schließlich gesagt und gegrinst.
Es war peinlich gewesen, ausweglos peinlich. Zum einen hatte er sich durchschaut gefühlt, weil plötzlich ihre eigenen Worte zwischen ihnen gestanden und alles unerbittlich auf den Punkt gebracht hatten, auf einen Punkt, den er nie hatte benennen wollen; das eindeutigste und damit unausweichlichste Wort hatte er zudem selber genannt: es war pervers. Zum anderen sollte Michel nicht so etwas mit ihm machen, es hatte überhaupt keinen Sinn, wenn Michel so etwas mit ihm machte.
Und bei ihrem letzten Treffen war es dann gerade diese Pose gewesen, die endgültig alles zwischen ihnen zerstört hatte. Ihm selber war es so vorgekommen, als habe Michel sich wegen ihrer permanenten Auseinandersetzungen nicht mehr genügend von ihm beachtet gefühlt, habe einfach attraktiver auf ihn wirken wollen und deshalb ganz gezielt diese Pose zur Anwendung gebracht, von der er wusste, wie sie angeblich auf ihn wirkte. Aber Michel war nicht Klaus Ferner, und als Michel rittlings auf ihm saß und ihn erwartungsvoll ansah, war er außer sich geraten. Glaub doch bloß nicht, dass du mir über bist, hatte er plötzlich geschrien und Michel mit aller Kraft von sich gestoßen, so dass der mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante geschlagen war.
Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Sekundenlang hatte Michel völlig entgeistert auf das Blut an seiner Hand gestarrt, mit der er sich zuvor an den Hinterkopf gefasst hatte. Warum tust du so etwas?
Weil ich nie so werden möchte wie du. Du bist einfach ekelhaft.
Er konnte es plötzlich selber nicht glauben, dass er Michel gegenüber diesen Satz tatsächlich gesagt hatte. Mehr noch: dass er nicht aus Trotz oder Wut so etwas gesagt hatte, sondern aus tiefster Überzeugung. Michel hatte ihn schließlich aus der Wohnung geworfen. Du brauchst mich auch nicht mehr anzurufen, hatte er ihm noch an der Wohnungstür gesagt. Und geh vor allem davon aus, dass auch andere Menschen nun Entscheidungen treffen, die dir vielleicht nicht passen oder sogar wehtun.
Irgendwann an diesem elenden Abend hatte er zumindest für einen Augenblick noch das Gefühl, sich wegen dieser Bemerkung Vorwürfe machen, sich auf jeden Fall entschuldigen, das eigentlich schon lange getan haben zu müssen. Nur wenig später kam ihm jeder Gedanke daran vor wie Zeitverschwendung, weil dieser Vorfall doch lediglich der allerkleinste Teil all des Elends war, das er verursacht hatte und aus dem es schon deshalb keinen Ausweg mehr gab, weil er absolut nicht wusste, was er zu tun hatte, und immer nur die Gewissheit blieb, dass alles mit jeder Sekunde schlimmer wurde, in der er nichts tat.
Und dann kam schließlich wieder diese riesige Mattigkeit, die schon seit Wochen den Schlaf abgelöst hatte; ein klobiges, nicht greifbares Gefühl unendlicher Resignation, das jede Hoffnung nahm, den ganzen Wust von Schmutz und Scheiße, den er produziert hatte, jemals noch hinter sich lassen zu können. Ein Gefühl, das zudem mit jeder Minute zu wachsen schien, die man es noch ertrug, anstatt mit letzter Entschlossenheit endlich einen Schlusspunkt zu setzen.