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1.Betreten verboten!

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Timmy, der mit richtigen Namen eigentlich Tim Petersen heißt, genoss den herrlichen Tag. Mit freiem Oberkörper lag er auf dem Klettergerüst des Spielplatzes und aalte sich vergnügt in der Sonne herum. Sein bester Freund Ben kam wie immer zu spät, doch das war Tim von ihm gewohnt.

Wollte man sich mit Ben pünktlich treffen, so musste man den Termin eine halbe Stunde früher legen, als es geplant war. Somit stellte man sicher, dass Ben zur eigentlich gedachten Zeit pünktlich erschien. So einfach war das.

An diesem Tag hatten sich die Jungen jedoch nicht fest verabredet. Es hieß „so gegen zehn Uhr“. Da es nun aber schon halb elf war, konnte man jeden Augenblick mit Ben rechnen und genau so kam es dann auch.

Fröhlich pfeifend bog er um die Häuserecke von der Zuckerfabrik Nummer 9. Die Hände steckten lässig in seinen Hosentaschen. Mit seinem etwas entenartigen Gang schlenderte er schnurstracks auf den Spielplatz zu. „He, Tim! Wie schaut es aus?“, fragte er gut gelaunt. Tim, der sich immer noch gemütlich in der Sonne rekelte, hatte etwas Mühe damit, sich aufzurichten. Teils lag es an seiner Müdigkeit, teils wohl an dem kleinen Bauch, den er vor sich her trug. „He, Ben! Bei mir ist alles okay und bei dir? Was wollen wir heute machen?“

Verschmitzt lächelnd schaute Ben seinen Freund an. Er hatte für heute etwas besonderes geplant, doch davon wollte er noch nichts verraten. „Schauen wir einfach mal, was der Tag bringt!“, lautete seine knappe Antwort, dabei winkte er Tim zu sich herunter.

Nachdem sich Timmy wieder komplett angezogen hatte, sprang er vom Klettergerüst herab und betrachtete voller Neugier seinen Freund. Ben ließ sich nicht lange bitten, erhob seinen Zeigefinger in die Höhe und streckte seinen Arm geradeaus. Langsam kreiste er damit über das erste Gebäude der Zuckerfabrik, dann zum Zweiten und letztendlich sogar am Dritten vorbei. Als ein mächtiger, viereckiger Turm den Weg seiner Fingerspitze kreuzte, hielt er an und grinste verstohlen.


„Dort gehen wir heute rein!“, stellte er kurzerhand fest.

Tim fiel die Kinnlade herunter. Sie wollten heute in den verbotenen Turm der Fabrik gehen? Er konnte es nicht fassen.

Dazu muss man nun einige Dinge wissen: Der Turm gehörte zu einer alten Zuckerfabrik, in der die beiden mit ihren Familien wohnten. Er war das Vierte und hinterste Gebäude dieses riesigen Anwesens und schloss sich nahtlos an einer Seite an die drei Hauptgebäude an. Zusammen bildeten alle Häuser, samt dem Turm, aus der Luft betrachtet, ein übergroßes „U“.Die drei ersten länglichen Gebäude wurden für die unterschiedlichsten Sachen genutzt. In manchen Teilen wurde zum Beispiel ganz normal gewohnt, in anderen wiederum Autos repariert oder in einigen Räumen sogar Musik von irgendwelchen Gruppen gemacht. Es war eine bunte Mischung.

Das machte die Zuckerfabrikaner, so nannten sie sich selber, schon zu etwas Besonderem, weil hier einfach Dinge veranstaltet wurden die es sonst nirgends gab. Dadurch, das dort so viele verschiedene Menschen wohnten, passierten auch die komischsten Sachen. Ob nun plötzlich eine Rockband ein Konzert auf dem Spielplatz im Innenhof gab, gleich mit Bratwurst- und Bierverkauf, oder ein Mittelalterfest von einem anderen Bewohner veranstaltet wurde, ...hier passierte einfach alles. Auch, wenn man es gar nicht für möglich hielt.

Doch egal was hier auch angestellt wurde, es gab eine eiserne Regel und die galt für alle.

Niemand, aber auch wirklich niemand, durfte den alten Turm betreten! Die Erwachsenen sagten, dass er zu baufällig und viel zu gefährlich sei, um in ihn hinein zu gehen.

Timmy schluckte schwer und schaute zu Ben: „Du weißt schon, das es uns verboten wurde, den Turm zu betreten, oder?“ Ben nickte wissend, aber es war ihm egal. Ohne jede weitere Diskussion steuerte er direkt auf den mächtigen Turm zu.

Tim blieb noch eine Weile wie angewurzelt stehen, doch dann eilte er stumm seinen Freund hinterher.

Als sie ankamen, rüttelte Ben am Türknauf. Nichts tat sich. Die Tür war abgeschlossen. Während Tim erleichtert durchatmete und sich schon drehte, um zu gehen, sprang Ben an eine kleine Mauer, die genau am Turm endete und zog sich mühsam daran hoch. Gekonnt, wenn auch leicht schwankend, balancierte er zum Turm hinüber. Die Scheibe eines Fensters war dort eingeschlagen. Vorsichtig fasste er hindurch und öffnete das Fenster von innen. Schneller als man gucken konnte, kletterte er hindurch und Tim hörte nur noch ein lautes Krachen.

„Ben, ist alles in Ordnung? Ben? He, Ben, ob alles in Ordnung ist?“. Doch es gab keine Antwort.

Voller Sorge dachte Tim darüber nach, was er machen könnte. Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Nervös begann er an seinen Fingernägeln zu kauen. Immer wieder spuckte er hastig kleine Nagelstücke aus. Die Spannung stieg ins Unermessliche. „Ben? Ben? Ist alles okay?“, schrie Tim schon fast, als sich doch noch die Tür von innen her öffnete. „Pst..! Schrei nicht so, sonst hört uns noch jemand!“, herrschte ihn sein Freund unfreundlich an. „Oh Mann, ich dachte dir ist etwas passiert, weil du nicht geantwortet hast. Was hast du denn gemacht?“, fragte Tim völlig entnervt nach. Ben zog eine Augenbraue hoch: „Mir und etwas passieren? Das glaubst du doch selber nicht? Was soll mir schon passieren? Als ich rein geklettert bin, habe ich einen Stein von der Fensterbank gestoßen, das war alles! Und dann habe ich mich natürlich erst einmal umgesehen, du Angsthase!“. Ben schaute seinen Kumpel verächtlich an. Ihm war noch nie etwas passiert und somit konnte er die Sorgen von Tim überhaupt nicht verstehen. Mit einer höflichen Verbeugung und einem Lächeln im Gesicht bat er seinen Freund herein.

Der Turm hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich. Der Putz bröckelte schon in großen Stücken von den Wänden. Spinnweben zierten jede Ecke und es lag ein muffiger Geruch in der Luft. Durch die letzten verbliebenen Fensterscheiben konnte man kaum noch ins Freie blicken. Dicke Staubschichten hatten sich im Laufe der Jahre auf ihnen angesammelt. Ben kam nicht drum herum, seinen Namen hineinzuschreiben. Die Versuchung war einfach zu groß. In dicken Buchstaben schrieb er ihn auf das größte Fenster, welches er im Eingangsbereich fand.

Langsam tasteten sich die Jungen vorwärts, obwohl es draußen noch taghell war, konnte man drinnen kaum die Hand vor Augen sehen. Überall lauerten Stolperfallen. Holzbretter, Eisenstangen, ja sogar einzelne Reifen versperrten ihnen nur all zu oft den Weg. Als sie an einer eisernen Treppe ankamen, die nach oben führte, staunten sie nicht schlecht. Anders als es zu erwarten war, schien diese völlig Intakt zu sein. Wenn man sie genauer betrachtete wirkte sie fast wie neu, was den beiden Jungen schon etwas merkwürdig vorkam.

Ben stellte sich auf die erste Stufe und blickte hoch bis unters Dach. „Ein ganz schön weiter Weg!“, dachte er bei sich und atmete durch. Mutig setzte er den nächsten Schritt. Tim hingegen blieb erst einmal unten stehen, er wollte erst ganz sicher sein, dass die Treppe auch wirklich hielt.

Ben sprang im Spurt die nächsten Stufen hinauf, bis er auf der ersten Etage angekommen war. Auf dieser Ebene hüpfte er einige Male auf der Stelle und stampfte dabei so fest auf, wie er nur konnte. Die Treppe hielt.

Erleichtert pfiff er Timmy zu sich hinauf. Vor ihnen lag die erste Tür. Mit großer Erwartung drückten sie die Klinke herunter, doch sie blieb verschlossen. So sehr sie sich auch bemühten, es rührte sich nichts.

Ben rannte weiter den Turm hinauf, doch auf jeder Etage erwartete ihn das Gleiche. Jede Tür, auf die er traf, blieb ihnen versperrt.

Nun stand er ganz oben unter dem Dach und die letzte Tür lag vor ihm. Nur wenig außer Atem, blickte er hinunter zu Tim: „Los, komm hoch, hier ist noch eine Tür. Vielleicht geht die ja auf.“

Timmy sah das ganz anders: „Nee, nee, alle anderen waren ja auch verschlossen, ich laufe doch jetzt nicht bis zu dir hoch, um dann festzustellen, das sie auch abgeschlossen ist. Das kannst du schön alleine probieren, hörst du?“.

Doch Ben hörte nicht, denn als Timmy nach oben sah, war dieser verschwunden.

Dem Jungen schauderte es etwas und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Ben? Ben?“, rief er immer wieder leise und ging nur zögerlich die Stufen empor. Es war nichts zu hören, keine Antwort, kein Mucks.

Als Timmy auf der obersten Ebene ankam verharrte er vor Schreck. Die Tür, ...sie war offen.

Übervorsichtig schlich er zur ihr hin und spähte um die Ecke.

„Buh!“, machte es plötzlich und Timmy stürzte halb zu Boden, so sehr hatte er sich erschrocken. Vor ihm stand Ben, der sich versteckt hatte und lachte sich schlapp. „Du bist so ein Idiot!“, brach es aus Tim heraus: „Ich habe mich so verjagt, ich wäre beinahe die Treppe hinunter gefallen.“

Ben tat es zwar leid, jedoch lachte er immer noch, er fand seinen Scherz nur all zu gut. Wütend schubste Timmy ihn zur Seite und schaute sich das Zimmer an.

Hier lag der Staub noch höher als im ganzen Rest des Turmes, trotzdem war es irgendwie schön und gemütlich. Die Fenster waren hier besonders groß und ließen dadurch, trotz des Schmutzes, noch genügend Licht herein. Man konnte alles genau erkennen. In der Mitte des Raumes stand ein alter, aber sehr stabiler Schreibtisch. Dahinter befand sich der passende Bürostuhl dazu, auch wenn dieser von Motten zerfressen und völlig dreckig war. Links an der Wand befand sich ein Sofa und ein antiker Kleiderschrank, der jedoch leider leer war. Rechts baute sich die riesige Fensterfront auf, von der aus man das ganze Zuckerfabrikgelände überblicken konnte. Alte Teppiche lagen auf dem Fußboden herum. Früher waren sie sicherlich recht teuer gewesen, heute konnte man sie kaum noch als Putzlappen benutzen, so heruntergekommen wirkten sie.

Ben durchsuchte die Schubladen des Schreibtisches, fand aber, außer ein paar alten Büroklammern, nichts Aufregendes.

Tim ließ sich erst einmal aufs Sofa fallen, durch sein Gewicht entwich der Staub aus den Polstern. Hustend spuckte er vor sich hin. „Igitt, ist das eklig!“. Er hatte mittlerweile genug von diesem Turm. Erst hatte ihn Ben so sehr erschreckt, dass ihm sein Herz immer noch bis zum Hals schlug und nun atmetet er womöglich auch noch den Staub aus den letzten hundert Jahren ein. Nein, ihm gefiel es hier überhaupt nicht mehr.

Ben hingegen durchstöberte weiterhin das Zimmer. Ihn hatte das Schatzsuchfieber gepackt und er war sich sicher, dass er etwas Wertvolles finden könnte, wenn er nur lange genug danach suchen würde. Mit der allergrößten Sorgfalt und Vorsicht durchkämmte er den Raum. Den Kopf hielt er dabei immer nach unten gesenkt und suchte den Fußboden ab. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich voran. Auf einmal, kurz vor der Tür, blieb er stehen. Was war das? Befand sich dort nicht eine geheime Öffnung im Holzboden? Er kniete sich nieder: „Timmy! Komm mal her, ich glaube ich habe etwas gefunden.“

Tim Petersen lag gemütlich auf dem Sofa und hatte eigentlich gar keine Lust sich davon zu erheben. Schließlich hatte er gerade jede Menge Staub verschluckt, doch seine Neugier ließ ihm keine Ruhe. Ächzend stemmte er sich aus den tiefen Polstern empor. Kurz darauf stand er, die Hände auf den Knien gestützt, hinter seinem Freund. Beide starrten konzentriert auf die kleinen Risse, die sich dort im Boden abzeichneten.


„BUH!“, machte es erneut, und beide fielen vor

Schreck zu Boden.

Erst jetzt bemerkten sie Kiki und Vanessa in der Tür, die sich vor Lachen kaum noch halten

konnten.

„Oh, ihr blöden Gänse!“, rutschte es aus Ben grimmig heraus: „Wie habt ihr uns denn hier gefunden?“.

Kiki Meier und Vanessa Schlegel, wie sie mit vollen Namen hießen, waren beste Freundinnen. Sie wohnten ebenfalls in der alten Zuckerfabrik, jedoch nicht wie Tim und Ben in Haus Nummer 7, sondern auf der anderen Seite, in Nummer 9. Gemeinsam spielten die Kinder oft auf dem Spielplatz, wobei es alleine aus natürlichen Gründen, weil es eben Jungen und Mädchen sind, häufig zu kleinen Streitigkeiten kam. Dies bedeutete jedoch aber nicht, dass sie sich nicht mochten. Schließlich waren sie allesamt Zuckerfabrikanerkinder und das bedeutete, dass man immer zusammenhalten musste, egal was auch geschah.

Kiki konnte sich ihr Grinsen nicht verkneifen: „Na, haben die großen, starken Jungs etwa Angst gehabt?“.

Ben rappelte sich zornig auf und klopfte sich den Staub aus der Hose: „Nein, hatten wir nicht, wir haben nur den Fußboden kontrolliert und plötzlich hat dieser nach uns geschnappt!“. Nun lachten alle Kinder gemeinsam, weil diese Antwort nun wirklich zu blöd war.

Vanessa, die kurz nur Vanni gerufen wurde, half Tim auf die Beine. Der Arme wurde ja nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag erschreckt, damit war seine Geduld für diese Art von Witzen am Ende angelangt. Dies war nur allzu verständlich. Erneut sackte er auf dem Sofa nieder und musste abermals etliche Gramm Staub dabei schlucken. Seiner Laune tat er damit keinen Gefallen.

„Wie habt ihr uns denn nun gefunden und woher wusstet ihr, dass wir im verbotenen Turm sind?“, fragte Ben nochmals nach. Vanni zuckte mit den Schultern und schaute zu Kiki hinüber. „Das war eine innere Eingebung,“ fing diese auf einmal düster an zu erzählen. Den beiden Jungen stockte der Atem. „Mein ganzer Körper hat gezittert und eine unsichtbare Hand hat mich direkt hierher gezogen.“

Ben und Timmy konnten es kaum glauben, verwundert schauten sie sich gegenseitig an. Fast wären sie darauf herein gefallen, doch dann fielen ihnen die Gesichter der Mädchen auf, die sich das Lachen nur noch unter höchster Anstrengung verkneifen konnten. „Hahahaha!“, brach es bei den Mädchen heraus: „Ihr seid doch die zwei größten Deppen, die wir kennen!“. Ratlos schauten sich die Jungen an und zuckten nun ihrerseits mit den Schultern. „Du hast doch deinen Namen in das Fenster am Eingang geschrieben, somit haben wir uns schon denken können, dass ihr hier rein gegangen seid.“, löste Kiki das Geheimnis auf.

Ben und Tim kamen sich nun wirklich wie die größten Idioten vor, darauf hätten sie auch selber kommen können. Jetzt waren sie schon das zweite Mal an diesem Tag von ihren Freundinnen reingelegt worden. Das roch nach Rache, doch diese wollten sie sich für später aufheben.

Zu viert durchsuchten sie nun den Raum unter dem Dach des Turmes. Doch etwas Aufregendes oder Sonderbares blieb ihnen verborgen. Selbst die Spur im Boden stellte sich nur als ganz gewöhnliche Altersrisse des Holzes heraus. Abgeschlagen ließen sie sich auf den Möbeln nieder und überlegten, was sie mit diesem Raum in Zukunft anstellen konnten. Langsam wurde es dunkel.

Die Zuckerfabrikaner

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