Читать книгу LOST - Thomas Meyerhöfer - Страница 10

ICH TRAF EINE KLEINE FRAU

Оглавление

Ich traf eine kleine Frau, an einem Dienstagnachmittag.

Sie schwebte durch die langen Flure und ihr Blick hing an der Decke. Sie interessierte sich für nichts. Scheinbar. Plötzlich zuckte sie wie nach einem Stromschlag, verfing sich mit ihren Augen in meinem T-Shirt und schrie: „Echt? Du? Sag mir bitte: Wie ist das auf einer Harley?“

Ich trug mein graues Harley-Davidson-T-Shirt. Ich habe keine Maschine und ich bin auch nicht tätowiert. Dafür träume ich davon, eines Tages die Garage zu öffnen und mit einem leichten Druck auf den Starterknopf das Brummen einer Softail Slim zu hören.

Die kleine Frau trug eine Jeansjacke, hatte lange blonde Dreadlocks und blaue Augen, aus denen die Sehnsucht nach Freiheit tropfte.

„Ich habe keine Harley“, sagte ich. Ein paar Meter weiter glotzten vier oder fünf Klinikbesucher in unsere Richtung.

„Du hast keine Harley? Bist du deswegen traurig?“

Ich schwieg. Die anderen im Raum warteten alle auf meine Antwort.

„Du trägst doch so ein T-Shirt“. Die kleine Frau lachte. „Pass auf, ich kann nicht fahren, weil ich zu klein dafür bin!“ Sie ging in die Hocke, streckte ihre Arme wie ein Orang-Utan in die Luft, um sich an einem unsichtbaren Lenker festzuhalten. Mit ihrer rechten Faust schien sie zu beschleunigen. Ihre Faust drehte sich von oben nach unten. Immer wieder.

„Verstehst du, ich bin zu klein dafür. Viel zu klein. Eins sechzig. Kann nie Harley fahren.“

Ich hockte in einem Ledersessel, vielleicht war das der Grund dafür, dass ich mir über die Größe der kleinen Frau keine Gedanken machte. „Es gibt auch kleinere Maschinen“, antwortete ich halbherzig. Sie starrte mich an. „Du meinst, es gibt so kleine Harleys, auf denen ich bequem sitzen kann? Und was ist, wenn ich an eine Ampel komme und anhalten muss? Dann kippe ich um und das Motorrad begräbt mich unter sich. Das ist nicht witzig, glaub mir.“

Ich nickte. Warum, weiß ich auch nicht. Sie wischte sich einen Dreadlockhaarstrang aus ihrem Gesicht. „Warum holst du dir keine? Du bist nicht zu klein dafür!“

Sie lehnte sich gegen den schwarzen Sessel und durchbohrte mich mit ihren blauen Sehnsuchtsaugen. „Kein Geld, muss darauf sparen“, stotterte ich.

Das war definitiv keine gute Antwort. Doch mich verwirrten die anderen, die ihre Gespräche zwischenzeitlich komplett eingestellt hatten und sich unverhohlen neugierig an unseren Wünschen und Grenzen labten.

„Ich schon“, unterbrach sie meine Gedanken und zupfte an ihren Dreadlocks. „Und selbst wenn ich keine Kohle dafür hätte, würde ich mir überlegen, wie ich das hinkriege. Das Leben ist doch sonst bedeutungslos.“

Der Kommentar klang eigenartig, aber irgendwie hatte sie recht. „Du meinst“, hörte ich mich sagen und streckte meine Beine aus. Jetzt war ich es, der auf einer unsichtbaren Harley Platz genommen hatte. „Du meinst, das Leben gewinnt an Bedeutung, wenn unsereiner weniger träumt und dafür anfängt, konkret für die Umsetzung zu sorgen?“ Sie schwieg.

„Im Prinzip betrifft das alle Träume, nicht nur die vom Motorradfahren“, sagte ich in Richtung der Gaffer.

„Junge, du begreifst schnell“, flüsterte die kleine Frau, erhob sich und begab sich erneut in die Orang-Utan-Position. Sie fuhr über eine kurvige Landstraße.

„Bedeutungslos, wie ich schon sagte. Manchmal ist viel zu wenig Bedeutung in den Dingen, die wir tun und es wäre besser, das zu tun, von dem wir träumen.“

Das klang mir zu sehr nach „Lebe deinen Traum“ und diesem Scheiß. Immerhin hockten wir in einer Klinik und warteten auf unsere Sprechstunde. Dementsprechend ruppig klang meine „das ist doch viel zu banal es gibt zu viele Hindernisse und wir müssen mit den Gegebenheiten leben lernen verstehst du was ich meine?“-Antwort.

„Ach?“, grinste die kleine Frau. „Kann ich mich um einen Zentimeter wachsen lassen? Gibt es Tabletten, die meine Größe auf die erforderliche Harleygröße pushen? Solltest du von solchen Hindernissen reden, gebe ich dir recht. Aber alles andere …“

Wir schwiegen. Die kleine Frau warf ihre Dreadlocks auf den Rücken und stellte das unsichtbare Motorrad auf den Seitenständer. „Freut mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, Harley“, sagte sie, hob die Hand und ging ohne sich umzudrehen einen der langen Flure in Richtung Ausgang.

LOST

Подняться наверх