Читать книгу Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37 - Hanno Plass, Thomas Jung - Страница 5

Vorbemerkung der Redaktion

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Darf in Zeiten der Krise an die langen Zyklen der Philologie erinnert werden? Ist es angemessen, den täglichen Meldungen über den Existenzkampf der vom internationalen Finanzkapital enteigneten Bevölkerungen Südeuropas eine Notiz an die Seite zu stellen, die die Fertigstellung der Ausgabe der Werke Siegfried Kracauers im Suhrkamp Verlag anzeigt? Kritische Theorie kann sich mit dem aktuellen Leiden nicht abfinden, aber sie muss sich auch den langen Atem bewahren und auf dem Beharrungsvermögen des widerständigen Geistes bestehen. Deshalb sei den Herausgeberinnen Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke dafür gedankt, dass sie ein Projekt, das vor über vierzig Jahren, 1971, mit der Arbeit an der Herausgabe der Schriften durch Carsten Witte begann, aber in den neunziger Jahren brachlag, in einem zweiten Anlauf 2012 zum Abschluss führten. So sind die ihrerseits in Krisenzeiten entstandenen Werke Kracauers heute wieder allgemein zugänglich und können zur Analyse der aktuellen Situation beitragen. Diesem Ziel ist auch das vorliegende Doppelheft der Zk T verpflichtet, in das wir die folgenden Abhandlungen, Einlassungen und Besprechungen aufgenommen haben.

In den Einlassungen zeigt Andreas Greiert, dass Adornos Kritik der Metaphysik einen der zentralen Anknüpfungspunkte im aktuellen Diskurs über »Biopolitik« bildet, welcher freilich weniger an Adornos historisch gesättigten als an Foucaults konstruktivistischen Begriff des Individuums anknüpfe. Ausgehend von den objektiv-realistischen und performativen Aspekten des Widerspruchsbegriffs und dem Leib-Motiv wird der Zusammenhang von Natur und Gesellschaft bei Adorno unter dem Aspekt des Zwangs diskutiert. Dabei zeigt Greiert Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Agambens Theorie des Körpers im Lager und Adornos Theorem des Somatischen und benennt das Verhältnis zur Ethik als entscheidenden Differenzpunkt: Während Adorno eine negative Ethik zugrunde lege, um verantwortliche, verändernde Praxis zu begründen, verabschiede Agamben jegliche Normativität und fordere – die äußerliche Arbeitsteilung zwischen Rechtswissenschaft und Ethik verabsolutierend – den Übergang in die biopolitische Dimension. Damit schließe er an Heideggers apologetische Deutung des Geschehens in den Konzentrationslagern an und sitze wie dieser der Hypostasierung des enthistorisierten Seins auf. – Hans-Ernst Schiller untersucht das Verhältnis von religiösen Offenbarungsmotiven und Vernunftbegriffen bei Kant, Benjamin, Adorno und Horkheimer entlang der Kernfrage, welche Topoi des Messianismus sich säkularisieren lassen und welche nicht, bzw. in welchem Maße und mit welchen Folgen sie säkularisiert werden können. Er legt dar, wie der messianische Komplex von Hoffnungen – auf soziale Gerechtigkeit und Frieden einerseits sowie auf den Sieg über den Tod andererseits – in philosophische Begriffe übersetzt werden kann. Dies sind vor allem das Konzept universalistisch-moralischen Handelns bei Kant, die Begriffe des Eingedenkens sowie der Gefahr und der Rettung (bzw. des veralltäglichten Katastrophischen) bei Benjamin und die Begriffe von Anwachsen und Vollendung der Negativität als Anzeichen für das Nahen der Erlösung sowie deren potenziell jederzeitiges Eintreten bei Horkheimer und Adorno. In einer Diskussion des Verhältnisses von religiösen Erlösungsvorstellungen und deren Übersetzung in Theoreme der praktischen Philosophie klärt Schiller den philosophischen Gehalt jener »messianischen Motive« in der Kritischen Theorie, die in der Rezeption häufig nur oberflächlich wahrgenommen werden, und benennt ihre Aporien. – Thomas Khurana vollzieht in einem close reading die Argumentation aus Adornos Vorlesungen über Probleme der Moralphilosophie und Die Lehre von der Geschichte und von der Freiheit nach. Er interpretiert sie als Anstrengung, aus der Darstellung der Widersprüche des Moralischen nicht etwa dessen Unmöglichkeit abzuleiten, sondern vielmehr den dialektischen Charakter des Moralischen zu entfalten. Khurana diskutiert Adornos von Hegel inspirierte Interpretation der kantischen Antinomie von Freiheit und Gesetz. Vernunft wird bei Adorno als frei und als Teil der Natur konzipiert. Khurana setzt dies von der Position Brandoms ab, die immer noch der Vorstellung einer inneren Disziplin verhaftet scheint, während Autonomie bei Adorno vielmehr als Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit verstanden wird, die nicht verworfen, sondern reformuliert und zwischen dem Impuls und seiner Reflexion angesiedelt werden soll. – Sebastian Tränkle beleuchtet die säkularisierende Reformulierung des theologischen Motivs des Bildverbots bei Adorno unter Berücksichtigung des zeitdiagnostischen Kontextes. Seine These lautet, dass das Bildverbot als Chiffre für den Kulminationspunkt einer Bildkritik in Form der »bestimmten Negation« der Bilder gelesen werden kann, die deren Aufhebung im deutenden, historisierenden »Lesen« der Bilder mit einschließt. Im Anschluss an den Ikonoklasmus der jüdischen theologischen Tradition und an Kants philosophische Adaption jener Denkfigur weise Adorno dem Bildverbot eine Doppelfunktion zu: Als Verbot wendet es sich gegen falsche Bilder (des Absoluten) bzw. den falschen Anspruch auf Abbildlichkeit (der Realität), während es als Maßstab für Bildlichkeit ein anderes Bild sanktioniert. Die Übersteigerung des kritischen Impulses zum Verbot der Abbilder in der Erkenntnis und des konkreten bildlichen Entwurfs der Utopie wird als historische Konsequenz interpretiert, die Adorno vor allem aus dem Zivilisationsbruch der Shoah gezogen habe. – Christian Lotz setzt sich mit der systematischen Stellung Marx’scher Theoreme in der Kritischen Theorie Adornos auseinander. Entgegen der vor allem in den USA weit verbreiteten Rezeption Adornos als Ästhetiker sei daran festzuhalten, dass er stets an der Bestimmung der Gesellschaft als einer Tauschgesellschaft festgehalten habe. Erkenntnistheoretische Relevanz gewinne diese Kategorie im Anschluss an Sohn-Rethels Begriff der Realabstraktion, die Adorno mit dem kantischen Begriff des Schematismus zusammendenke. Im Begriff der Realabstraktion werde der Schematismus mit der Wertkategorie enggeführt. Die Realabstraktion sei einerseits Grundlage für die Vergesellschaftung, andererseits würden der Schematismus und die Realabstraktion aber auch in den sozialen Verhältnissen produziert werden. Ideologie und Wissen seien deshalb keine rein mentalen Erscheinungen, sondern gingen aus den Gesetzen der kapitalistischen Gesellschaft hervor. Die Tauschlogik – und die mit ihr verknüpfte Anschauungsweise – werde zu einer objektiven Ideologie, die sich am Willen der Einzelnen vorbei durchsetzt. Mit diesen und weiteren Überlegungen reetabliert Lotz ein dialektisch-materialistisches Verständnis von Adornos Denken. – Thomas Jung formuliert eine Kritik der Sprachauffassung bei Habermas anhand des Begriffs der Bedeutung. Der Autor will auf einen kritischen Begriff der »Nichtidentität von Bedeutung« hinaus und zeigt anhand von Peirce und Morris, dass bei Habermas eine verengte Rezeption der Semiotik vorliegt. Habermas blende in seiner Fixierung auf rationale Argumentation und sprechakttheoretische Geltung »semantische Inkongruenzen, Kontingenzen und kommunikativ Überschüssiges« aus. Dabei gingen die mimetischen und magischen Spurenelemente sprachlichen Ausdrucks verloren. Die Einwände werden als Ergebnis minutiöser, immanenter Kritik der Habermas’schen Sprachtheorie vorgetragen, die ihren Gegenstand hermeneutisch ernst nimmt. Mit Blick auf die Grenzen der Kommunizierbarkeit von Verfolgungs- und Vernichtungserfahrungen bei Imre Kertész betont Jung gegen Habermas, dass der Geltunsganspruch diskursiver Argumente zerbreche, wenn »die Bedeutungsidentität gewählter Worte oder Sätze nicht mehr gewährleistet sein kann, weil sie durch unterschiedliche Evidenzen subjektiver Erfahrungen semantisiert ist«. – Die beiden folgenden Aufsätze knüpfen an Überlegungen Alfred Schmidts an; sie stehen hier auch als eine Würdigung des Lebenswerks des im letzten Jahr verstorbenen Frankfurter Philosophen. Stefan Gandler vergleicht den westlichen Marxisten Alfred Schmidt und den lateinamerikanischen Marxisten Adolfo Sánchez Vázques mit Bezug auf das Verhältnis von Theorie und Praxis in ihrem Werk. In verschiedenen Hinsichten, unter anderem mit Blick auf die Verbindung aus Mechanik und Idealismus, arbeitet Gandler die kritische Stellung der beiden gegenüber dogmatischen und reformistischen Positionen des Marxismus heraus. Dabei spielt insbesondere der jeweilige Bezug auf die marxschen Frühschriften und auf den reifen Marx eine Rolle. – Gunzelin Schmid Noerr geht der Frage nach, wie eine Geschichte des Materialismus geschrieben werden könnte und welche systematischen Gründe diesem Unterfangen entgegenstehen. Anknüpfend an die materialistischen Theoretiker seit Marx und Engels gelangt er über Ernst Bloch und die ältere Kritische Theorie zu den Arbeiten Alfred Schmidts. Schmid Noerrs ins Grundsätzliche reichende Vergewisserung über den Begriff der Materialismus enthält auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus, dem ein klares gesellschaftstheoretisches Profil fehle, weil er die materiell-ökonomischen Elemente in letzter Instanz als eine Sinnstruktur auffasse und sie damit kulturalistisch auflöse.

In den Einlassungen entfaltet Hermann Schweppenhäuser mit Aristoteles, Hegel und Hannah Arendt den klassischen Begriff des Politischen und skizziert das neuzeitliche Konzept politischer Freiheit und Souveränität. An Rousseau, Kant und Marx wird der Grundwiderspruch des modernen Projekts der Demokratie erörtert: Freiheit, Gleichheit und Humanität stehen auf der einen Seite, Eigentum und Macht auf der anderen. Weil beide Seiten einander bedingen, verwirkliche sich die notwendige Universalität des politischen Ganzen paradox als Partikularismus der Mehrheit, welche die Minorität unterwirft. Daher sei der demokratische Staat kein »Friedensstaat«, sondern, bis auf Weiteres, die Fortsetzung »des Kampfes von Mächten, Parteien, Interessen miteinander und gegeneinander«. – Konstantinos Rantis plädiert für eine Erneuerung der griechischen Gesellschaftstheorie im Zeichen der Kritischen Theorie. Sein Ausgangspunkt sind die Werke von Psychopedis und dessen Kritik an den Positionen von Castoriadis, Kondylis und Giannaras, denen er unterschiedliche Spielarten von Irrationalismus vorwirft. Gerade in der aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen Krise Griechenlands seien die Zurückweisung des Irrationalismus und die Weiterentwicklung des kritischen Denkens entscheidend. – Michael Schwarz verdeutlicht an Adornos öffentlichen Vorträgen im Berlin der 1960er Jahre, in welchem Maße dieser als öffentlicher Intellektueller gewirkt hat. Schwarz, der bei seiner Rekonstruktion auf bislang unpubliziertes Archivmaterial zurückgreift, macht deutlich, dass das Bild der Schreibtischeinsamkeit des kritischen Intellektuellen gründlich zu revidieren ist. – Gert Sautermeister konfrontiert Adornos berühmten Aufsatz über Goethes Iphigenie mit einer genauen Relektüre des Dramas. Dabei unterstreicht er die Gültigkeit der Grundausrichtung von Adornos Lesart, also der Diagnose einer schuldhaften Verstrickung der Zivilisation in jene mythische Schicht, von der sie glaubt, sie überwunden zu haben; doch er akzentuiert einzelne Textbefunde, etwa die Figur des Thoas oder den Status von Orests Wahnsinnsmonolog, anders als Adorno. – Marc Kleine, selbst Autor einer Monographie über Adornos Schreibweise,*stellt im Rahmen der Besprechungen neue literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu dessen Schriften über Literatur und Ästhetik vor und ordnet sie kritisch ein.

Aus der Redaktion gibt es zu vermelden, dass Wolfgang Bocks Berufung auf eine Professur in Rio de Janeiro eine organisatorische Umstrukturierung mit sich gebracht hat: Er ist 2012 vom Herausgeberteam in die Redaktion gewechselt.

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