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»Weh spricht: vergeh«
ОглавлениеNegative Dialektik und Biopolitik
Mit der Negativen Dialektik präsentiert Theodor W. Adorno einen Alternativentwurf zur »semantischen These« des deutschen Idealismus, nach der die Einheit des Begriffs mit der Einheit des Subjekts gleichzusetzen ist.1 Diese Einsicht ist in der Forschung unumstritten. Durchaus strittig erscheint hingegen, inwieweit und mit welcher Konsequenz Adorno eine tragfähige materialistische Gegenposition zum Idealismus vorgelegt hat.
Mit dieser Frage setzt die vorliegende Untersuchung an: Die vorgelegte Skizze von Adornos negativer Dialektik besitzt ihr erkenntnisleitendes Interesse darin, das materielle Moment am »Nichtidentischen« und am »Vorrang des Objekts« einmal so buchstäblich wie überhaupt nur möglich zu nehmen (Abschnitt I). Einen entsprechenden Anspruch hat Adorno selbst verkündet mit dem Eingeständnis, keine wie immer auch veränderte Philosophie könne »die Einzeldinge in die Texte kleben«2. Die Markierung dieser unüberschreitbaren Grenze als eines Defizits verdeutlicht nicht nur eine unumgängliche Beschränktheit der begrifflichen Erkenntnis. Vielmehr wird zugleich anstelle des Abstrakt-Semantischen das Dinghaft-Somatische zur eigentlichen Widerspruchsinstanz gegen die idealistische Identitätsbehauptung.
Bei dieser entschieden materialistischen Lesart rückt die negative Dialektik in eine überraschende thematische Nähe zum aktuellen Diskursraum der Biopolitik, in dem schließlich generell Einigkeit darüber besteht, den Menschen weniger als Vernunftwesen denn als leibliche Entität zu fassen (Abschnitt II). Zugleich existieren unterschiedliche und durchaus widersprüchliche Lesarten des Begriffs Biopolitik, die von einer kritisch intendierten Beschreibung bestehender Herrschaftspraktiken bis zu dem Anspruch auf einen emanzipatorischen Perspektivenwechsel reichen.3 Vor diesem Hintergrund provoziert eine Auseinandersetzung mit Adornos Akzentuierung des somatischen Elements in der Negativen Dialektik die Frage nach dem Verhältnis zu aktuellen Positionen im Projekt der Biopolitik. Diese Frage wird abschließend anhand von sowohl von Adorno als auch von Giorgio Agamben vorgelegten Skizzen zu einer neuen Ethik nach Auschwitz erörtert (Abschnitt III).
I.
Nach Auschwitz, so Adorno in der Negativen Dialektik, ist durch die geschichtliche Objektivität »die Konstruktion eines Sinns der Immanenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn« verurteilt (ND, 354). Die negative Dialektik impliziert somit nicht nur eine Konstellation von Immanenz und Transzendenz, die, ebenso denknotwendig wie undenkbar, auf eine ganz andere Verfassung der Welt verweist.4 Vielmehr wird das metaphysische Potential zugleich auch entwertet, nämlich, und das ist entscheidend, säkularisiert zum Projekt einer »Rettung des Nichtidentischen« in dem »Blick, der deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist« (ND, 38 f.). Wenn Adorno das »Eingedenken des Nichtidentischen« als »Scharnier negativer Dialektik« (ND, 24) bezeichnet, dann kommt in dieser Metonymie ein dezidiert anti-idealistischer und metaphysikkritischer Vorbehalt zum Ausdruck: »Der Begriff des Nichtidentischen dient als Platzhalter für den Rest, der in einem notwendigen Vorrang des Positiven nicht aufgeht und sich durch keine erkenntnistheoretische Aufklärung wegargumentieren lässt«5.
Dass das Nichtidentische notwendig aporetisch ist und bleiben muss, hat Adorno selbst schon offen eingeräumt, indem er bündig festhält, dass es als »Sache selbst« keineswegs Idee ist, sondern »Zugehängtes«, in dem unterzugehen die Wahrheit des Subjekts wäre (ND, 189 f.).6 Diese Aporie aber hat sich für Adorno in die Metaphysik selbst hinein verlängert; diese steht und fällt mit der Veränderbarkeit der Wirklichkeit: »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles« (ND, 391). Mit ihrer programmatischen Amalgamierung geschichtsphilosophischer und erkenntnistheoretischer Motive verlässt die negative Dialektik die überlieferten Bahnen akademischer Philosophie und nimmt stattdessen die Spur von Nietzsches »radikaler Genealogie« auf.7 Adornos Methode eines »Lesen des Seienden als Text seines Werdens« (ND, 62) sieht alles Gegebene stets und ausnahmslos als Gewordenes an, das, so die Pointe, auch anders werden kann. Die Einsicht, dass alles Seiende »nicht einfach so und nicht anders ist, sondern unter Bedingungen wurde«, entkräftet den Bann des Fetischs von der »Irrevokabilität des Seienden« (ND, 62).
Adornos berühmte Metapher vom »Sturz der Metaphysik« verortet diese in den höchst banalen Niederungen geschichtsphilosophischer Spekulation: »Sie traut die Möglichkeit eines richtigen Bewußtseins auch von jenen letzten Dingen erst einer Zukunft ohne Lebensnot zu« (ND, 390). Auf die Frage nach der von Natur emanzipierten Gesellschaft kann gar nicht begrifflich geantwortet werden: »Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll«8. Im unwiderruflichen Prozess ihrer Säkularisierung hat die einst »reine metaphysische Erfahrung« sich an das geheftet, von dem sie als dem Unreinen und Materiellen ehedem weg wollte: »Sie hält sich negativ in jenem Ist das denn alles?, das am ehesten im vergeblichen Warten sich aktualisiert« (ND, 368).
Versagung und Verfall als Grundkonstanten körperlichen Daseins: Die Erkenntnis der Armseligkeit der physischen Existenz »zündet« ins oberste Interesse, ins »Was ist das und Wohin geht es« (ND, 359). Die im Materiellen schmerzlich präsente Gewissheit der Endlichkeit ist Ausgangspunkt für das metaphysische Fragen; sie weckt die Begehrlichkeit, über die bestehenden Widersprüche hinauszugehen zu einem ganz anderen Ganzen, das jedoch nicht begrifflich rein, als im idealen System sich verwirklichendes Absolutes vorgestellt werden darf. Eine Versöhnung der bestehenden Widersprüche im Denken weist Adorno schließlich kategorisch barsch zurück: »Unversöhnlich verwehrt die Idee von Versöhnung deren Affirmation im Begriff« (ND, 163). Entsprechend wird von Adorno die Aufgabe von Philosophie begriffen als aporetisches Unterfangen, mit den Mitteln des Denkens über das Denken hinauszugelangen: »An Philosophie ist es, das vom Gedanken Verschiedene zu denken, das allein ihn zum Gedanken macht, während sein Dämon ihm einredet, daß es nicht sein soll« (ND, 193).
Wenn Adorno sich also »im Augenblick ihres Sturzes« mit der Metaphysik solidarisch bekennt (ND, 400), dann gilt seine Solidarität fraglos dem Wahrheitsanspruch der Metaphysik, »ihrem alles Bestehende auf ein Absolutes hin transzendierenden Impuls«.9 Dieser Wahrheitsanspruch aber wird für Adorno gleichsam freigesetzt, und so auch erst fassbar, im Augenblick ihres Sturzes, in dem vor der hehren Frage nach den letzten Dingen unversehens ganz ungewohnt handfeste Gegenstände auftauchen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit« (ND, 29). Mit dieser so typisch apodiktischen Feststellung zerrt Adorno die Idee der Wahrheit grob aus dem Elfenbeinturm heraus und mutet ihr zu, sich im Dunstkreis eines schieren Materialismus zu bewähren.10
Diese Veränderung des Wahrheitsanspruchs hat Adorno in der Philosophischen Terminologie auf die grundlegende Einsicht zurückgeführt, »daß der Mensch als ein empfindendes, erlebendes, erkennendes Wesen selber auch wesentlich Leib ist«11, und zur Kompensation eines so notorischen wie systematischen Reflexionsdefizits aller klassisch idealistischen Metaphysik auf ein »Aroma des Materialismus« verwiesen, das den Erfahrungsraum zwischen der »Organlust« und dem Tod prägt.12 Zugleich postuliert Adorno aber auch, dass dem Materialismus schon von sich aus ein ursprünglicher metaphysischer Erfahrungsgehalt zukommt. In spezifisch materialistischer Perspektive ist schließlich die Beziehung zum Leib identisch mit der Beziehung zum Tod »als dem Niedrigen, Widerlichen und Naturverfallenen, dem wir alle bis heute unterworfen sind«13.
Die metaphysische Wahrheitsfrage gründet dann für Adorno keineswegs auf einem abstrakten, gar im engeren Sinne philosophischen Interesse, sondern entspringt dem konkreten physischen Leiden der Menschen: Maß aller Erkenntnis ist, »was den Subjekten objektiv als ihr Leiden widerfährt« (ND, 172). Eben diese Inversion der klassischen Metaphysik liefert erst den systematischen Begründungszusammenhang für Adornos spezifisch negative Dialektik − und sorgt für ihren unversöhnlichen Bruch mit jedem traditionellen Verständnis. Die Wahrnehmung einer »dualistischen Reflexionsphilosophie«14 etwa übersieht, dass für Adorno Dialektik gar keine Frage formaler Logik, also der Nicht-Übereinstimmung von Subjekt-Aussagen darstellt, sondern das Resultat einer objektiven Widersprüchlichkeit der Sachen selbst, die der identifizierende Begriff stets zu Unrecht schlichtet.15 Der Widerspruch verliert seinen abstrakt-theoretischen Charakter und verschmilzt mit der Dialektik zu einer performativen Struktur, wie Adorno sie mit dem Muster »Dialektik als Verfahren« zu beschreiben versucht hat: »Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese« (ND, 148).
Wenn der Widerspruch enthüllt, was an der Sache selbst unversöhnt ist, und nicht etwa formale Logik, sondern die Sache selbst zum Widerspruch führt,16 dann steht der Widerspruch für Adorno nicht nur materiell, als nicht-identischer Rest dem Denken per se unversöhnlich gegenüber. Der Widerspruch ist für ihn vielmehr das physische Leiden der Menschen, das ganz praktisch-somatisch alle überhaupt möglichen abstrakten Sinnstiftungsverfahren und -versprechen de-legitimiert:17 »Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte« (ND 203).
Die apodiktische Gewissheit, mit der Adorno fast schon trotzig immer wieder die Unwahrheit aller begrifflich erzeugten Identität behauptet, besitzt ihre Grundlage in dem begrifflich nicht aufzuhebenden Zusammenhang zwischen physischem Leiden und Nicht-Identität: Ein leidender Leib ist nicht identisch. Diese Einsicht, in der, so Adorno, das »somatische Moment« erkenntnistheoretisch »nachzittert« (ND, 202 f.), initiiert das Projekt einer negativen Dialektik, die der Theorie nicht wiederum Theorie entgegensetzt, sondern das konkrete Phänomen des einzelnen Menschen, der gegen sich selbst denkt, ohne sich preiszugeben. So lautet schließlich die von Adorno im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit vorgeschlagene »Definition von Dialektik« (ND, 144). Das »Denken gegen sich selbst, ohne sich preiszugeben«, dem Adorno an anderer Stelle einen »handgreiflichen« (ND, 358) Charakter zuschreibt, reagiert auf den Sturz der Metaphysik, indem es unmittelbar auf die buchstäbliche Bedeutung des Materialismus führt, auf Trieb, Natur und Körper, die materiellen Vorgänge des Lebens als Grundlagen und objektive Bedingungen für das Denken. Die brutale Gewalt der Selbsterhaltung, Sexualität, Tod und Verwesung sind dem Denken in Gestalt der Affekte Lust und Leiden präsent und führen notwendig zur Infragestellung eines Sinns des Lebens, nach dem ein Leben, das Sinn hätte, gar nicht fragte (ND, 369).
Indem der Mensch gegen sich als Denkenden denkt, als sinnstiftendes Subjekt, gibt er sich eben nicht preis, sondern denkt zugleich für sich als Seienden, als Nichtidentischen, als leidendes Objekt. Mit diesem eminent subjektivitätskritischen Gehalt führt das Denken gegen sich selbst auf den »Vorrang des Objekts« (ND, 184 ff.), der aber nicht etwa bloß die idealistische Überzeugung von einem Primat des Subjekts ersetzt, sondern gerade auf ein »Mehr« an Subjekt hin errichtet ist, denn er verlangt nach einem empirischen Subjekt, das ihm korrespondiert.18
Mit seinem Beharren auf dem empirischen Subjekt als Einspruchsinstanz gegen die abstrakte Identität eines transzendentalen Subjekts hat Adorno zugleich die Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft verschoben, erkennt er doch nicht abstrakten Wahrheitsansprüchen, sondern ökonomischen Produktivkräften den Primat bei Identitäts-Herstellungs-Prozessen zu: »Gesellschaft ist vor dem Subjekt. Daß es sich verkennt als vor der Gesellschaft Seiendes, ist seine notwendige Täuschung und sagt bloß Negatives über die Gesellschaft« (ND, 132). Erst wenn keinem Menschen mehr ein lebendiger Teil seiner Arbeit vorenthalten würde, erst dann wäre rationale Identität erreicht und die Gesellschaft über bloß identifizierendes Denken hinausgelangt (vgl. ND, 150).
In diesen Passagen der Negativen Dialektik klingt ein frühes Motiv Adornos nach, hatte dieser doch schon Mitte der 1930er Jahre Walter Benjamin darin zugestimmt, dass in der Nützlichkeit der Dinge ihr Fluch und im Warenfetisch die praktisch gewordene Gestalt begrifflicher Identität zu sehen ist.19 In dieser Traditionslinie hält Adorno dreißig Jahre später fest, dass der Tausch falsches Bewusstsein schafft (ND, 190), denn zum einen funktioniert der Tausch als höchst reales gesellschaftliches Modell des abstrakten Identifikationsprinzips, so dass die Welt tatsächlich identisch ist (ND, 149). Weil zum anderen aber über den Tausch auf dem Markt das natürliche Recht des Stärkeren im Konkurrenzprinzip vergesellschaftet wird, kumuliert zugleich im Warencharakter nichts anderes als »vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen« (ND, 101).
Dem Eindruck, Adorno habe sich hier ganz ohne Not ein vulgärmaterialistisches sacrificium intellectus zu Schulden kommen lassen, indem er zentrale Gehalte der okzidentalen Philosophiegeschichte an die kontingente historische Wirklichkeit ausliefert, lässt sich entgegenhalten, dass Adorno der idealistischen Tradition mit einer Gefahrenwarnung begegnet ist. Davon zeugt in der Negativen Dialektik ein eindrucksvolles Bild, das der Metaphysik die Rolle einer strengen Kerkermeisterin zuweist: »Das Subjekt – selber nur beschränktes Moment – ward von ihr für alle Ewigkeit in sein Selbst eingesperrt, zur Strafe seiner Vergottung. Wie durch die Scharten eines Turms blickt es auf einen schwarzen Himmel, an dem der Stern der Idee oder des Seins aufgehe« (ND, 143).20 Wenn die Philosophiegeschichte eine Sackgasse darstellt, an deren Ende unweigerlich das Gefängnis des Selbst wartet, dann besteht zugleich die Notwendigkeit eines Ausbruchs, dessen Möglichkeit allerdings abhängig ist von einer Erweiterung der Perspektive über das mit den Mitteln des identifizierenden Begriffs in sich eingeschlossene Selbst hinaus auf die materielle Welt da draußen. In diesem Zusammenhang entfaltet Adornos negativ dialektische Einsicht in die Nicht-Identität des leidenden Leibs ihre wohl entscheidende Wirkung, denn sie verdeutlicht die von vorneherein bestehende, traditionell jedoch idealistisch ausgeblendete, faktische Zugehörigkeit der Menschen zu eben dieser materiellen Welt.
Dass Adornos Neuansatz eine mehr als nur tendenzielle Entwertung traditioneller Prämissen und Kategorien erfordert, hat er selbst offen eingeräumt: Gerade das, was Dialektik »Ärgernis bereitet«, ihr Nichtaufgehen, »ist der Wahrheitsgehalt, der ihr erst abzugewinnen wäre. Stimmig würde sie einzig in der Preisgabe von Stimmigkeit aus der eigenen Konsequenz«21. An die Stelle einer begrifflichen Identifizierung von Stimmigkeit rückt die dialektische Einsicht, dass eine Realisierung von Identität zu ihrer notwendigen Voraussetzung die historische Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat.
II.
Von dieser historischen Dialektik ist auch die somatische Widerlegung der begrifflichen Identität über die Einsicht in die grundsätzliche Nicht-Identität des leidenden Leibes betroffen: In Adornos Konzept ist kein Raum für eine bloße und vermeintlich heile Natur, die Leiden und Nichtidentität kompensieren könnte. Vielmehr hält schon die Dialektik der Aufklärung unmissverständlich fest, dass im ausweglos bis zur letalen Konsequenz entfalteten Recht des Stärkeren mit Vernunft und Zivilisation zugleich auch Natur fadenscheinig geworden ist: »Allein die abgefeimte Kraft, die überlebt, hat Recht. Sie selbst ist wiederum Natur allein, die ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt«22. Eine wie immer auch klare begriffliche Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft verliert ihre Überzeugungskraft angesichts dieser geschichtlich zu Tage getretenen Verschränkung zur Ununterscheidbarkeit, die ihr spezifisch dialektisches Moment23 darin besitzt, dass zum einen die menschliche Geschichte als Fortsetzung eines bloß natürlichen Fressen und Gefressen-Werdens erscheint (ND, 364 f.), während zum anderen zugleich die Unterdrückung der Natur selbst als Naturverhältnis auftritt (ND, 179): »Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur« (ND, 285).
Gerade wegen der begrifflichen Unterscheidung zwischen Vernunft und Natur, so lässt sich Adornos Argumentation resümieren, herrscht in der Gesellschaft (noch) dasselbe Prinzip wie in der Natur: Zwang.24 Adorno bestimmt also auch die Natur konsequent negativ, nämlich als mythische Unausweichlichkeit von Untergang, Tod und Verwesung,25 und hält zugleich fest, dass ein Entkommen aus dem Naturzusammenhang überhaupt nur entstelltem Leben versprochen ist.26
Eine Erläuterung dieser zunächst etwas eigentümlich erscheinenden Wendung verlangt nach einer konsequenten Berücksichtigung der negativen Dialektik von Gesellschaft und Natur, in deren Bann schließlich auch der »heile« Leib unausweichlich verbleibt und also noch nicht der Immanenz entkommen ist. Schon im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno diesen Zusammenhang aufgespießt: »Vergnügtsein heißt Einverstandensein.«27 Diese wie immer provokativ verkürzte Formel weist nicht nur dem heilen Leib die Potenz unbefangen-hedonistischen Genießens zu, sondern unterstellt ihm, sicher nicht zu Unrecht, ein grundsätzlich affirmatives Verhältnis zum jeweils Bestehenden. Einen unbeirrt kritischen Orientierungspunkt liefert hingegen der entstellte Leib, dessen Leiden, eben ganz unabhängig vom jeweils Bestehenden, permanent das unbedingte Beharren auf einer notwendigen Veränderung produziert: »Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ›Weh spricht: vergeh.‹ Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis« (ND, 203).
Adornos entschiedene Zurückweisung des »heilen« Leibs markiert eine unüberwindliche Grenze zum emphatisch emanzipatorischen Verständnis der Biopolitik bei Michael Hardt und Antonio Negri, denn diese fassen »Leben« tendenziell überhistorisch, wenn sie in der »Multitude« eine von sich aus egalitäre progressive Kraft bemühen, welche die Immanenz des »Empire« tendenziell bricht.28 Für Adorno ist hingegen der somatisch fundierte Impuls nach dem Muster des »Weh spricht: vergeh« und damit der Affekt konkreter Akteure entscheidend – und eben nicht eine Ontologisierung von Begriffen wie Empire und Multitude, denen sich die Qualität einer »autopoetische[n] Maschine« zubilligen ließe.29
Die scharfe Differenz zwischen Adorno und Hardt/Negri lässt sich terminologisch markieren. Schließlich besitzt die von Hardt/Negri vorgelegte Diagnose einer als »Empire« bezeichneten neuen Souveränitäts-Logik im Zeichen immaterieller Arbeit30 ihre konstitutive Voraussetzung in der Diagnose, dass Natur und Kultur bzw. Gesellschaft einen Immanenzzusammenhang bilden.31 Wenn Adorno hingegen eben diese Immanenz explizit mit dem Prädikat »dialektisch« (ND, 145) belegt, dann hält er fest, dass die Verschränkung von Natur und Gesellschaft für die Reflexion allein so lange undurchdringlich bleibt, bis diese unversehens mit mimetischsomatischen Elementen konfrontiert wird und sich mit ihnen verbindet zu einem unmittelbaren Impuls zu Kritik, Veränderung und Befreiung.32
Erst entstelltes Leben, der als leidende nichtidentische Leib, durchbricht den Bann der Identität, der für das Bewusstsein undurchdringlich sein muss, weil Identität gerade sein Funktionsprinzip ausmacht. Auf diesem eminent rationalitätskritischen Muster gründet Adornos negative Moralphilosophie, die eine rein diskursive Behandlung zurückweist und stattdessen unablässig um ein »Moment des Hinzutretenden am Sittlichen« (ND, 358) als notwendiger Bedingung überhaupt für Moral kreist.33 Eine rein rationale Begründung von Moral erscheint Adorno ausgeschlossen; vielmehr kommt Wahrheit moralischen Sätze wie »Leiden soll nicht sein« nur zu, wenn ihnen ein unmittelbarer Impuls zugrundeliegt: »Wahr sind die Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstrakte Prinzipien gerieten sie sogleich in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit« (ND, 281).
Adornos Moralphilosophie ist hier nicht weiter zu verfolgen; ihre Bedeutung für die behandelten Zusammenhänge lässt sich mit Ulrich Kohlmann auf den Punkt bringen: »Moral ließe sich ohne denkendes Subjekt nicht konkretisieren, aber ohne Physis wäre sie schlechthin nicht.«34 An diese Diagnose ist die Einsicht anzuschließen, dass Adornos Kritik am Identitätsprinzip mit der Privilegierung des Somatischen, des leidenden Leibs, zum entscheidenden Element in der historisch-dialektischen Immanenz von Gesellschaft und Natur, eine strukturell große Nähe zu herrschaftstheoretischen bzw. -kritischen Motiven im aktuellen Diskursraum der Biopolitik aufweist.
Diesen Zusammenhang verdeutlicht schon eine knappe Vergegenwärtigung der Grundlagen dieses Projekts, die Michel Foucault 1978 / 79 in zwei Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität am Collège de France skizziert hat.35 In Foucaults historischer Analyse des Phänomens »Regierung« markiert die Entstehung der Politischen Ökonomie im aufkommenden Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts eine entscheidende Schwelle:36 Das liberale Credo von der Gesellschaft als Naturzusammenhang leistet einen argumentativen Rekurs auf die von der merkantilistischen und kameralistischen Staatsräson gerade verworfene Natur, fasst diese jedoch nicht mehr wie ehedem theologisch geprägt als Material eines Schöpfungsplans auf. Im neuen Verständnis, das sich gemeinsam mit der Durchsetzung des Liberalismus etabliert hat (und bis heute nachwirkt), entspricht der bemühte Naturzustand vielmehr einer vermeintlichen Naturalität der Gesellschaft, die etwa in den Prinzipien des Profits und der Konkurrenz (Adam Smith) sowie des Kampfes ums Dasein bei einem Überleben der Stärkeren (Darwin) auf dem seit dem 19. Jahrhundert etablierten sogenannten freien Markt ihren adäquaten Ausdruck finden soll. Foucault dekonstruiert diese Natürlichkeits-Überzeugung als historisch gewordene »zweite Natur« der bürgerlichen Gesellschaft, in der nicht mehr die Legitimität oder Illegitimität von Macht, sondern Erfolg und Misserfolg als leitende Kategorien wirken.37
In der Negativen Dialektik wird, ohne eine direkte Verwendung des Begriffs »zweite Natur«, der ihm entsprechende Gehalt anlässlich einer scharfen Kritik an Freud als »blinde und bewußtlose Verinnerlichung von gesellschaftlichem Zwang« (ND, 269) erfasst und als »inwendige Natur« ans Ende eines perfiden geschichtlichen Fortschreitens der Naturbeherrschung zur Herrschaft über Menschen gesetzt (vgl. ND, 314). Wenn ausgerechnet Zwang dasjenige Moment darstellt, das Natur und Gesellschaft vereinigt, fällt eine positive Besetzung beider Phänomene aus, so dass die Diagnose ausweglos erscheint. Adornos negative, materialistisch gewendete Moralphilosophie bezieht jedoch in dieser vermeintlich ausweglosen Situation die Position des ausgeschlossenen Dritten: »Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein« (ND, 294).
Mit der konsequenten Entwertung des subjektiv-idealistischen Betrachterstandpunkts lässt sich, einem Hinweis Miguel Vatters folgend,38 Adornos bemerkenswert dialektisches Fazit über den Wahrheitsgehalt von Kants Lehre vom Intelligiblen in der Negativen Dialektik einem Ansatz zur Seite stellen, den einer der wichtigsten Nachfolger Foucaults in die biopolitische Debatte eingebracht hat: Wenn Adorno wie nebenbei die herkömmliche Differenz zwischen Mensch und Tier aufhebt und das Potential zu einer Befreiung der Menschheit nicht etwa einer Negation der Animalität zuspricht, sondern einer entwertenden Überwindung des vorgeschichtlich-basalen abstrakten Gegensatzes von humanitas und animalitas,39 dann befindet sich diese Wendung in einer überraschenden Nähe zu Giorgio Agambens utopischer Idealvorstellung, die »anthropologische Maschine« außer Kraft zu setzen.40
In Agambens originärem Verständnis der Lebenswelt als eines maschinenartigen Prozesses gründet die semantische Erzeugung der Spezies »Mensch« (anthropos) gerade darauf, dass zoé (Leben) und bíos (Welt) nach dem Muster einer »einschließenden Ausschließung« bzw. »ausschließenden Einschließung« in einen permanenten Ausnahmezustand eingebracht werden, als dessen Endergebnis (nur) das »nackte Leben« übrigbleibt.41
Diese anthropologische Maschine aber, die Agamben in Das Offene anführt, funktioniert nach eben der Logik der Identifikation, die Adorno als »totalitär« und »zirkulär« bezeichnet (vgl. ND, 174), da keinerlei »reziproke Kritik« (ND, 149) zwischen dem ausschließenden Moment des Partikularen und dem einschließenden Moment des Universalen vermittelt (vgl. ND, 148 f). Der »dialektische Immanenzzusammenhang« von Natur und Gesellschaft (vgl. ND, 145), der für Adorno aus der Logik der Identifikation hervorgeht und eindrucksvoll die Dialektik der Aufklärung bezeugt, lässt sich mit Agambens biopolitischer Terminologie als Zustand beschreiben, in dem die anthropologische Maschine über die beständige Reproduktion der identifizierenden Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ein perfides Kontinuum des beherrschten Lebens erzeugt, in dem das tierische Leben vermenschlicht und das menschliche Leben animalisiert wird.
Auch Agamben sucht, wie Adorno, durchaus nach einem Ausweg und auch für Agamben kann, wie für Adorno, ein solcher sich nur durch den Abbruch der Identifikation ergeben: Erst eine Außerkraftsetzung der anthropologischen Maschine erlaubt die Hinsicht auf Nicht-Identisches, als das das tierische Leben in einer ansonsten (bei intakter Maschine) von anthropomorphen Identifikationen geschlossenen Welt erscheint.42 Miguel Vatter sieht ein Grundmuster »positiver Biopolitik«43 in Agambens Aufruf an den Menschen wirksam, die Rolle als »Hirte des Seins« anzunehmen, das heißt sich die eigene Animalität anzueignen, die »nicht versteckt bleibt und nicht das Objekt von Beherrschung wird, sondern als solche gedacht wird, als reine Verlassenheit.«44
Vor dem Hintergrund, dass nach der überzeugenden Darstellung Vatters auch Agambens Konzeptionen einen entscheidenden Initiationspunkt in der Kritik am Phänomen des Warenfetisch besitzen, wie sie Benjamin und Adorno in den 1930er Jahren entwickelt haben,45 lässt sich dieser Aufruf in eine Traditionslinie zu Adornos Utopie von einem über Identität wie Widerspruch hinausgelangten »Miteinander des Verschiedenen« (ND, 153) stellen, die sich an einer Stelle der Negativen Dialektik zudem mit einem ganz ähnlichen Appellcharakter vorgetragen findet: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen« (ND, 192).
III.
Mit ihrer Privilegierung des als leidenden nichtidentischen Leibes zur somatisch-mimetischen Widerspruchsinstanz gegen das abstrakte Identitätsprinzip lässt sich Adornos materielle Metaphysik als eine weitere potentielle Einflussquelle neben Foucault in den maßgeblich von Agamben geprägten Diskursraum der Biopolitik einbringen. Zugleich weisen die beiden Ansätze jedoch auch unüberwindliche Differenzen auf. Die vorliegende Darstellung konzentriert sich im Folgenden darauf, anhand einer Thematik, die in beiden Konzeptionen gleichermaßen behandelt wird, eine unüberwindliche Grenze zu verdeutlichen: Sowohl Adorno als auch Agamben haben eine neue Ethik nach Auschwitz gefordert. Die jeweiligen Entwürfe stehen sich allerdings im Status absoluter Unvereinbarkeit unversöhnlich gegenüber.
Adorno hat seine neue Ethik in der Negativen Dialektik selbst bündig auf den Punkt gebracht: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe« (ND, 358). Mit diesem apodiktischen Postulat korrigiert Adorno zugleich selbst sein zeitgenössisch vielbeachtetes Diktum, »[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch […]«.46 Die entsprechende Argumentation in der Negativen Dialektik verdeutlicht jedoch, dass die Korrektur weniger den Gehalt als die Rezeption des berühmten Halbsatzes betrifft. Der Verweis auf die in Adornos Augen typisch bürgerliche »Kälte« als Voraussetzung gleichermaßen für Auschwitz wie für ein Weiterleben nach Auschwitz (vgl. ND, 355 f.) widerlegt das Klischeebild vom weltfremden Gelehrten bzw. eines »genialen, realitätsfernen Kindes«47, dessen entscheidende Wirkung sich auf die Rolle eines aus dem Exil zurückgekehrten, unbequemen Mahners und personifizierten Gewissens reduzieren und somit im Nachhinein bequem als Beitrag zum intellektuellen Gründungsmythos der BRD historisieren ließe.48
Schließlich spricht Adorno Auschwitz nicht nur über die unmittelbare Nachkriegssituation hinaus generell einen »überragenden Stellenwert für die Analyse der Gesellschaft im 20. Jahrhundert zu«.49 Vielmehr besitzt der »neue kategorische Imperativ« eine klare pädagogische Ausrichtung und ist auch von Adorno selbst direkt als Fundament für eine »negative Pädagogik« genommen worden, deren vorrangiges Ziel nur in der zukünftigen Verhinderung von Auschwitz bestehen kann.50 Mit seiner eigenen »negativen Ethik«51 richtet Adorno die Frage nach der Möglichkeit eines glücklichen, gelingenden Lebens gegen die Wirklichkeit des »beschädigten Lebens«, auf die schon der Untertitel der Minima Moralia kritisch Bezug genommen hat. Indem er unerbittlich die Übernahme von Verantwortung fordert, akzentuiert er das bestehende Prinzip der Ethik schärfer und richtet es als Forderung an die gesellschaftliche Wirklichkeit einer historischen Gegenwart nach Auschwitz.
Während also Adorno die historische Wirklichkeit nach Auschwitz kritisch an der Ethik gemessen und für zu leicht befunden hat, dient Giorgio Agamben Auschwitz im Gegenteil als Beleg für einen per se unrealistischen Charakter aller Ethik. Diese pragmatische Feststellung durchzieht als zentrale These den gesamten ersten Abschnitt von Was von Auschwitz bleibt, wo Agamben die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Veränderung der Ethik darlegt.52
Ausgehend von einer »autoreferentielle[n] Natur« des Urteils, nach der das Urteil mit der Strafe in eins fällt, warnt Agamben dabei eindringlich vor einer Vermischung ethischer und juristischer Kategorien.53 Die in Hinsicht auf einen Vergleich mit Adorno fraglos entscheidende Konsequenz besteht darin, dass Agamben, eben ganz im Gegensatz zu Adorno, die Kategorie der Verantwortung entschieden zurückweist, da sie für ihn, wie auch die Schuld, dem Recht und nicht der Ethik zugehört.54 Gerade aufgrund seines fraglosen Charakters eines Extremfalls eröffnet Auschwitz für Agamben die Möglichkeit, die Ethik von verfehlten Projektionen zu befreien, und dabei gleichsam nach dem Muster von Nietzsches genealogischer Moralkritik zu verfahren, die im Namen des Lebens beansprucht, den »Grundtext homo natura« wieder ohne Überschreibungen lesbar werden zu lassen.55 Im Resultat erkennt Agamben eine Reduzierung des Menschen auf sein »nacktes Leben«,56 das nichts fordert, sich nicht angleicht und nicht kommuniziert – und eben deswegen sowohl als einzige Norm anzusehen und zugleich absolut immanent ist.57
Wenn aber Auschwitz belegt, dass lediglich die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung den Menschen verlässlich zum Menschen qualifiziert, dann verliert zugleich die Vorstellung einer ethischen Grenze ihren Sinn.58 Diesen paradoxen Zusammenhang verdeutlicht für Agamben das Phänomen des »Muselmanns«59, dessen ausführliche Analyse ihn zu der These führt, dass eine neue Ethik nach Auschwitz von der Unmöglichkeit einer Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch auszugehen hat.60 Indem nach dem Muster der »Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod«61 in der Gestalt des Muselmanns der Nicht-Mensch als Mensch auftritt, wird das Menschliche des Menschen selbst in Frage gestellt. Schon in Homo sacer hatte Agamben diese Einsicht präsentiert: Eben weil in den Konzentrationslagern »die Juden […], ganz Hitlers Ankündigung gemäß, ›wie Läuse‹, das heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind«, scheidet mit der Heiligkeit von Tod und Leben die traditionell angenommene Grundlage der Ethik als Fluchtlinie einer Bewertung aus, so dass zugleich der traditionelle Bereich der Ethik zwischen Religion und Recht entwertet und durch die Biopolitik ersetzt worden ist.62
Was somit für Agamben »von Auschwitz bleibt«, ist seine eigene Homosacer-These, führt doch ein Abstreifen vermeintlich verfehlter Projektionen vom Kern der Ethik in letzter Konsequenz auf die Einsicht, dass nichts anderes als das nackte, dem Tod ausgesetzte Leben das ursprüngliche politische Element ist.63 Schon im ersten Homo-sacer-Buch hat Agamben festgehalten, dass der Muselmann der Homo sacer ist, und die Unschärfe (s)einer angemessenen Wahrnehmung als Homo sacer auf eine unangemessene moralische Überblendung mit einem Opferstatus zurückgeführt, die zugleich verdeckt, dass »wir alle virtuell homines sacri sind.«64
Dieser Schlüsselsatz bildet den Ausgangspunkt für Agambens Herleitung seiner These vom Lager als biopolitischem Paradigma und nómos der Moderne.65 Die Schlüssigkeit von Agambens These einer »inneren Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«66 sowie seiner Argumentation für eine nicht historisch-spezifische, sondern strukturelle Lesart der nationalsozialistischen Lager67 muss an dieser Stelle nicht weiter beurteilt werden.68 Stattdessen ist zu der Generalisierung der Homo-sacer-Situation zurückzukehren, auf die Agambens neue Ethik führt. Aufgrund seiner Privilegierung einer strukturellen gegenüber einer historischen Perspektive ist diese für ihn keineswegs gleichbedeutend mit einer Relativierung von Auschwitz. So ist Auschwitz Todeslager, doch »zuvor noch« Ort eines nicht gedachten Experiments, bei dem Mensch und Nicht-Mensch zusammenfallen.69 Entscheidend ist dabei aber gar nicht die nicht neue Erfahrung, dass das Leben kein Leben mehr ist, sondern die wirklich neue Erfahrung, dass der Tod kein Tod ist.70
Mit dieser Einsicht stellt sich Agamben zunächst einmal ausdrücklich in einen Traditionszusammenhang mit Martin Heideggers Bremer Vorträgen von 1949.71 Heidegger hat bekanntlich vier Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus den millionenfachen Judenmord in den Konzentrationslagern nüchtern als historische Tatsache erwähnt und anstelle einer moralischen Wertung den entscheidenden Akzent darauf gelegt, dass das »Wesen des Todes« diesen Opfern nicht zukomme, da sie eben nicht als Menschen, d. h. in bewusster Konfrontation mit ihrem Tod, gestorben seien.72
Auch den von Heidegger geprägten Terminus einer »Fabrikation von Leichen«73 führt Agamben zunächst als Stütze seiner eigenen These an, nach der die traditionelle Ethik im Umgang mit Auschwitz versagen muss, da in den Konzentrationslagern eben keine Menschen, sondern bereits entmenschte Wesen gestorben seien.74 Bei der Frage der Ursache für die Entmenschlichung widerspricht Agamben dann aber Heidegger: Für diesen hat das Verstellt-Sein der existenziellen Erfahrung eines »Seins zum Tode« dafür gesorgt, dass in Auschwitz nicht gestorben, sondern lediglich umgekommen worden sei. Agamben sieht stattdessen Auschwitz aus der Erfahrung des Todes generell ausgeschlossen, weil für ihn der Ausfall der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sterben gleichbedeutend mit dem Verlust der Grundlage für diejenige traditionelle Ethik ist, die auch noch Heideggers Diagnose leitet.75
Agambens Argumentation für eine Ersetzung der traditionell moralischen durch eine neue biopolitische Begründung der Ethik bezieht aus dieser Revision Heideggers auf eine durchaus nachvollziehbare Weise ihre philosophiegeschichtliche Legitimation. Weniger nachvollziehbar erscheint hingegen Agambens überraschender Rekurs auf Adorno als Beleg für die »Unfähigkeit der Vernunft« im Umgang mit Auschwitz, wird doch dessen Position, zumal seine eigene Ethik, schon grob verfehlt, wenn Agamben vermutet, Adorno hätte Heideggers Überlegungen zur »Fabrikation von Leichen« wohl zugestimmt.76
Nun hat Adorno zwar festgehalten, dass »in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar«, eben diesen Umstand aber doch als Bestätigung für das »Philosophem von der reinen Identität als dem Tod« (ND, 355) bezeichnet und damit als letztgültige Bekräftigung seiner ethisch fundierten entschiedenen Identitätskritik gefasst. So kann Agambens Auffassung nur irritierend erscheinen; gegen sie spricht schon das von Hassan Givsan aufgewiesene apologetische und revisionistische Moment, das Heideggers Formulierung im historischen Kontext unabweislich zukommt, da sie die Bedeutung persönlicher Schuld und Verantwortung herunterspielt.77 Heideggers Fabrikations-These leistet schließlich eine virtuelle Suspendierung der realen Taten und Täter, indem sie das reale Geschehen des Holocaust in den vermeintlich »höheren« Zusammenhang eines »Seins-Geschicks« einordnet. Ist aber das Böse als »vom Sein geschickt« zu betrachten, sind die Menschen bloß »Werkzeuge des Sich-ins-Werk-setzens der Wahrheit des Seins. So gibt es keine ›Schuld‹ und kein ›Entschuldigen‹.«78
Eben dieses Motiv hat auch Adorno bereits kritisch gegen Heidegger in Stellung gebracht:79 Indem dessen Geschichtsauffassung unbesehen dem jeweils geschichtlich Mächtigen »Seinsmächtigkeit« attestiert, lässt sie sich zugleich als Versuch lesen, »die Unterordnung unter historische Situationen zu rechtfertigen, als werde sie vom Sein selbst geboten« (ND, 135). Gerade diejenige grundsätzliche Abwertung der konkreten historischen Wirklichkeit gegenüber der Abstraktion des Seins, die Adorno hier bei Heidegger ausmacht, findet sich ungeachtet aller Abgrenzungen auch bei Agamben, der den millionenfachen Massenmord schließlich nicht als »Vollzug eines Todesurteils« bezeichnet wissen will, sondern als »Verwirklichung einer schieren ›Tötbarkeit‹, die der Bedingung des Juden als solcher inhärent ist.«80 Die Holocaust-Darstellung in Was von Auschwitz bleibt ist ungeachtet all ihrer Ausführlichkeit insgesamt sublimer und abstrakter als in der Negativen Dialektik. Bei Adorno brüllt der Gemarterte (vgl. ND, 355); bei Agamben herrscht das Schweigen der Muselmänner.81
IV.
Adornos bescheidenes Gegenprogramm zum unabweislich in Herrschaft verstrickten Identitätsanspruch, die Rettung des Nichtidentischen durch die Hinwendung auf das Somatische des leidenden Leibs, ist sicher der Biopolitik näher als der traditionellen akademischen Philosophie. Eine Kompatibilität zum biopolitischen Diskursraum wird beispielsweise unübersehbar, wenn Adorno das zentrale Problem bei einer Erfassung des Stofflichen, des materiellen Moments der Menschen, in der gefährlichen Tendenz ausmacht, dass der Mensch um seiner erfassten Nichtigkeit willen zum Objekt von Beherrschung herabgesetzt wird.82 Zugleich wird allerdings auch eine strukturelle Unvereinbarkeit mit der biopolitischen Diskurspraxis daran deutlich, dass Adorno die von ihm selbst diagnostizierte Tendenz nicht etwa positivistisch, und damit wertfrei, wahrnimmt, sondern nach dem Grundmuster kritischer Gesellschaftstheorie aus der Konfrontation einer schlechten konkreten Wirklichkeit mit besseren Möglichkeiten die Hoffnung auf Veränderung ableitet.83
Adornos Ansatz entzieht sich dem aktuellen Diskursraum der Biopolitik, indem er sich weder auf eine (wie immer auch kritisch intendierte) Beschreibung von qua definitionem unüberwindlichen Herrschaftspraktiken noch auf einen (bei aller Emphase letztlich nur begrifflich-abstrakt zu postulierenden) emanzipatorischen Perspektivenwechsel festlegen lässt. Stattdessen bezieht seine Konzeption eben die Position des ausgeschlossenen Dritten, die auch sein Verhältnis zur traditionellen (Moral-)Philosophie maßgeblich prägt, denn entscheidend ist gerade die Entwertung von logisch unüberwindlich erscheinenden Alternativen durch die Einbeziehung historisch-konkreter Konstellationen.
Und diese Sprengkraft geht auch bei einer Übertragung auf das Projekt der Biopolitik keineswegs verloren, erlaubt doch Adornos eigene Position im Gegenzug eine kritische Wahrnehmung dieses Projektes: Im Zentrum von Adornos Privilegierung des somatischen Moments steht, zumal nach Auschwitz, die originär kritische Dimension der Betrachtung, nämlich die Engführung biopolitischer Motive mit gesellschaftlicher Verantwortung. Bei Agamben fehlt dieses Motiv hingegen (wie schon bei Heidegger) völlig. Auch Foucault, der mit Adorno immerhin die Auffassung von der modernen Gesellschaft als »Freiluftgefängnis«84 teilt, kann mit dieser Verantwortung nichts anfangen, da ihn sein diskursives und konstruktivistisches Verständnis vom Individuum vor den konkreten Menschen schützt und ihm gar keine Wahrnehmung von Beschädigungen einer Entität erlaubt.85 Für diese pragmatische Ausschaltung der (tendenziell romantischen) kritischen Hinsicht auf die Möglichkeit von Veränderung bei Ansehung der Wirklichkeit hat Adorno eine drastische Formulierung gefunden: »Wer das Seiende unterschiedslos und ohne Perspektive aufs Mögliche der Nichtigkeit zeiht, leistet dem stumpfen Betrieb Beihilfe« (ND, 390).
Adornos kritischer Impetus provoziert freilich die geschichtsphilosophische Frage nach dem Verhältnis zwischen dem subjektiven Bewusstsein des Einzelnen und dem Weltlauf. Die Möglichkeiten und Chancen hat Adorno dabei sicher nicht überschätzt. Für seine durchaus realistische Wahrnehmung spricht schon die lose-lose-Situation, die er in der Negativen Dialektik skizziert hat:
»Subjektives Bewußtsein, dem der Widerspruch unerträglich ist, gerät in verzweifelte Wahl. Entweder muß es den ihm konträren Weltlauf harmonisch stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom gehorchen; oder es muß sich, in verbissener Treue zur eigenen Bestimmung, verhalten, als wäre kein Weltlauf, und an ihm zugrunde gehen« (ND, 155).