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In der Spanne eines Augenblicks

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Messianische Motive bei Benjamin, Adorno und Horkheimer1

Anleihen am politischen Messianismus sind gefährlich, wie wir aus dem 1000-jährigen Reich der Deutschen wissen. Wer sich messianischen Motiven bei kritischen Theoretikern zuwendet, tut deshalb gut daran, sich der Tradition der Aufklärung zu versichern. Er muss sich abgrenzen gegen die messianische Verkleidung autoritärer Führer, die ihrer reaktionären Politik eine pseudoreligiöse Form zu geben suchen. Aus der Verehrung des einen Gottes, welche die Menschheit vereinigen soll, wird die Berufung auf eine höhere Macht, die das nationale Kollektiv begünstigt. Aus der Utopie des Friedens wird das Ziel einer imperialistischen Herrschaft, gegen die keiner mehr aufzumucken wagt. Und die Idee der Gerechtigkeit verwandelt sich in das maßlose Verlangen, den nationalen Stolz zu befriedigen. Wo hingegen die Anknüpfung an die messianische Tradition legitim ist, ruht sie auf einer universalistischen Moral, die sich aus der menschlichen Vernunft begründet.

1. Philosophie und messianischer Offenbarungsglaube bei Kant

Nach Kant liefert die autonome Moral die Gründe, welche Überzeugungen der Religion Gültigkeit beanspruchen können. Wenn der religiöse Glaube begründet ist, kann er »Vernunftglaube« heißen.2 Vernunftglaube ist also kein Glaube an die Vernunft, sondern ein religiöser Glaube, der durch die Vernunft legitimiert ist. Er ist zu unterscheiden vom Offenbarungsglauben, der sich auf die Autorität heiliger Schriften beruft. Die Gründe des Vernunftglaubens sind moralischer Natur. Sie erweisen den notwendigen Zusammenhang der Moral mit den Ideen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Diese Ideen gelten als Möglichkeitsbedingungen zur Verwirklichung des von der praktischen Vernunft gebotenen Endzwecks, des höchsten Guts. Aber die Verbindung von Religion und Moral darf nicht die Autonomie der praktischen Vernunft gefährden; der moralisch Handelnde muss sich allein durch die kategorischen Forderungen der praktischen Vernunft bestimmen lassen, ohne auf eine irdische oder überweltliche Belohnung zu schielen. Religion ist durch Moral notwendig, aber nicht zur Moral.3

Das für Kant maßgebliche Dokument des Offenbarungsglaubens ist die Bibel.

»Der biblische Glaube ist ein messianischer Geschichtsglaube […] und besteht aus einem mosaisch-messianischen und einem evangelisch-messianischen Kirchenglauben, der den Ursprung und die Schicksale des Volks Gottes so vollständig erzählt, daß er von […] dem Weltanfang (in der Genesis), anhebend, sie bis zum Ende aller Dinge (in der Apokalypsis) verfolgt«4 .

Zwischen Vernunftglaube und Offenbarungsreligion besteht nach Kant nicht nur ein Gegensatz. Allerdings muss die Schrift so ausgelegt werden, dass sie mit dem Vernunftglauben in Übereinstimmung steht. Dabei müssen freilich die meisten Dogmen der auf die Bibel sich berufenden Religionsgemeinschaften verabschiedet werden, so z. B. die Messianität Jesu in dem spezifisch christlichen Sinn seiner Gottessohnschaft. Nachfolge bedeutet, in Jesus das Symbol der moralischen Vollkommenheit der Menschheit zu sehen, denn wenn er

»als die in einem wirklichen Menschen ›leibhaftig wohnende‹ und als zweite Natur in ihm wirkende Gottheit vorgestellt wird: so ist aus diesem Geheimnisse gar nichts Praktisches für uns zu machen, weil wir doch von uns nicht verlangen können, daß wir es einem Gotte gleich thun sollen, er also in so fern kein Beispiel für uns werden kann […].«5

Der Endzweck des moralischen Handelns ist das höchste Gut. Es wird bei Kant definiert als Verbindung von Moral und Glückseligkeit in ihrer Vollkommenheit. Bezogen auf die Gesinnung existiert diese Verbindung in einer unsichtbaren Kirche, dem Reich Gottes, das auf Erden in einer sichtbaren Kirche erscheint.

»Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Guts […] nicht selbst realisieren kann, gleichwohl aber darauf hinzuwirken in sich Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist, und nun eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hiebei thue, […] indessen daß der Mensch an jeder Pflicht nichts anderes erkennt, als was er selbst zu thun habe, um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein.«6

Grübeln über das Zutun Gottes ist also sinnlos, seine nähere Bestimmung bloße Einbildung. Wie die Vorstellung von Jesus als göttlicher Person uns von der Erfüllung unserer moralischen Pflichten eher ablenkt als uns zu ihr anspornt, so schwächen alle messianisch-apokalyptischen Phantasien die Autonomie der praktischen Vernunft, die Unbedingtheit ihrer Forderung.

Neben der metageschichtlichen Dimension des höchsten Guts, dem inwendigen Reiche Gottes, in dem die moralische Gesinnung herrscht und das in einer Kirche nur erscheint, gibt es für Kant auch eine geschichtlich-politische Dimension. Es ist die des Rechts, das die äußeren Verhältnisse der irdischen Vernunftsubjekte zueinander betrifft. Das von praktischer Vernunft gebotene Ziel ist die Verrechtlichung der Verhältnisse der Individuen in den Staaten und der Verhältnisse der Staaten in einem Völkerbund. Ohne die Herrschaft des Rechts gibt es keinen Frieden. Da sich Kant bewusst ist, dass die Idee des Friedens historisch zunächst im Zusammenhang messianischer Hoffnung stand, bemerkt er: Auch die Philosophie könne ihren Chiliasmus haben.7

Kant meint natürlich nicht, dass die Philosophie es der Offenbarung des Johannes gleichtun und ein messianisches Reich des Friedens und der Gerechtigkeit voraussagen könne, welches buchstäblich 1000 Jahre bis zum Ende dieser Welt währen soll.8 »Chiliasmus« ist hier vielmehr ein Bild, das auf einer Analogie, einem Vergleich ähnlicher Verhältnisse beruht. Wer sagt, dass die Flossen die Beine des Fisches sind, behauptet nicht, dass der Fisch Beine hat. Er hat vielmehr einen Vergleich unter dem abstrakten Begriff des Fortbewegungsorgans angestellt, der beides, Flosse wie Bein, umfasst. Wer das Marx’sche Kapital als »Bibel der Arbeiterklasse«9 bezeichnet hatte, konnte im Ernst nicht meinen, dass dieses Buch eine göttliche Offenbarung ist. Er hat vielmehr, mit welchem Recht auch immer, Ähnlichkeiten zwischen der Haltung der Autoren oder der Rezipienten festgestellt: So wie der Gläubige nicht am Wort Gottes, so zweifeln Proletarier nicht an den Analysen und Prognosen des Karl Marx. Bei der kantischen Formulierung, dass auch die Philosophie ihren Chiliasmus haben könne, ist der abstrakte Vergleichspunkt sowohl der Inhalt der irdischen Zielvorstellung als auch sein Verhältnis zur Transzendenz. Im Medium der Begriffe, genauer: der Rechtsbegriffe, die in der Vernunft ihren Ursprung haben, wird, wie im Medium der religiösen Vision, die Idee des irdischen Friedens artikuliert; und beide Male ist sie nicht ein Letztes, sondern wird von der Hoffnung auf eine universale Gerechtigkeit, die auch den Toten zuteil wird, übertroffen.

Indem bei Kant an die Stelle der biblischen Geschichten die Begriffe der Vernunft treten, werden Moral und Theologie aus einer ausschweifenden kirchlichen zu einer knappen philosophischen Angelegenheit. Nicht jede Verbegrifflichung ergibt, wie der kantische »Vernunftglaube« zeigt, eine Verweltlichung oder »Säkularisation«. Das freilich ist der Fall bei der Verwandlung von Hoffnungen, die sich mit der Gestalt eines Messias verbanden, in Zielbegriffe menschlich-geschichtlichen Handelns.

2. Messianismus und Benjamins Löschblatt

2.1 Theologiekritische Voraussetzungen und messianische Motive

»Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.«10 Diese Äußerung Adornos zeigt, dass bei ihm nicht nur die »Rationalisierung« der Religion, wie sie im Zeitalter der Aufklärung vollzogen wurde, historische Voraussetzung ist, sondern auch die ihr folgende Religionskritik von Autoren wie Feuerbach und Marx. Adorno sieht »keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichen Offenbarungsglauben gegenüber«11 und verwirft zugleich die Begriffsreligion Kants, die er freilich missversteht.12 Horkheimer erinnert an Schopenhauer, dem zufolge »Gläubige, die einen Weltschöpfer, gar einen gütigen, anbeten, […] irregeleitet« sind.13 Benjamin schließlich hat seiner theologiekritischen Haltung einen wunderbaren metaphorischen Ausdruck verliehen: »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«14

Von »Messianismus« in ursprünglicher Bedeutung dürfte unter dieser Voraussetzung eigentlich keine Rede mehr sein. Der Messias, der Gesalbte – griechisch Christos – ist nämlich, was immer er sonst sein möge, ein Auserwählter und Gottgesandter, ein Werkzeug des Herrn. Unter theologiekritischen Prämissen kann es nur »messianische Motive« geben, Motive also, die sich der Auseinandersetzung mit dieser religiösen Tradition verdanken, von ihr angeregt sind, sie aber auch den neuen gedanklichen Vorausetzungen gemäß verändern, ihnen anverwandeln. »Motive« werden dabei die messianischen Offenbarungen in einem genauen Sinn: Beweggründe des menschlichen Handelns, in dem allein, wenn irgend, sich jene Hoffnung verwirklichen können.

Der Gang vom Messianismus zu den messianischen Motiven ist ein Prozess der Säkularisation. Verweltlicht werden die Ziele durch rationale Begründung und die Mittel als menschliche Taten. Wer freilich Motive ausmachen will, die sich einer Säkularisierung von Vorstellungen über das Wirken des Messias verdanken, muss sich zunächst im Klaren darüber sein, dass es »den Messias« in der Religionsgeschichte nicht gibt. Zu unterscheiden sind zumindest der jüdische und der christliche Messianismus, wobei sich auch im Islam messianische Vorstellungen finden lassen.15 Selbst »innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums [existieren] unterschiedliche Messias-Vorstellungen mit gänzlich verschiedenen Zeit-, Zwischenzeit-, Epochen-, Geschichts-, Reichs- und Weltvorstellungen nebeneinander […], und zwar schon in den Quelltexten der jeweiligen heiligen Schriften.«16 Wir beschränken uns hier auf biblische Texte,17 wobei sich im Hinblick auf unsere Absicht zwei Fragestellungen unterscheiden lassen. Die eine betrifft die Gestalt des Messias, sein Verhältnis zum historischen Geschehen und die Begleitumstände seines Auftretens. Die andere Fragestellung betrifft die Verheißungen, die sich an sein Auftreten knüpfen, die Bestimmungen des messianischen Zustands.

2.2 Das Werk des Messias: Gerechtigkeit und Friede

Diese Bestimmungen des messianischen Zustands lassen sich unter den Begriffen der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit und des Friedens zusammenfassen. Im messianischen Zustand gibt es keine Abgötterei und keinen Verstoß gegen die göttlichen Gebote. Es gibt somit keine Ungerechtigkeit, insbesondere keine Ausbeutung.18 Vom Friedensfürsten heißt es in Psalm 72: »Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. […] er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat. […] Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen […].« Ein solcher durch Gerechtigkeit geschaffener sozialer Friede ist das erste messianische Motiv, dem sich eine säkulare, von theologischen Voraussetzungen unabhängige Form geben lässt.

Die Vorstellung des sozialen Friedens ist schon in den biblischen Verheißungen eingebettet in die Utopie eines Völkerfriedens. Die eindrucksvollste Stelle findet sich bei Micha, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wirkte (sie ist von seinem Zeitgenossen, dem ersten Jesaja übernommen worden): Der Herr »wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben […]« (Micha 4, 3 f.). Bemerkenswert an solchen Visionen – man denke an Deuterojesaja 45, 22 f. und 49, 6 – ist ihre universalistische Dimension, die philosophisch vor allem von Hermann Cohen hervorgehoben wurde.19 Schließlich ist die Friedensutopie bei einigen Propheten auch auf die den Menschen umgebende Natur ausgedehnt: Da »werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben« (Jesaja 11, 1-9).

2.3 Messianismus und Eschatologie; Auferstehung

Der Friede in und mit der Natur ist das letzte Motiv, das in der neueren Philosophie verweltlicht wurde. Nicht schon in der Aufklärung, sondern erst unter dem Eindruck der mit der Industrialisierung unvorhersehbar gesteigerten Naturbeherrschung wird der Naturfriede zu einem Moment der Utopie, die in menschlicher Praxis wirklich werden muss. Es nimmt mit Tritojesaja eine eschatologische Form an: »Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird« (Jes. 65, 17). Die messianische Utopie tritt in Beziehung zur Vorstellung des Endes aller Tage, der letzten Dinge, so zum ersten Mal bei Deuterojesaja (51, 6), aus den letzten Jahren des babylonischen Exils.20 Vom zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins erste Jahrhundert n. Chr. wird die Eschatologie in einer weit verzweigten apokalyptischen Literatur ausgearbeitet, von der nur das Buch Daniel kanonisch wurde. Die Katastrophen, die als geschichtliche in Form sozialer Bedrückung und kriegerischer Eroberungen, Zerstörung und Verschleppung dem Kommen des Messias vorausgehen, erhalten in der Eschatologie eine kosmische Dimension. Ideengeschichtlich ist diese Weiterung auf den Einfluss der persischen Religion zurückzuführen, die den jüdischen Eliten im babylonischen Exil bekannt wurde. Die Vereinigung der Messias-Tradition mit der Eschatologie hat zu unterschiedlichen Konzeptionen geführt.21

Mit der Eschatologie verbindet sich ein Motiv, das für unsere Säkularisierungsproblematik von entscheidender Bedeutung ist: die Auferstehung der Toten und der Sieg über den Tod. Eine Schlüsselstelle findet sich im Buch Daniel aus der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts: »Zu jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einem zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande« (Daniel, 12, 1 f.). Schließlich wird die Verheißung von der Wiederkehr Christi mit dem Gedanken der Auferstehung, des Totengerichts und des endgültigen Siegs über den Tod verbunden. Die Offenbarung des Johannes nimmt das Gesicht (die Vision) des dritten Jesaja auf: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. […] Siehe, ich mache alles neu!« (20,1-59).

2.4 Säkularisierung der messianischen Eschatologie bei Walter Benjamin

Auf den ersten Blick lässt sich die Vorstellung von Auferstehung und Sieg über den Tod nicht mehr säkularisieren. Tatsächlich aber ist eben dies in Benjamins Geschichtsdenken unter den Begriffen der Rettung, des Eingedenkens und der Aktualisierung (Vergegenwärtigung) geschehen. Diese Transformation der Auferstehungshoffnung ins Historische hat auf die Stellung zum Messianischen insbesondere bei Adorno einen unübersehbaren Einfluss, wenn sie auch keineswegs unmittelbar übernommen wird. Für Benjamin ist in seiner materialistischen Phase der messianische Begriff der Erlösung von dem historischen der Befreiung nicht zu unterscheiden. Die klassenlose Gesellschaft, um die der historisch-revolutionäre Kampf geführt wird, ist eine »Welt allseitiger und integraler Aktualität.«22 In ihr gibt es universale Erinnerung oder vielmehr ein Eingedenken, in dem das Vergangene »zitiert«, vollzogen und so vergegenwärtigt und in diesem Sinne auch verlebendigt wird. Das bringt die dritte These über den Begriff der Geschichte zum Ausdruck:

»Der Chronist, welcher die Ereignisse hergezählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit die Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.«23

Im Unterschied zum eschatologischen Vergessen des Alten ist der Stand der Erlösung für Benjamin eine historische Existenz: »Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tag entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.«24

Natürlich liegt der Einwand nahe, dass auch eine solche historische Transformation der Auferstehungshoffnung die Toten nicht wirklich lebendig macht und die eschatologische Vorstellung sich somit nicht ohne Rest säkularisieren lässt. Während wir bei der Utopie des Friedens wenigstens denken können, dass ihre Verwirklichung das Resultat menschlicher Anstrengung ist, und wir einzelne Schritte angeben können, die uns diesem Ziel vielleicht näher bringen, kann dies für die Hoffnung gegen die Endgültigkeit des Todes nicht gelingen. Wir müssen also damit rechnen, dass sich an die Gestalt des Messias eschatologische Hoffnungen knüpfen, die sich nicht ohne Rest säkularisieren lassen, ohne darum an Berechtigung und Bedeutung zu verlieren.

2.5 Die Gestalt des Messias, Art und Umstände seines Eingreifens

Auch was die Gestalt des Messias und die Weise seines Auftretens betrifft, lassen sich der biblischen Tradition Bestimmungen entnehmen, die sich als messianische Motive bei Benjamin (sowie bei Adorno und Horkheimer) wiederfinden lassen. Der Ausdruck »Messias« leitet sich aus dem Partizip Perfekt des hebräischen Worts für »Salben« ab. Der Gesalbte ist ursprünglich König, Priester oder Prophet, die Salbung selbst Ausweis einer göttlichen Legitimation. Zum Verheißenen und Erwarteten wird der Messias erst unter dem Eindruck der politischen Katastrophen, denen die Nachfolgestaaten des Reichs Davids ausgesetzt waren. Ein restauratives Moment in den Verheißungen der Propheten wird darin deutlich, dass der Messias aus dem Hause Davids stammen soll.25 Dabei ist die Rolle eines Messias in den Verheißungen der Propheten keineswegs zentral. Was sich ankündigt, ist der Tag des Herrn, der vor allem ein Tag des Gerichts und der Strafe ist. Erst im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr., übrigens im Zusammenhang mit einer Ausweitung apokalyptischer Erwartung, gewinnt die Hoffnung auf den Messias als gottgesandten Menschensohn – sei er Priester, König oder Prophet – an Bedeutung. Wie die Resonanz der Taufpredigten Johannes des Täufers zeigt, hat die messianische Erwartung im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung einen hohen Grad der Erregung und Verbreitung erreicht.

Die Vorstellung des Messias als einzelner Person ist einer Säkularisierung eigentlich nicht zugänglich. Wo sie aus ihrem theologischen Kontext gelöst und aufrechterhalten wird, verkommt sie zu einer irrationalen Führerideologie, die mit den unklaren Sehnsüchten der Massen spielt. Andererseits muss eine Kollektivierung der Messiasvorstellung nicht ohne weiteres ihre Verweltlichung bedeuten. Für Hermann Cohen ist – kantianisch, aber abweichend von der dem Judentum wenig gewogenen Bibellektüre Kants – der Messias das »Symbol« der zukünftigen, im Glauben an den einen Gott vereinten Menschheit: »[…] die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit, das ist der Inhalt der Messiasidee«26. Säkularisiert ist dieser Gedanke in Erich Fromms Interpretation der prophetischen Verheißung, der zufolge der Messias »ein Symbol der eigenen Anstrengung« ist.27

Ebenfalls kollektiviert und säkularisiert ist die Messiasgestalt in Benjamins Vorstellung von der Praxis des revolutionären Proletariats oder allgemeiner: vom »Subjekt der Geschichte«, welches »die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation« ist.28 Dem Proletariat sei eine »schwache messianische Kraft mitgegeben«29 – und ebenso dem Historiker, der das Bild der Vergangenheit festzuhalten und zu entfalten sucht, das im Augenblick der Gefahr und der revolutionären Aktion aufblitzt. Die Messianität des Subjekts der Geschichte – der geschichtlichen Tat sowohl wie der ihr zugehörigen Geschichtsschreibung – ist also zunächst definiert durch die Aufgabe, Vergangenes für das universale Eingedenken zu retten. Es gilt, ein unwiederbringliches Bild festzuhalten, »das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.«30 Die Verwendung der religiösen Termini ist in Benjamins eigener Reflexion eine »Indienstnahme« der Theologie für die Praxis und Theorie der sozialen Revolution. »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.«31 Die Selbstinterpretation in theologischen Begriffen – und deren Instrumentalisierung ist schon ihre Verweltlichung – kommt der revolutionären Sache in Benjamins Augen vor allem deshalb zugute, weil Hass und Opferwillen »sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Bild der befreiten Enkel«32 nähren.

Auch das Auftreten des Messias und seine Begleitumstände können ein säkulares Denken der Befreiung inspirieren. Da ist zunächst das Beieinander von Unheil und Heil wie noch in Hölderlins Patmos-Hymne: »wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.« In der Bibel sind Gefahr und Rettung das Wirken Gottes. In einer säkularen Betrachtung gibt es für das Katastrophische zunächst zwei Möglichkeiten: Es ist entweder Manifestation der durch die Zivilisation unterdrückten finsteren Natur des Menschen oder eine Reaktion auf die Einschränkungen, die Zivilisation der menschlichen Natur überhaupt auferlegt, also eine innerhistorische Kraft, kein Ausbruch von unten. Möglicherweise können diese beiden Modelle auch ergänzt und kombiniert werden, wichtiger jedoch ist, dass es eine weitere Möglichkeit der Säkularisierung gibt, nämlich die strikte Veralltäglichung des Katastrophalen, wie sie von Walter Benjamin vollzogen wird: Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe – natürlich nicht für die jeunesse doreé, sondern für die im Dunkeln.33 Angesichts dieser Alltäglichkeit des Katastrophischen, die im Ablauf der Zeit Trümmer auf Trümmer häuft, kann der wahre Fortschritt nur darin bestehen, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.«34 Diese Zeitvorstellung ist in der Tat »messianisch«, denn auch »der Tag des Herrn« setzt ein Ende, bricht eine historische Dauer ab, ist nicht das immanente Ziel einer Entwicklung. In der Metapher des Sprengens aber kommt die Immanenz der befreienden Kraft zum Ausdruck.

Die Vorstellung, dass das Anwachsen und die Vollendung des Negativen das Heil, die Erlösung, fördert oder sein Nahen anzeigt oder zumindest sein Wesen verdeutlicht, gehört zu den unverkennbar messianischen Motiven auch in der Philosophie von Adorno und Horkheimer. Es ist dann auch nur konsequent, wenn eine wirkliche Veränderung nur noch von dem Augenblick erwartet wird, für den es keine Vorbereitung gibt, der also schon der nächste sein kann.35 Der Minima Moralia zufolge schließt »die vollendete Negativität, einmal ganz anders ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils«36 zusammen. In der Dialektik der Aufklärung heißt es zur Ideologie des faschistischen Tickets: »Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte, tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe, von der die Urteilslosen einzig durch die volle Einbuße des Denkens getrennt zu halten sind.«37 Es ist eine original messianische Haltung, die Befreiung in jedem Moment zu erwarten, gerade weil die Last so drückend geworden ist, dass keine planende Vorbereitung mehr möglich scheint. Aber diese Haltung ist eine Schwundstufe revolutionärer Hoffnung auch da, wo sie sich so eindrucksvoll äußert wie in Horkheimers Worten von 1941:

»So verstümmelt alle auch sind, in der Spanne eines Augenblicks könnten sie gewahr werden, daß die unter dem Zwang der Herrschaft durchrationalisierte Welt sie von der Selbsterhaltung entbinden könnte, die sie jetzt noch gegeneinander stellt. Der Terror, der der Vernunft nachhilft, ist zugleich das letzte Mittel, sie aufzuhalten, so nah ist die Wahrheit gekommen.«38

3. Messianische Motive bei Adorno

3.1 Motiv der Rettung; Auferstehungshoffnung und Transzendenz

Das messianische Motiv, das im philosophischen Denken Adornos im Mittelpunkt steht, ist das Motiv der Rettung. Sie sei »der innerste Impuls jeglichen Geistes«.39 Erstaunlicherweise zieht Adorno die säkularisierte Version dieses Motivs, wie es sich bei Benjamin findet, nicht in Betracht. Für ihn ist nicht mehr und nicht weniger gemeint als »leibhafte Auferstehung«, die ihm als Inhalt christlicher Dogmatik vor Augen steht.40 Angesichts der oben erwähnten theologiekritischen Voraussetzungen kann Adornos Position nur in Paradoxa gipfeln: »Wer an Gott glaubt, kann deshalb an ihn nicht glauben. Die Möglichkeit, für welche der göttliche Name steht, wird festgehalten von dem, der nicht glaubt.«41 Das gleicht von ferne dem Leitmotiv der Bloch’schen Religionsphilosophie, nach der nur ein Atheist ein guter Christ sein kann, aber eben nur von ferne. Denn bei Bloch wird der Gegensatz von Erlösung und göttlicher Herrschaft betont, während sich Adorno für einen Abbruch der Reflexion einsetzt: »Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen.«42 Aus welchem anderen Grund aber sollte ihre Reflexion der eschatologisch gefassten Hoffnung entgegenarbeiten, als dass sie deren Grundlosigkeit zu Tage fördern könnte? Eine Hoffnung, die nicht mehr gedacht werden kann, hat jedoch keinen Inhalt mehr und verdient diesen Namen nicht. Eschatologische Hoffnung verdankt sich der Verheißung oder wenigstens einem Vernunftschluss, der auf Transzendentes – ein Anderes als diese Welt – geht. Wird weder das eine noch das andere geglaubt, kann sich jene Hoffnung nicht erhalten. Sie zieht sich zurück auf ein unbestimmtes Sehnen: »Keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht.«43 Aber die Sehnsucht beweist nicht, dass es das Ersehnte gibt. Was bleibt, ist eine wehmütige Erinnerung, die von der stets sich erneuernden Sehnsucht wach gehalten wird. Für sie kann allerdings gelten, dass ihr Fehlen das Menschliche um eine wichtige Dimension ärmer macht.

Das Denkverbot über die Hoffnung ist umso unverständlicher, als Adorno behauptet, dass Erkenntnis auf den Gedanken der Erlösung, Wahrheit auf den des Absoluten, Geist auf eschatologische Hoffnung angewiesen ist. Reklamiert wird »die Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.«44 Adorno setzt die Erfahrung dem Argument entgegen, aber metaphysische Erfahrung selbst, in der das Moment des Dabeiseins des individuellen Subjekts betont werden soll, ist notorisch unverlässlich.45 Deshalb ist es auch für Adorno nicht möglich, den Antinomien des Argumentierens durch die Berufung auf Erfahrung auszuweichen. Dass der Gedanke, wenn er sich lebendig halten will, in die Transzendenz der eschatologischen Hoffnung münden muss, wird in einer erkenntnistheoretischen Überlegung behauptet. Es ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der spezifischen Weise, in der Adorno Philosophie und Theologie verbindet, dass er dabei nicht, wie Kant und Bloch, von der praktischen Vernunft ausgeht, sondern wahrheitstheoretisch zu argumentieren sucht.46

3.2 Wahrheitsbegriff und eschatologische Hoffnung

Das zentrale Argument besagt, dass die Wahrheit dauern muss, um Wahrheit zu sein. Es bleibt allerdings unklar, wo hier die Beziehung zum individuellen Tod sein soll. Der Gedanke, »der Tod sei das schlechthin Letzte«, ist nach Adorno »unausdenkbar«. »Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein Moment von Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere«47. Nun lässt sich daraus, dass ein mit einem Zeitindex versehener empirischer Satz zu jedem Zeitpunkt, an dem er geäußert wird, gültig sein muss, sicher nicht schließen, dass er in alle Ewigkeit muss ausgesagt werden können. Dies würde bedeuten, dass jede relative Wahrheit Element eines absoluten Wissens sein muss, das an keinen Zeitindex mehr gebunden ist. Möglicherweise ist der Begriff eines absoluten Wissens notwendig, um die Relativität des menschlichen Wissens zu erkennen; daraus folgt aber nicht – so hatte schon die kantische Kritik der theoretischen Vernunft argumentiert – dass es das Subjekt dieses Wissens gäbe.

Jedoch bedeutet Adornos Argument vielleicht nicht mehr, als dass es für die Anstrengung der Erkenntnis notwendig ist, für jemanden zu schreiben, der, wenn die Mitwelt taub und die Nachwelt womöglich noch unzugänglicher wäre, nur ein »eingebildeter Zeuge«48 oder gar einzig der totgesagte Gott sein kann.49 Und das ist schwerlich völlig falsch: Denn jeder Versuch, etwas zu sagen, das nicht den gängigen Konventionen sich unterordnet, geht an die Grenzen der Sprache, enthält ein individuelles Moment, das nur missverstanden werden kann, und wendet sich so an einen imaginären, unbekannten Hörer. Der Gedanke einer so verstandenen Dauer ist freilich nicht mehr als die subjektive Bedingung dafür, die Anstrengung der Erkenntnisarbeit auf sich zu nehmen; in diesem Sinne kann der Satz verstanden werden, ohne Transzendenz würde sich Erkenntnis zum absolut Gleichgültigen.50

Allerdings ist noch völlig ungeklärt, warum dieser Gedanke der Transzendenz den Sieg über den Tod implizieren muss. Geschichtlich hat das Judentum Jahrhunderte lang den Begriff des transzendenten, ewigen und allwissenden Gottes gekannt, ohne die Überwindung des menschlichen Todes daran zu knüpfen. Und logisch gesehen fordert die Aufbewahrung eines endlichen Wissens im Absoluten nicht die Erhaltung seines Trägers, nicht einmal dann, wenn wir einen anderen Begriff von Wahrheit und Erkenntnis geltend machen als jenen objektiven, der alle Beziehung auf die subjektive Lebendigkeit des Erkennenden eliminieren möchte. Einen solchen Wahrheitsbegriff müssen wir bei Adorno voraussetzen; es ist der von Affinität im Unterschied zum klassischen der adaequatio.51 In ihm soll am Objekt, das den Vorrang hat, Nichtidentität hervortreten können, deren Organ im Erkennenden der begriffslose Teil am begrifflich identifizierenden Denken ist: mimetischer Ausdruck. Adornos Wahrheitsbegriff misst sich am »Äußersten, das dem Begriff entflieht«, nämlich an der sinnfernen Schicht des Somatischen als dem Schauplatz des Leidens. Alles andere als der Versuch, ihm Ausdruck zu verleihen, ist für Adorno »vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.«52 Es ist demnach »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit.«53 Erst ein Denken, das in sich Drang, Bedürfnis, Verlangen wahrzunehmen vermag, beginnt unter Wahrheit den Ausdruck des Leidens zu verstehen; und erst wenn Wahrheit so verstanden wird, erweist sich Dauer als ihre notwendige Eigenschaft: Sie wird zum Eingedenken, das die Erinnerung an vergangenes Leid bewahren soll.

Auch in dieser Version ist das Beweisziel nicht erreicht. Es bleibt unklar, warum die Voraussetzungen, unter denen die Hoffnung des Eingedenkens säkularisiert werden musste, nicht mehr gelten sollen, wenn aus ihr ein Begriff mimetisch-expressiver Wahrheit entwickelt wird. Vor allem wäre zu bedenken, dass die Hoffnung des Eingedenkens, ob eschatologisch oder geschichtlich gefasst, eine Hoffnung einzig um der Vergangenheit willen ist. Dies bedeutet nicht, dass Hoffnung aus dem Vergangenen kommt, wie Adorno interpretiert,54 sondern dass wir nur für die Toten – die nicht mehr hoffen können – hoffen dürfen.55 Hoffnung für die eigene Person wäre als Ausgangspunkt egoistisch und würde vor allem die Aktualität der messianischen Befreiung negieren: Wenn jeder Augenblick die kleine Pforte sein kann, durch die der Messias kommt,56 brauchen wir uns um unsere Zukunft keine Gedanken zu machen. Andererseits: Wenn das Totengericht und die Auferstehung glaubhaft sind, ist das menschliche Gedächtnis vergangenen Leidens überflüssig.

3.3 Der Schlussaphorismus der Minima Moralia: Erkenntnis und Erlösung

Auch der Schlussaphorismus der Minima Moralia behauptet einen engen Zusammenhang zwischen Erlösungshoffnung und Erkenntnis: »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«57 Einzig im messianischen Licht erscheint die Welt so, wie sie erkannt werden muss, aber von selbst sich nicht zu erkennen gibt, nämlich zerrissen, diskontinuierlich, bedürftig. »Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird.«58 Erlösungshoffnung gibt sich hier als ihrer Sache gewiss, ihr Gehofftes erscheint als Quelle des Lichts, in dem allein die Dinge wirklich gesehen werden können, mithin als objektive Bedingung ihrer Erkennbarkeit. Freilich wüsste man gerne, woraus – angesichts von Verzweiflung – eine solche Gewissheit sich speist. Zunächst jedenfalls ist »Erlösung« etwas Subjektives, ein Gedanke, eine Hoffnung, ein »Standpunkt«: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten.«59 Der Konjunktiv verweist auf ein Gesetztsein, etwas Fakultatives; als »Standpunkt« ist die Erlösung ein »Als ob«. Was als nicht bloß Subjektives gewiss ist – »das Licht, das von der Erlösung her auf die Welt scheint« – ist unmittelbar zuvor eine subjektive Veranstaltung. Wäre die Erlösung objektiver Grund der Erkenntnis, bräuchte sie kein Standpunkt zu sein. Insofern zeugt der ganze Aphorismus von dem, was der Schlusssatz ausspricht: dass »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig«60 ist.

Nach Adorno ergibt sich diese Gleichgültigkeit erst aus den Schwierigkeiten, ja der Unmöglichkeit, den Standpunkt der Erlösung überhaupt einzunehmen. Erkenntnis im messianischen Licht ist »das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat.«61 Der Standpunkt der Erlösung ist deshalb unmöglich einzunehmen, weil er etwas Subjektives ist, errungen und abgetrotzt, eben »Standpunkt« ist. Damit aber ist der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Erlösung wieder zerrissen. Weil »jede mögliche Erkenntnis« dem Bestehen »abgetrotzt« werden muss, ist sie ihm auch verfallen und befindet sich nicht auf einem Standpunkt jenseits desselben. Verständlicherweise hat Adorno auch nie versucht, Erkenntnisse, die er, wie die Marx’sche Tauschwertanalyse, als verbindlich anerkennt, auf den Standpunkt der Erlösung zurückzuführen.

3.4 Ausweitung des Bildverbots und die Unmöglichkeit von Praxis

Die Unmöglichkeit, den Standort der Erlösung einzunehmen, ergibt sich auch aus einem anderen Motiv, dem der Ausweitung des Bildverbots. Dessen allgemeine Begründung ist die Verfallenheit der Vorstellungen und Gedanken ans Bestehende, ihre nähere Bedingung die Unmöglichkeit revolutionärer Praxis, die für Adornos als die wahre Praxis gilt. In der Bibel – zuerst 2. Mose 20, 4 f. – bezieht sich das Verbot eindeutig auf den Versuch, Gott in menschlichen Werken anschaulich zu machen und anzubeten. Sinn des Bildverbots ist die Betonung des Abstands zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen, das Wissen um seine Transzendenz und Unvergleichlichkeit. Gott spricht zu den Menschen, aber er zeigt sich nicht. »Seine Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da« (5. Mose 4, 12). Was in der Stimme erscheint, ist Geist, keine Naturgewalt.

Bei Adorno wird das »Bildverbot« ausgeweitet auf die eschatologische Hoffnung wie auf die messianische Utopie. Die jeweilige Begründung lässt es als fraglich erscheinen, ob der theologische Begriff überhaupt angemessen ist. Was die eschatologische Hoffnung betriff, läuft das »Bildverbot«, wie gesehen, auf ein Denkverbot hinaus. Im Hinblick auf die mögliche Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verweist Adorno auf den historischen Materialismus von Karl Marx, der das Bildverbot säkularisiert habe, »indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen.«62 Tatsächlich folgt die Marx’sche Kritik des utopischen Sozialismus einem Motiv, das mit dem Adornos übereinkommt. Es besteht nämlich die Gefahr, beim Entwurf der zukünftigen Gesellschaft nur Ideale der bestehenden auszugestalten, ohne nach dem Zusammenhang dieser Ideale mir der schlechten Wirklichkeit zu fragen. Diese Utopiekritik hat Marx freilich nicht daran gehindert, Prinzipien einer aus der Überwindung der kapitalistischen hervorgehenden Gesellschaft anzugeben. Ihre nähere Ausgestaltung sollte der geschichtlichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, überlassen bleiben. Dass eine solche Praxis ohne Antizipationen, Programme und Pläne ebenso wenig auskommt wie ohne Experimente, Fehler und Korrekturen, war ihm selbstverständlich.

Für Adorno hingegen besteht das eigentliche Problem darin, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung gescheitert ist. Dies ist das Problem eines jeden, der an der Analyse des Kapitals festhält und praktische Konsequenzen zu ziehen sucht; Horkheimer und seine Mitarbeiter haben es nur relativ früh gemerkt, schon nach der Konsolidierung der Diktatur Stalins in den 1930er Jahren. Unter diesen Voraussetzungen kann nicht verboten werden, was es nicht gibt: konkrete Antizipationen einer klassenlosen Gesellschaft. Nötig wäre nicht ein Bildverbot über der sozialen Utopie, sondern eine Kräftigung der Phantasie, die freilich nur im Zuge der praktischen Anstrengungen erwartet werden kann.

Die messianische Tradition bietet ein beeindruckendes Beispiel utopischer Phantasie, die auch heute noch gleichsam als Fundus utopischer Archetypen dienen kann. Indem Adorno sein Bildverbot auf messianische Utopie und eschatologische Hoffnung gleichermaßen erstreckt, drohen die begrifflichen Differenzierungen zwischen beiden verloren zu gehen. Das ist vielleicht der Grund, warum die zentralen messianischen Motive von Gerechtigkeit und Frieden bei Adorno meist nur eine implizite, jedenfalls eher unscheinbare Rolle spielen. Bisweilen ist unklar, ob zwischen sozialer Utopie und Eschatologie überhaupt noch unterschieden werden kann.63 Zwischen befreiter Gesellschaft und der Möglichkeit einer Erfüllung der transzendenten Sehnsucht besteht aber, wenn es diese Möglichkeit überhaupt gibt, ein Bedingungsverhältnis: »Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürfen der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen. Solange diese ihnen verschleiert sind, leben sie unterm Schleier der Maja. Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.«64

3.5 Messianische Splitter, Namensprache und Negativität als Spiegelschrift

Das Motiv der Rettung ist das beherrschende messianische Motiv bei Adorno. Neben ihm, und in entsprechender Verwandlung, gibt es weitere messianische Motive, die mit dem Denken Benjamins in Zusammenhang stehen, an erster Stelle das Motiv des messianischen Splitters. Benjamin bezeichnet das einmalige Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit als Konstellation. In ihrem Erfassen – in der Rettung des unwiederbringlichen Vergangenen – begründet der Historiker »einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.«65 Bei Adorno nimmt der messianische Splitter die Form einer Spur an, die auf Transzendentes deutet: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.«66 Dieses Motiv korrespondiert mit der objektiven Bedeutung des messianischen Lichts aus dem Schlussaphorismus der Minima Moralia.

Ein weiteres, von Benjamin geprägtes messianisches Motiv bei Adorno ist das sprachphilosophische. Es muss erwähnt werden, auch wenn sich die Negative Dialektik von ihm distanziert, indem sie von der »Hoffnung des Namens« als einem Vergangenen spricht. Rettung bedeutete bis dahin die Beziehung der Begriffe auf eine bilderlose Wahrheit, die in der Sprache der Namen besteht.67 Die Sprache der Namen, nach Benjamins Trauerspielbuch das intentionslose Sein der Wahrheit, ist in den historischen Sprachen nicht verfügbar. Ihre Idee ist vielmehr abhängig von der biblischen Überlieferung einer adamitischen Sprache, von der Benjamin in dem hier grundlegenden Sprachaufsatz von 1916 schrieb, der Mensch sei der Erkennende in derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist.68 Die Restitution dieser Sprache wäre ein echt messianisches Motiv, das sich vielleicht auch zu Zephanja 3, 9 in Beziehung setzen lässt: »Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, daß sie alle des Herrn Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen.« Hermann Cohen kommentiert: »Die Völker haben nunmehr eine Sprache zur Verehrung des Einen Gottes.«69 Auch für Benjamin war die messianische Welt charakterisiert durch eine universale Sprache, in der die rettende Vergegenwärtigung besteht.70

4. Messianische Motive in der Dialektik der Aufklärung und im Spätwerk Max Horkheimers

Unverkennbare Zeugnisse des Wirkens messianischer Motive finden sich in Horkheimers Werken aus den 1930er Jahren, soweit ich sehe, nicht. Bei Adorno, der sich schon an Benjamin anschloss, als dieser noch ohne materialistische Vorbehalte Theologie betrieb, verhält sich dies anders. Deshalb mag man vermuten, dass sich die messianischen Motive der Dialektik der Aufklärung vor allem Adorno verdanken. Diese Annahme wird gestützt durch Horkheimers spätere Auskunft, dass der Messianismus für ihn selbst, im Unterschied etwa zu Ernst Bloch, nicht »bestimmend gewesen«71 ist. Allerdings konvergieren einige der eindrucksvollsten Stellen, an denen die Dialektik der Aufklärung für messianische Motive zeugt, mit einem für Horkheimer von früh auf wichtigen Gedanken. Es handelt sich um das messianische Motiv des Naturfriedens und den Gedanken einer Solidarität mit der leidenden Natur.

Das Eingedenken der Natur im Subjekt, das die Dialektik der Aufklärung fordert und vollzieht, schärft den Blick für den »Drang des Daseins nach seinem Frieden«72. Erkennbar wird »die unendliche Geduld, der nie erlöschende zarte Trieb der Kreatur nach Ausdruck und Licht, der die Gewalt der schöpferischen Entwicklung in ihr selbst zu befrieden scheint«73. Noch in der Qual der gefolterten Leiber erscheint als in ihrer Verneinung die »Freiheit als Bestimmung der Materie«74. An Leid und Tod in der Natur entzündet sich die messianische Phantasie, die Bilder produzierende Kraft des Denkens: »Die Anrufung der Sonne ist Götzendienst. Im Blick auf den in ihrer Glut verdorrten Baum erst lebt die Ahnung von der Majestät des Tags, der die Welt, die er bescheint, nicht zugleich versengen muss.«75

Während das Motiv der Rettung in der Dialektik der Aufklärung – »der Drang, Vergangenes als Lebendiges zu erretten, anstatt als Stoff des Fortschritts zu benützen«76 – in den diskutierten Thesen Adornos weiter wirkt, tritt in Horkheimers spätesten Äußerungen eine Kritik des Atheismus in den Vordergrund. Die Dialektik der Aufklärung enthält, wenn auch eher versteckt, die These, dass »die Leugnung Gottes in sich den unaufhebbaren Widerspruch [enthält], sie negiert das Wissen selbst.«77 In den 1960er Jahren nimmt die Beschäftigung mit dem Gottesbegriff, bis dahin eher ein Nebenmotiv, bei Horkheimer einen verhältnismäßig breiten – man könnte auch sagen: einen unverhältnismäßigen – Raum ein. Er verweigert ein Bekenntnis zum Atheismus, weil sich über das Absolute überhaupt nichts aussagen lasse,78 und behauptet wie Adorno einen notwendigen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gottesbegriff. »Wahrheit als emphatische, menschlichen Irrtum überdauernde, läßt sich […] vom Theismus schlechthin nicht trennen.«79 Horkheimer formuliert unverschlüsselter als Adorno, aber auch unbekümmerter um mögliche Begründungen. Er meint, auch für die Marx’sche Kapitalismuskritik seien theologische Postulate aus logischen Gründen entscheidend, auch wenn dies Marx selbst nicht bewusst war.80

Wichtiger als rein theoretisch bezogene Bezugspunkte sind freilich praktisch-moralische. Der Gottesgedanke sei unverzichtbar, weil er für uns die Verlassenheit und Bedürftigkeit der Menschen bewusst macht und so die Bedingung solidarischer Hilfe ist.81 Dieser Gedanke bekennt sich als eine Sehnsucht:

»Gott als positives Dogma wirkt als trennendes Moment. Die Sehnsucht hingegen, daß die Welt mit all ihrem Grauen kein Letztes sei, vereint und verbindet alle Menschen, die sich mit dem Unrecht dieser Welt nicht abfinden wollen und können. Gott wird so zum Gegenstand der menschlichen Sehnsucht und Ehrung; er hört auf, Objekt des Wissens und Besitzes zu sein. Ein so verstandener Glaube gehört unabdingbar zu dem, was wir menschliche Kultur nennen.«82

Es bleibt unklar, wie eine solche Sehnsucht Glauben sein kann, wenn sie nicht die Möglichkeit ihrer Erfüllung, und damit doch wohl den traditionellen Gottesbegriff, bejaht. Anderenfalls wird sie sich als Illusion erkennen und entweder resignieren oder ihre Energien transformieren. Eine Hoffnung, die keine – wenn auch in wiederkehrendem Zweifel sich bewährende – Möglichkeitsgewissheit hat, ist unmöglich.

In der Sehnsucht nach dem Absoluten sollten sich nach Horkheimer alle vereinigen, »die den Schrecken der Vergangenheit nicht als endgültig betrachten wollen«83. Dieses Motiv war Horkheimer schon in den 1930er Jahren nicht unbekannt. Auch »seit dem Übergang der religiösen Sehnsucht in die bewußte gesellschaftliche Praxis« lässt sich »das Bild vollendeter Gerechtigkeit«, in dem selbst das vergangene Elende gutgemacht ist, nicht verscheuchen.84 Es gehört aber zu ihm »das zunehmende Bewusstsein der Vergeblichkeit«, jenes Bild ist »Schein«, »Illusion.« Im Unterschied zur Abgebrühtheit, die alles durchschaut und an alles sich anpasst, erkennt das kritische Bewusstsein Horkheimers in jener Illusion eine positive Wirkung. »In einer freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit des Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als einer neuen Religion.«85

Diese Position scheint mir auch nach 70 Jahren noch haltbar. Die religiöse Hoffnung ist vergangen, aber sie bleibt als Erinnerung und soll in dieser Form den Götzendienst jeder Art verhindern. Demgegenüber kann man die Überlegungen der 1960er Jahre nur als eine Theologisierung von Horkheimers Denken bezeichnen. Der Theismus habe »eine neue Aktualität gewonnen.«86 Sie ergibt sich aus der Kritik der autonomen Moral. Der kategorische Imperativ sei durch die Geschichte nicht bestätigt worden87 – als ob er auf eine solche Bestätigung angewiesen sein könnte. Horkheimer ignoriert hier Kants Unterscheidung von technischer und moralisch praktischer Vernunft und meint, dass Vernunft nicht notwendig die Achtung vor dem Menschen als Selbstzweck, sondern ebenso das Gegenteil gebieten könnte.88 Ein ähnlicher Gedanke war schon in der Dialektik der Aufklärung geäußert worden,89 nicht aber die Behauptung, dass zwischen theistischer Tradition und Überwindung der Selbstsucht eine notwendige Beziehung bestehe. Hatte Horkheimer 1936 noch von der »egoistischen Seelenverfassung der meisten Religiösen« gesprochen,90 so gilt ihm nunmehr, fast dreißig Jahre später, Atheismus als Synonym für Unmoral, auch wenn diese sich bei bloß konventionellen Christen findet.91 Er fällt hinter die aufklärerische Position von Kant zurück, dass der Glaube nicht zur Moral, sondern höchstenfalls durch Moral notwendig sei.

Mit der Abgrenzung vom theologischen Dogmatismus sind solche Standpunkte schwer vereinbar. Horkheimers spätes Denken macht einen widersprüchlichen, im Grunde hilflosen Eindruck. Theismus ja, weil es ohne ihn keine Wahrheit und keine Moral gibt. Aber nein zur Gewissheit des Glaubens, weil sie dogmatisch sein muss und die Menschen trennt. Am äußersten Punkt wird Religiosität definiert als die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Aber in dieser Unbestimmtheit lässt sich keine notwendige Beziehung zu irgendeiner Form von Praxis mehr herstellen, und es bleibt unklar, was für die Theologie noch zu tun sei. Mir scheint noch die Theologisierung von Horkheimers spätem Denken als eine Schwundstufe revolutionärer Hoffnung verstehbar, die sich erst auf die messianische Plötzlichkeit der Befreiung und nun auf den utopischen Traum zurückgezogen hat, der von den Problemen der Verwirklichung, die nur umkämpft sein kann, abgelöst ist:

»In kühnen Träumen scheint mir, es könnte einmal so werden, daß eine Art mit Theologie verbundener Gesinnung sich entfalte, in der die Menschen es als ihre wesentliche Aufgabe ansehen, zusammenzustehen, damit niemand mehr hungere, damit jeder ein anständiges Heim habe, damit auch in notleidenden Ländern keine Epidemien mehr herrschen. Die Menschen würden versuchen, ihre Probleme als endliche Wesen gemeinsam zu lösen und die Existenz nicht nur länger, sondern auch schöner zu machen. Ja, ich gehe sogar so weit, zu denken, daß sich die Solidarität schließlich sogar auf die anderen Kreaturen ausdehnen könnte.«92

Welcher Art die Verbindung der Gesinnung mit der Theologie sein soll, bleibt offen. Schon die kantische Position, dass Religion durch Moral notwendig sei, bildete eine Verteidigungslinie, die unhaltbar war. Hält man sich an den Horkheimer der 1930er Jahre, kann »Verbindung mit Theologie« nur so viel bedeuten, dass wir den Gedanken an eine transzendente Macht, die gerecht ist und vom Tod zu erlösen vermag, nicht vergessen sollten. Sobald die utopischen Träume »in die bewusste gesellschaftliche Praxis übergehen«, wird es wieder unwesentlich werden, ob sich mehr als diese Erinnerung mit der moralischen Gesinnung verbindet.

Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37

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