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1. Kapitel
ОглавлениеEs ist Nacht, eine sehr dunkle und kalte Neumondnacht. Wirre Träume quälen mich, hetzen mich splitternackt durch dunkle Wälder, einen mir unbekannten Verfolger im Nacken, verletzen meine Haut am Gestrüpp, an dem ich vorbeistreife. Ich laufe, renne, fliehe, stolpere. Die Bäume ringsherum beobachten mich und setzen alles daran, mich irgendwie aufzuhalten, versuchen mich zu Fall zu bringen, aber ich laufe weiter, immer weiter, so schnell ich kann. Ich stürze über eine Baumwurzel und falle in eine lehmige Pfütze, die sich plötzlich in einen tiefen See verwandelt und in dem ich zu ertrinken drohe. Ich sehe mich um, doch das Ufer ist unerreichbar weit weg. Langsam versinke ich im eiskalten Wasser, aber ich strample mich wieder und wieder nach oben an die Luft. Doch irgendetwas packt mein Bein und zieht mich erneut in die Tiefe. Ich wehre mich, ringe nach Atem, während ich mit wildem Paddeln und Schlagen versuche, mich an der Oberfläche zu halten. Mein Bein beginnt zu schmerzen, immer stärker und stärker, bis es nicht mehr kalt ist, sondern wie Feuer brennt.
Ich öffne die Augen. Um mich herum erkenne ich verschwommen einige Dinge, wie einen Stuhl und ein Waschbecken, das an der Wand hängt. Jedoch ist mir alles hier fremd. Ein schwaches Licht fällt durch ein Fenster herein, aber die Lamellen einer Jalousie zerhacken den wenigen Schein in unzählige Streifen, deren Licht- und Schattenspiele mir Kopfschmerzen bereiten.
Mein Alptraum ist Gott sei Dank vorbei, mein Bein schmerzt indes aber immer noch. Ich versuche es zu bewegen, aber es funktioniert nicht. Das andere Bein reagiert auf meine Befehle, allerdings nur widerwillig und nach ein paar Zentimetern streikt es. Meine Arme funktionieren ebenso träge und mein Kopf dröhnt wie ein Flugzeugpropeller, so dass sich meine Augen von ganz allein wieder schließen. Erst nach einigen Minuten kann ich mich gegen die Kopfschmerzen zur Wehr setzen und meine Augenlider wieder öffnen.
Jemand kommt zur Tür herein. Den Umrissen nach zu urteilen, ist es eine Frau. Sie kommt auf mein Bett zu, hält kurz inne und geht zurück zur Tür. „Herr Doktor, er ist aufgewacht!“ ruft sie nach draußen. Dann kommt sie zurück, nimmt meine linke Hand und misst meinen Puls. „Hallo Herr Gruber!“ sagt sie mit ruhiger Stimme. „Haben Sie Schmerzen?“
Ich will ihr antworten, aber es gelingt mir nicht. Doch ich sammele all meine spärlichen Kräfte zusammen und jetzt schaffe ich es doch irgendwie: „Ja, mein Bein brennt. Wo bin ich? Was ist los?“
„Der Doktor kommt gleich. Ich erhöhe Ihre Dosis etwas, gegen die Schmerzen.“ Die Frau geht zu einer hohen Metallstange, die neben mir steht und tut dort etwas. Jetzt begreife ich: Ich hänge am Tropf. In mir macht sich ein leichtes Unwohlsein breit, aber in diesem Moment öffnet sich die Tür erneut und ein Mann und eine weitere Frau treten herein.
„Hallo Herr Gruber, ich bin Doktor Jobst. Wissen Sie, wo sie sind?“
„Nein!“
„Erinnern Sie sich, was passiert ist?“ Der Doktor spricht laut, fast unangenehm laut.
„Nein!“
Der Doktor schreibt etwas auf einen Block, oder ein Stück Papier, was auf einer Art Brett festgeklemmt ist.
„Was ist mit mir? Ich bin doch hier im Krankenhaus, oder?“
„Ja. Ihre Beine sind verletzt, aber wir kriegen Sie wieder hin. Wenn Ihnen das Atmen schwer fällt, machen Sie sich keine Gedanken. Das wird bald wieder besser. Ich komme später noch einmal zu Ihnen. Jetzt ruhen Sie sich aus und versuchen sich zu entspannen!“ Der Doktor wartete meine Antwort gar nicht erst ab und verschwindet aus dem Zimmer, kurze Zeit später auch die beiden Frauen.
Die erhöhte Schmerzmitteldosis beginnt zu wirken. Es wird alles auch etwas klarer. Jetzt bemerke ich, dass mir das Atmen tatsächlich schwer fällt. Aber warum nur? Ich versuche mich zu erinnern, aber das Letzte, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich in den Skiurlaub fahren wollte. Hatte ich etwa einen Autounfall oder so etwas? Stimmt, den hatte ich tatsächlich. Aber der Unfall war halb so wild. Was ist nur mit mir geschehen?
Verkrampft versuche ich mich zu erinnern, aber vergebens: Nach meinem Unfall ist nichts mehr da. Ich hatte mich im Schneetreiben verirrt, bin irgendwie von der Fahrbahn gerutscht und im Straßengraben liegen geblieben. Und dann? Ein schwarzes Erinnerungsloch. Ich weiß nicht mal, wo ich genau bin: In der Schweiz, oder noch in Deutschland.
Ich starre an die weiße Zimmerdecke, betrachte die Linien der Putzrisse, die sich kreuz und quer durch den schon in die Jahre gekommenen Farbanstrich ziehen. Minutenlang verfolge ich den Zick-Zack-Kurs jeder Linie von einem Ende zum anderen, doch das sinnlose Grübeln ermüdet mich. Ich möchte schlafen, aber meine unzähligen Gedankenspiele lassen es nicht zu.
Dann schwirren doch ein paar verschwommene Bildfetzen durch meinen Kopf. Da war eine tote Ziege und eine verletzte Frau und starke Hitze oder Feuer oder so etwas ähnliches. Ich versuche mich an irgendeinem Bild gedanklich festzukrallen und mich zu konzentrieren.
Feuer, ja genau: Es hatte gebrannt. Da waren viele Menschen, Schreie und … Oh Gott! Jetzt fällt mir alles schlagartig ein. Das Dorf, die brennende Scheune, Anna! Oh Gott Anna, ist sie am Leben?
Mein Körper krampft sich unwillkürlich zusammen, mein Herz beginnt zu rasen und ich zittere immer stärker, so sehr, dass das Bett anfängt zu klappern. Ich rufe nach Anna. Nein: Ich schreie in Panik immer wieder ihren Namen, während mein Bett durch den Schüttelkrampf meines Körpers beginnt, sich langsam Stück für Stück vorwärts durch den Raum zu bewegen.
Die beiden Schwestern und auch der Arzt stürzen in mein Zimmer hinein und halten mich fest, während eine der Schwestern mir etwas über den Zugang in meinem Handgelenk injiziert. Das Mittel wirkt, mein Krampf lässt nach, aber ich atme immer noch sehr schwer. Nach ein paar Minuten hat sich mein Zustand dann wieder stabilisiert.
„Herr Gruber? Geht es Ihnen besser?“ fragt, oder besser schreit der Arzt.
Ich nicke nur kurz.
„Können Sie mir sagen, was passiert ist?“ Der Doktor kontrolliert die Dosis am Tropf.
„Ich kann mich wieder an alles erinnern. Da war dieses Feuer bei dem ...“
„Schon gut, Herr Gruber, später erzählen Sie mir alles in Ruhe. Jetzt entspannen Sie sich erst einmal. Ich lasse Sie jetzt auch nicht mehr allein hier im Zimmer. Schwester Denise bleibt bei Ihnen.“ Eine der Frauen nickt kurz zur Bestätigung. „Bleiben Sie ruhig. Sie sind jetzt in Sicherheit und Sie werden wieder gesund. Und eine dauerhafte Amnesie ist nun auch kein Thema mehr. Gut, Herr Gruber?“ Der Arzt sieht mir eindringlich ins Gesicht.
„Gut!“
„Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es Schwester Denise. Ich komme bald wieder und sehe nach Ihnen. Auch die Polizei will dann mit Ihnen sprechen. Aber, wie gesagt: Entspannen Sie sich oder versuchen Sie zu schlafen, Ja?“
„Ja!“ mehr als das bekomme ich jetzt so wie so nicht heraus.
Der Doktor und die andere Krankenschwester rauschen wieder nach draußen. Schwester Denise holt sich einen Stuhl heran und setzt sich direkt neben mein Bett. Sie kontrolliert nochmals meinen Puls, doch alles scheint gut zu sein.
Sie lächelt mich an: „Keine Sorge, Herr Gruber, bald ist der ganze Spuk vorüber und Sie haben das hier alles schon längst vergessen.“ Schwester Denise ist vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig, also etwa mein Alter, aber sie versprüht in Ihrem Auftreten einen jugendlichen Charme und auch eine Herzlichkeit, dass man Ihr selbst diese Schönwetter-Trost-Floskel als vollkommen ernst gemeint abnimmt. So lächle ich einfach nur zurück. „Der Doktor hat recht: Schlafen Sie jetzt ein wenig. Ich bleibe auch ganz bestimmt hier sitzen, versprochen!“
„Danke, Schwester Denise!“ stammele ich langsam. „Was ist mit meinen Beinen passiert?“
„Leider darf ich Ihnen keine genaue Auskunft darüber geben. Das darf nur der Arzt.“ Denise sieht mich ein paar Sekunden an und dann siegt doch das Mitleid über das Pflichtbewusstsein: Sie geht zum Fußende meines Betts und nimmt die Krankenkarte aus der Halterung. Ein kurzer Blick, ein Blättern und Denise scheint im Bilde zu sein. Sie steckt die Karte zurück und setzt eine besorgte Miene auf. Mein Herz schlägt unweigerlich schneller.
„Ihre beiden Beine haben Verbrennungen dritten Grades und Ihr linkes Schienbein ist kurz oberhalb des Knöchels angebrochen. Am rechten Fuß haben Sie sich ein Außenband gerissen und eine leichte Rauchvergiftung haben Sie auch erlitten.“
„Oh Scheiße!“ Ich weiß, dass man in Gegenwart von Damen keine Schimpfwörter benutzen sollte, aber in diesem Fall war es Erste, was mir eingefallen ist.
Denise schweigt.
„Wird das wieder?“
„Ich bin kein Arzt, aber ich kann so viel sagen, dass der Bruch wieder verheilen wird und das mit dem Außenband ist auch halb so wild. Die Rauchvergiftung ist nicht schlimm, aber vermutlich werden Sie Narben an den Beinen behalten. Die Verbrennungen sind an manchen Stellen relativ schwer.“
„Oh Mann!“ Wie konnte mir nur so etwas passieren?
„Ich weiß, dass dies schwierig für Sie sein muss und dass Sie sich jetzt Sorgen machen, aber trösten Sie sich: Es gibt Schlimmeres.“
„Das sagen Sie so einfach.“
„Na ja, wenn Sie jeden Tag sehen müssten, was ich sehe, würden Sie auch so denken. Und jetzt ruhen Sie sich aus. Schlafen Sie erst mal richtig und später besprechen Sie alles mit dem Doktor.“
„Schlafen kann ich jetzt eh nicht. Aber da fällt mir noch etwas ein: Wo bin ich hier eigentlich?“
„Ach so! Sie wissen noch gar nicht, wo man Sie hingebracht hat: Ins städtische Krankenhaus von Keitlingen, kurz vor der Schweizer Grenze.
„Gut, Danke!“
Denise lächelt nur.
„Die Polizei wollte doch noch mit mir sprechen. Von mir aus können wir loslegen. Ich muss denen auch noch etwas wichtiges sagen.“
„Aber Sie brauchen jetzt vor allem Ruhe.“
„Es ist wichtig, sehr wichtig. Das Leben einer Frau hängt vielleicht davon ab! Und sprechen tut mir auch gut, merke ich!“
Denise atmet tief ein und aus. Dann steht sie auf: „Na schön, ich frage den Doktor!“
„Danke. Es ist wichtig.“ rufe ich ihr hinterher, als sie schon halb zur Tür hinaus ist.
Nur etwa zwei Minuten später kommt der Doktor zurück in mein Zimmer. Ihm folgt ein älterer Herr in einem grauen, etwas altmodischen Anzug.
„Na schön, Herr Gruber. Dies hier ist Inspektor Mittenhuber. Er ist von der Polizei und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Haben sie Anna gefunden?“ frage ich drauf los, noch während der Inspektor neben meinem Bett Platz nimmt.
„Brauchen Sie mich noch?“ fragt der Doktor.
„Nein, danke. Ich rufe Sie dann schon.“ sagt Inspektor Mittenhuber mit ruhiger, abgeklärter Stimme und wendet sich dann mir zu.
„Hallo Herr Gruber. Sie meinen sicher Frau Anna Burleitner, nicht wahr?“
„Ja genau! Haben Sie sie gefunden? Geht es Ihr gut?“
„Ja, wir haben sie gefunden. Sie ist hier im Krankenhaus, auf einer anderen Station.“
„Ich will zu ihr!“ schieße ich drauf los, denn mein Herz pocht jetzt bereits doppelt so schnell, wie normal.
„Das geht nicht, Herr Gruber. Erst einmal sind Sie körperlich noch nicht in der Lage dazu und dann befindet sich Frau Burleitner noch nicht in der richtigen Verfassung.“
„Oh Gott, was ist mit ihr? Sie wird doch durchkommen? Hat sie schwere Verletzungen?“
„Das kann Ihnen nur der Doktor sagen und auch der wird das nicht tun, denn er darf nicht einfach so Auskunft über Patienten geben. Sie sind doch nicht mit ihr verwand, oder?“
„Nein, aber …“
„Sehen Sie: Sie müssen sich gedulden, auch wenn es schwer fällt.“
Ich atme tief durch und versuche meinen Puls zu beruhigen.
„Also gut, warum erzählen Sie mir nicht, was eigentlich passiert ist?“
„Na da war dieses Feuer und …“
„Von Anfang an!“ unterbricht mich der Inspektor.
„Von Anfang an? Alles? Dass kann aber eine Weile dauern.“
„Ich habe fast alle anderen Fälle an meine Kollegen abgegeben. Ich bearbeite also hauptsächlich diese Sache hier, Herr Gruber.“
„Aber sagten Sie nicht, dass Sie mir ein paar Fragen stellen wollten?“
Der Inspektor lächelt: „Ja, stimmt schon. Und ich werde auch noch genug davon haben. Aber wenn Sie es unbedingt wollen, fange ich gleich an. Wir haben Ihren Ausweis gefunden. Sie heißen Tobias Gruber, Wohnhaft in Köln, Gürzenichstraße 3, stimmt das?“
„Ja, das stimmt.“
„Ich kenne Köln ein wenig, wo ist das denn genau?“
„Ziemlich im Zentrum, in der Nähe vom Heumarkt.“
„Gut, und was machen Sie beruflich?“
„Ich bin freier Reporter, schreibe also für verschiedene Zeitungen.“
„Und worüber schreiben Sie dann so?“
„Na über dies und das, von Klatsch bis Politik. Ich suche mir interessante Themen oder bekomme einen Auftrag von einer Zeitung, mal so mal so.“
Der Inspektor runzelt die Stirn: „Und davon kann man leben?“
„Na ja, ich kann mich eigentlich nicht beklagen.“
„Schön. Also dann erzählen Sie mal, haben Sie keine Angst und lassen Sie nichts weg.“
„Na gut. Ich habe ja sonst auch nichts zu tun.“ Ich atme noch einmal tief ein und aus, um mir die nötige Energie zu verschaffen für das, was vor mir liegt. „Gut, von Anfang an …“