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3. Kapitel

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Der nächste Morgen beginnt besser. Ich fühle mich kräftiger, aber nicht minder aufgewühlt. Geschlafen habe ich auch ganz gut, auch wenn mich abermals Alpträume plagten. Auf die Toilette musste ich auch nicht, aber nur deswegen, weil sie mir bei der Einlieferung einen Katheter gelegt haben. Mein Frühstück, das mir ein Pfleger hastig hereinbringt, besteht aus grauem Brot mit recht geschmacklos aussehendem Aufschnitt. Es folgen einige Untersuchungen, gefolgt vom Wechseln des Urinbehälters. Und da war noch die schnell vorbeieilende und aus aufmunternden Floskeln bestehende Chefarztvisite, die so schnell vorbei war, dass ich sie kaum bemerkt habe.

Dann bin ich wieder allein und starre auf die weißen Zimmerwände, die im kalten Neonlicht noch lebloser aussehen, als sie ohnehin schon sind. Aber sie eignen sich sehr gut, um Annas Bild in meiner Vorstellung darauf zu projizieren. Ihr langes Haar hat sie wieder zu einem Zopf geflochten. Sie trägt ihre weiße Bluse und ihren braunen Rock, über den sie ihre Kellnerschürze angelegt hat. Ihre großen, dunkeln Augen durchdringen mich mit ihrem Blick und das Lächeln ihrer sanften Lippen lässt mein Herz aufblühen. Egal was sie tut, auch wenn sie nur die Treppe hinauf geht oder ein Glas Bier einschenkt: Es ist reine Magie.

Aber wie konnte sie es nur in einer solchen Umgebung aushalten? Dieses Dorf war so lieblos und ohne Seele, Anna passte da überhaupt nicht rein. Sie kam mir immer vor wie ein Singvogel in einem viel zu engen, alten, rostigen Käfig, den man verschlossen und in eine dunkle Raumecke gestellt hat. Allein wenn ich an ihr Haus und ihre Wirtschaft denke, bekomme ich regelrecht Schüttelfrost: Altes Fachwerk, kleine Fenster, knarrende Bodendielen, die Außenwände voller Schmutz und innen eine Einrichtung wie vor hundert Jahren. Sie tut mir einfach nur leid. Und jetzt liegt sie hier im Krankenhaus.

So fliegen meine Gedanken wieder zu ihr, wo auch immer sie hier im Gebäude sein mag. Vielleicht ja direkt im nächsten Zimmer? Egal: Allein dass sie hier ist, gibt mir irgendwie Kraft.

Es klopft. Der Inspektor tritt wieder ins Zimmer. „Guten Tag Herr Gruber. Wie geht es Ihnen heute?“

„Guten Morgen. Na ja, die Schmerzen haben sich noch nicht gebessert, Aber ich fühle mich etwas kräftiger als gestern.“

„Na, das ist doch schon etwas. Sind Sie bereit, unser Gespräch fortzusetzen?“

„Ja, Herr Inspektor, wir können weitermachen, wenn Sie mögen.“

„Gut.“ Der Inspektor holt sich einen Stuhl und setzt sich neben mein Bett. Dann nimmt er seinen Notizblock zur Hand und blättert ein wenig darin rum. „Sie erzählten mir beim letzten Mal, wie Sie Ihren ausgebrannten VW-Bus gefunden haben. Dann sind Sie zurück ins Dorf. Und weiter?“

„Ich bin wieder zur Schänke. Ich wollte Anna zwar nicht aus dem Bett holen, es war ja noch sehr früh, aber mir blieb keine andere Wahl. Also hab’ ich geklingelt, ein paar Mal. Dann hat sie endlich aufgemacht und mich hereingelassen.“

„War sie nicht wütend auf Sie?“

„Na, nennen wir es mal ‚leicht sauer’, aber sie hatte vollstes Verständnis, nachdem ich ihr erzählt hatte, was passiert war. Wir sind rauf in ihre Wohnung und sie hat erst einmal Frühstück für uns gemacht. Ihre Einrichtung sah übrigens aus, als wäre sie von ihren Großeltern geerbt. Alter Bauernstil, wie aus dem Museum. Es passte überhaupt nicht zu ihr. Mit ihren offenen Haaren und ihrem Morgenmantel sah sie eigentlich aus, wie eine moderne Frau aus der Großstadt.“

„Sie lieben sie, nicht wahr?“

Mein Herz beginnt schlagartig zu rasen und meine Atemzüge werden deutlich intensiver, aber ich reiße mich zusammen: „Ja, und ich glaube, an diesem Morgen war’s um mich geschehen.“

„Haben Sie es ihr gesagt?“

„Nein, noch nicht. Das heißt. Nicht direkt. Aber dazu komme ich noch. Zunächst habe ich sie gefragt, ob sie ein Auto hätte und mich zur nächsten Stadt bringen könne. Aber Anna schüttelte nur den Kopf. Sie sagte: ‚Nein, hier haben nicht viele Leute ein Auto. Die meisten hier brauchen auch gar keins. Sie verlassen das Dorf sowieso nie.’

‚Und Deine Waren? Woher bekommst Du die?’ Ich war einfach neugierig.

‚Ein Bauer aus dem Dorf hat einen kleinen LKW. Der besorgt mir alles und auch die Waren für den keinen Laden, drüben auf der anderen Seite des Platzes.’

‚Kann der Mann mich nicht in die nächste Stadt fahren?’

‚Nein, er wird Dir nicht helfen. Außer mir, wird Dir hier im Dorf niemand helfen.’ Anna klang kalt und vollkommen ernst, so dass mir regelrecht ein Schauer über den Rücken lief.“

„Hat Sie Ihnen erklärt weshalb nicht?“

„Nein, Herr Inspektor. Mir war aber eigentlich schon klar, dass ich im Dorf nicht besonders willkommen war.“

„Und was haben Sie dann gemacht?“

„Ich war ziemlich ärgerlich wegen dieser seltsamen Sorte Mensch, auf die ich da getroffen war. Also habe ich mich höflich verabschiedet und bin auf eigene Faust los. Meine Sachen habe ich erst einmal bei Anna gelassen. Ich bin zurück zur Straße gegangen und habe mich dann auf der anderen Seite umgesehen. Vielleicht gab es da noch ein anderes Dorf, vielleicht sogar eines mit Telefon. Und tatsächlich: Gar nicht weit, vielleicht einen knappen Kilometer hinter der Straße, lag noch ein Dorf. Es hieß Feilnberg, sah aber genauso armselig aus, wie Klamm.“

Der Inspektor runzelt die Stirn, sagt aber nichts. Wahrscheinlich mag er es nicht, wenn man die Dörfer in seiner Heimat als ‚armselig‘ bezeichnet. Aber ich erzähle ja nur, wie ich das Ganze empfunden habe.

„Aber irgendwie war Feilnberg noch ein wenig grusliger als Klamm. Hier war niemand, aber wirklich niemand zu sehen. Das gesamte Dorf sah wie verlassen aus. Aber ich bin trotzdem erst einmal weitergegangen und auch hier gab es einen zentralen Platz mit Schänke. Das war natürlich meine erste Anlaufstelle. Aber es war ja noch sehr früh und so stand ich vor verschlossenen Türen. Als ich mich umdrehte und wieder gehen wollte, standen plötzlich zwei Männer vor mir: Einer im Arbeitsanzug mit Schiebermütze und ein anderer, der so groß war wie ein Schrank. An seine Kleidung kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, dass er stank wie ein Schweinestall. Vermutlich kam er da auch gerade her.“

„Haben die Sie bedroht?“

„Ja. Der kleinere von beiden, der mit der Mütze, grunzte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Ich hab’ nur mit den Schultern gezuckt und den Kleiderschrank fragend angesehen. Der schrie dann so etwas wie ‚Hau ab, aber schnell!’, packte mich am Kragen, zog mich von der Tür weg und ich landete mit Schwung im Schnee.“

„Haben Sie sich zur Wehr gesetzt?“

„Nein, ich bin doch nicht wahnsinnig. Ich bin aufgestanden und schnell weggegangen. Die Typen haben mich in einigem Abstand noch bis zur Dorfgrenze hin verfolgt.“

„Wie ich Ihnen sagte: Für die sind Sie ein Außerirdischer.“

„Sie werden noch sehen, was dahinter steckt, glauben Sie mir, Herr Inspektor.“

„Gut, dann mal weiter!“

„Ich bin schnellstens zurück nach Klamm und zu Annas Wirtschaft gelaufen. Inzwischen waren aber schon einige Leute auf der Straße unterwegs und ich wollte nicht wieder irgendwelche Unannehmlichkeiten mit aggressiven Dorfbewohnern haben. Also hab’ ich mich mehr ins Dorf geschlichen.“

„Und wie das?“

„Hinterm Heuwagen versteckt, oder hinter Hausecken, bis die Luft rein war. Ein paar Leute werden mich schon gesehen haben, aber egal: Ich bin da angekommen, wo ich hinwollte. Anna hatte inzwischen geöffnet, aber es war noch kein Gast da. Als ich hereinkam, sah mich Anna total verschreckt an und fragte gleich ganz aufgeregt: ‚Bist Du auf der anderen Straßenseite gewesen, in Feilnberg?’

‚Ja, aber da gibt es vielleicht komische Typen. Die hätten mich fast verprügelt.’

Anna ist total zusammengezuckt: ‚Tobias, geh nie wieder in das Dorf. Nie wieder, hörst Du?’

‚Aber warum …’

Anna unterbrach mich: ‚Das geht nicht. Da gehen seltsame Dinge vor sich. Tue es mir zu Liebe nicht, bitte.’

Da hatte ich keine andere Wahl, als ‚Ja’ zu sagen. Aber wie Sie ja bereits wissen, bin ich Reporter und immer auf der Suche nach einer Story. Mir war eigentlich schon klar, dass ich trotzdem versuchen werde, rauszufinden, welche ‚seltsamen‘ Dinge da so vor sich gehen. Und natürlich habe ich versucht, Anna auszuquetschen. Leider sind in diesem Moment zwei Männer hereingekommen. Ich wollte jedem Streit aus dem Weg gehen und bin schnell hinauf in das Gästezimmer gegangen. Da habe ich mich dann sofort auf die Lauer gelegt und gelauscht.“

„Und was gab es zu hören? Konnten Sie denn etwas verstehen?“

„Nein, denn es ging viel heftiger zu, als am Vorabend. Ich glaube, es waren auch noch weitere Männer hinzugekommen. Alle haben sich angeschrien und auch Anna hat lautstark dagegengehalten. Manchmal hatte ich richtig Angst um sie.“

„Sie hätten nach unten gehen können, die Situation aufklären und zusichern können, dass Sie das Dorf schnellstmöglich verlassen.“

„Ja, stimmt Herr Inspektor. Aber ich war zu neugierig und vielleicht auch zu ängstlich. Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, nach unten zu gehen, klar zu sagen was Sache ist und gut. Aber hinterher ist man halt immer schlauer.“

„Sie haben also einfach abgewartet und zugehört.“

„Ja, muss ich zu meiner tiefen Schande gestehen. Ich habe wieder nicht so richtig viel verstanden, aber es ging wohl einmal mehr um meine Anwesenheit. Als die Männer dann weg waren, das war schon am Nachmittag, so gegen vier, bin ich runter und habe Anna ganz direkt und ohne um den heißen Brei herumzureden gefragt: ‚Was haben die Typen gegen mich und warum setzen die Dich so dermaßen unter Druck?’

Anna sah mich nur mit großen Augen an, als ob sie in meinem Gesicht etwas Bestimmtes suchte. Dann wandte sie sich schnell ab und verschwand hinter ihrem Tresen. Ich hatte die Nase voll vom Versteckspiel und bin ihr hinterher. ‚Du musst hier verschwinden.’ sagte Sie plötzlich. ‚Am besten sofort. Bis zur nächsten Stadt bist Du zu Fuß mit Sicherheit acht oder vielleicht sogar neun Stunden unterwegs, aber glaub’ mir: Es ist besser so. Ich gebe Dir Verpflegung mit, dann schaffst Du das schon. Hier im Dorf gibt es Dinge, die Dich einfach nichts angehen.‘

‚Was für Dinge? Und für wen ist es besser, dass ich verschwinde: Für mich, für Dich oder für diese Grunzbauern?’

‚Geh’ einfach!’ Anna sah nach unten und begann damit, ein paar Gläser abzuspülen. Ich wollte keinen Streit anzetteln. Anna hatte ja schon genug Ärger am Hals. Also bin ich rauf, hab’ meine Sachen geschnappt, bin die Treppe wieder runter und wollte geradewegs zur Tür raus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aber Anna hielt mich auf. Sie gab mir einen Beutel mit ein paar belegten Broten und einer Flasche Wasser. Mehr konnte sie wohl auf die Schnelle hin nicht machen. Ich nahm den Beutel und wir sahen uns für ein paar Sekunden tief in die Augen. Ich sage Ihnen: Dieser Moment war magisch. Ihr Blick hat mich regelrecht aus der Zeit katapultiert. Ich schwöre Ihnen, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war. Ich hatte alles um mich herum ausgeblendet. Ich sah nur noch das Funkeln in ihren Augen. Aber ich wusste, ich musste gehen. Also drehte ich mich einfach um und ging hinaus in die Kälte.“

„Mann, da hat es Sie ja ganz schön erwischt. Aber war der Moment für Anna denn genauso magisch?“

„Ich denke schon. Wir haben nie mehr über diesen Nachmittag gesprochen, aber so, wie sich das Ganze entwickelt hat, gehe ich mal schwer davon aus.“

„Gut. Aber wo sind Sie dann hingegangen?“ Der Inspektor runzelt die Stirn.

„Ich hatte größere Teile meiner Notausrüstung retten können: Ein kleines Zelt und Gott sei Dank einen kleinen Gasbrenner. Die habe ich immer dabei, wenn ich in die Berge fahre. Man weiß ja nie! Meinen Schlafsack hatte ich so wie so schon mitgenommen, noch bevor die meinen Wagen angezündet haben.“

„Mutmaßlich!“

„Ach kommen Sie, Herr Inspektor, von allein wird der Wagen kein Feuer gefangen haben, oder?“

Der Inspektor schweigt, sieht nicht einmal von seinem Notizblock auf.

„Ich bin dann zum nah gelegenen Wald gelaufen und hab da an einer recht versteckten Stelle im Unterholz mein Lager aufgeschlagen. Das Wetter wurde zwar schon wieder deutlich schlechter, aber das war mir egal. Hier ging etwas Seltsames vor sich und natürlich hab’ ich auch eine gute Story hinter dem Ganzen vermutet.“

„Und da haben Sie freiwillig bei minus zehn, minus fünfzehn Grad im Wald übernachtet?“

„Na ja, als Reporter nimmt man für eine gute Story manchmal so einiges auf sich. In Ihrem Beruf gibt es sicherlich auch die eine oder andere harte Situation, oder nicht?“

Der Inspektor lacht kurz auf „Ja, stimmt schon. Aber was ließ Sie vermuten, dass da wirklich etwas nicht stimmte? Ich an Ihrer Stelle hätte erst einmal vermutet, dass Anna Sie einfach nur loswerden und Ihnen mit der Geschichte von ‚seltsamen‘ Dingen nur Angst einjagen wollte. Wissen Sie: Die Leute in den Dörfern haben halt eine gewisse Ablehnung gegen alles, was neu ist und vor allem gegen alles, was aus der Großstadt kommt. Sie lieben ihr Leben, so wie es ist und allem, was dies aus dem Gleichgewicht bringen könnte, wird erst einmal mit Skepsis und manchmal auch mit Aggressivität begegnet. Das darf man aber alles nicht so ernst nehmen. Wenn Sie weg sind, ist für die Leute im Dorf wieder alles so, wie es sein sollte.“

„Nicht so ernst nehmen? Herr Inspektor, die hätten mich in Feilnberg fast verprügelt, nur weil ich da aufgetaucht bin. Das kann man schon in die Kategorie ‚seltsame Dinge‘ einordnen, denke ich. Und wenn Anna sagt, dass es hier Dinge gibt, die mich nichts angehen, dann wird sie mich nicht angelogen haben.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Und dass man Sie fast verprügelt hat: So etwas kommt leider vor, öfter als Sie vielleicht glauben!“ Der Inspektor macht eine kurze Pause und sieht mir direkt und bestimmt in die Augen. Nach ein paar Sekunden fährt er aber fort: „Also gut, Sie haben im Wald übernachtet.“

„Ja, es war zwar noch nicht so spät, aber schon stockdunkel. Also bin ich los in Richtung Feilnberg. Ich wollte einfach mal sehen, was da los war.“

„Das war aber gefährlich. Wenn Sie sich nachts ins Dorf schleichen, glauben die erst recht, dass Sie etwas im Schilde führen.“

„Ich wollte ja nur mal gucken. Außerdem jagt man bei diesem Wetter keinen Hund vor die Tür. Aber Sie haben mit einer Sache Recht, Herr Inspektor: Es war wirklich gefährlich.“

„Inwiefern?“ Der Inspektor blickt interessiert auf.

„Ich bin nicht weit gekommen. Als ich in die Nähe der Hauptstraße kam, habe ich Stimmen gehört. Also hab’ ich mich langsam näher heran geschlichen und bin hinter einem Schneehaufen in Deckung gegangen. Es war ja ziemlich dunkel, wie ich schon gesagt habe, also konnte ich nicht so viel erkennen, aber ich denke, es waren drei Männer, die an der Straße standen und mit Ferngläsern nach Klamm herüber sahen.“

„Haben die untereinander gesprochen?“

“Ja, aber wie immer habe ich nicht all zu viel verstanden. Ich vermute, die haben nach einer bestimmten Person Ausschau gehalten und diese Person war mit hundertprozentiger Sicherheit ich. Nach ein paar Minuten sind die Männer wieder in Richtung Feilnberg verschwunden.“

„Und? Sind Sie denen gefolgt?“

„Nein, dafür ging mir einfach zu sehr die Muffe.“

„Verständlich.“

„Ich bin dann zurück zum Zelt und hab mich aufs Ohr gelegt.“

„Und wie ging das mit der Kälte?“

„Ach, eigentlich ganz gut. Klar war es frostig, aber mein Schlafsack war wirklich gut.“

Es klopft. Eine Schwester kommt mit meinem Mittagessen herein: „So, Herr Gruber, jetzt ist erstmal Pause.“ Sie stellt das Essen schnell und mit gekonntem Schwung auf meinen Beistelltisch. „So, lassen Sie es sich schmecken.“ und schon war sie wieder verschwunden.

„Na, ich lasse Sie jetzt erst einmal in Ruhe essen.“ sagt der Inspektor, steht auf und steckt seinen Notizblock in die Jackentasche. „Ich habe heute Nachmittag einen Termin. Ich komme dann morgen wieder.“ Der Inspektor gibt mir die Hand und geht.

Mein Essen besteht aus Schweinefleisch mit Kartoffeln und gemischtem Gemüse. Eigentlich mag ich das ja, aber dies hier schmeckt verkocht und wie ungesalzener Eintopf. Ich bin nicht hungrig, aber ich weiß, dass ich etwas zu mir nehmen muss, um wieder Kraft zu bekommen. Also esse ich.

Eine halbe Stunde später wird abgeräumt und kurz darauf erscheinen zwei Ärzte und Schwester Denise. Sie nehmen meine Verbände ab und untersuchen mich. Es folgt etwas in den Raum hinein gemurmeltes, medizinisches Fachchinesisch. Dann dreht sich einer der Ärzte zu mir: „Herr Gruber, das wird schon. Bald springen Sie wieder rum, wie ein junger Bock.“

„Danke Herr Doktor, Springbock war schon immer mein Berufswunsch.“ Ich grinse den Doktor an, aber der setzt eine ernste Miene voller Unverständnis auf und geht ohne weiteren Kommentar zusammen mit seinem Kollegen hinaus.

Schwester Denise bleibt und legt mir einen neuen Verband an: „Schön, dass Sie Ihren Humor noch nicht verloren haben.“

„Na ja, wenn man seinen Humor komplett verloren hat, ist man eigentlich schon tot, zumindest als Rheinländer.“

„Na, hier gäbe es dann jede Menge lebender Leichen.“

„Sie haben Ihren Humor also auch noch nicht verloren!“

Denise lächelt: „Wenn man hier arbeitet, braucht man eine gewisse Portion Humor, sonst wird man verrückt.“

„Das glaube ich. Aber Denise, können Sie mir vielleicht doch etwas über Frau Anna Burleitner sagen. Wie geht es ihr?“

„Ich darf es wirklich nicht.“ Denise sieht mir fest in die Augen. „Es ist unverändert: Sie ist stabil, aber immer noch nicht wach.“

„Danke Denise! Sie haben was gut bei mir.“

Denise lächelt nur: „Fertig!“ Sie steht auf und geht. Aber vorher dreht sie sich noch einmal zu mir um. „Wenn alles gut verheilt, können wir Sie in ein paar Tagen in einen Rollstuhl setzen. Dann können Sie vielleicht Ihre Anna besuchen.“

„Danke!“ sage ich leise. Denise schließt die Tür hinter sich.

Bis zum Abendessen passiert nichts. Die kühlende Salbe, die Denise auf meine Verbrennungen aufgetragen hat, bringt mir unglaublich viel Entspannung. Erst jetzt merke ich, wie sehr einen dieses ständige Brennen und Kribbeln nervös macht. Ich lehne mich zurück, betrachte die renovierungsbedürftige Decke und denke an zu Hause, an Köln. Ich sehe mich den Rhein entlang laufen, ein Kölsch auf dem alten Markt trinken und anschließend die Schildergasse mit all den vielen Geschäften und bunten Schaufenstern hinunter schlendern. Aber wie sehr ich auch versuche, Abstand zu den Geschehnissen der letzten Tage zu gewinnen: Sie holen mich immer wieder ein. Vor meinem geistigen Auge läuft die Ganze Geschichte immer und immer wieder von neuem ab. Szenen blitzen auf, verschwinden wieder in meinen Erinnerungen. Und auch die Kälte kehrt zurück. Sie durchdringt mich langsam von der Haut bis zu den Knochen, auch wenn mein Zimmer gut geheizt ist. Der viele Schnee und die eisigen Winde, lassen mich sogar hier noch frieren und zittern.

Ich sehe mich wieder durch die Gassen von Klamm laufen. Mit zitternden Zähnen stapfe ich durch den fast kniehohen Schnee. Die alten, aus grauen Natursteinen gebauten Häuser gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Die Straßen sind menschenleer, aber ich kann Blicke auf mir spüren und wie sie mich verfolgen. Und es wird immer kälter und kälter, so sehr, dass mir das Atmen Schmerzen bereitet. Meine Fingerkuppen sind taub, meine Ohren brennen vor Kälte. Aber ich laufe weiter und weiter, denn stehenbleiben kann ich nicht, sonst würde ich irgendwann in den Schnee fallen und dort elendig zu Grunde gehen.

Aber ich denke natürlich auch viel an Anna. Ich möchte wieder ihre Stimme hören, ihren Duft riechen, ihre Haut auf meiner Haut fühlen. Und da ist die Hoffnung, dass ich sie vielleicht wirklich bald wieder sehen werde. Dann werden wir zusammen sein und frei. Trotzdem kommt tief in mir wieder dieses beklemmende Gefühl zurück, dass all die schrecklichen Dinge und all das Leiden noch nicht vorbei sein könnten.

Flammender Schnee

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